Interviews

Marlis Petersen

Mit der Partie der Hanna Glawari ist Marlis Petersen zum ersten Mal in einer Neuproduktion am Opernhaus Zürich zu erleben. Die Sopranistin war in zahlreichen Uraufführungen zu sehen, darunter Werke von Hans Werner Henze, Manfred Trojahn und Aribert Reimann. Mit Barrie Kosky hat sie an der Bayerischen Staatsoper München ihr Rollendebüt als Marschallin im «Rosenkavalier» erarbeitet.

Es ist einer dieser Momente, die es nur auf Proben gibt. Vier, fünf Mal schon haben Hanna und Danilo, Marlis Petersen und Michael Volle, die unverhoffte Wiederbegegnung eines nicht unkomplizierten Paares in Paris geprobt, der Hüne mit dem mächtigen Charakterkopf, die zierliche schmale Frau. Ein Dialog, der fast mit einem Kuss endet. Aber nur fast, es muss ja spannend bleiben. Immer wieder lässt Regisseur Barrie Kosky die beiden neu ansetzen, und irgendwann entspannen sie sich, indem sie plötzlich auf Schwäbisch blödeln. «Wir kommen ja aus dem gleichen Eck in Schwaben», hat Marlis Petersen vorher erzählt, «aber es ist das erste Mal, dass wir szenisch gemeinsam etwas machen.»

Es gibt noch weitere Parallelen zwischen den beiden Sängern, auch wenn der Bariton acht Jahre älter ist als die Sopranistin. Beide haben über die Kirchenmusik zum Gesang gefunden und keineswegs auf direktem Weg zur Bühne. «Als ich die erste Oper gesehen habe, mit fünfzehn, bin ich eingeschlafen», sagt Marlis Petersen und lacht hell auf im Zimmer mit den zwei Klavieren, wo wir zusammensitzen. «Das war Rigoletto, da hat die Oper Pforzheim bei uns in Tuttlingen gastiert.» Tuttlingen, Kreisstadt, näher an Zürich als an Stuttgart – hierhin hat es den Schiffsingenieur Petersen aus Hamburg verschlagen, einen musikalischen Mann mit schöner Stimme, dessen Frau gern Klassik hört. Ihre Tochter Marlis bekommt beizeiten Klavierunterricht. In der Schule und erst recht im Kirchenchor entdeckt sie ihre Stimme – mühelos singt sie Soli, ohne je Gesangsunterricht gehabt zu haben. «Mir war völlig klar, ich muss Gesang studieren! Das durfte ich erstmal nicht, weil die Eltern ihre Zweifel hatten mit der brotlosen Kunst. Der Kompromiss war, dass ich Schulmusik studiert habe, Klavier als Hauptfach.» Das Studium in Stuttgart wird mitfinanziert durch Auftritte mit einer Band, «wir haben die Hits von damals gecovert. Ich habe Keyboard gespielt und gesungen, Whitney Houston, Jennifer Rush, solche Sachen. Ich habe auch in Hamburg bei Cats vorgesungen und hätte die Stelle der Katzenoma haben können, die ‹Memory› singt. Aber dann dachte ich, ich will doch jetzt nicht die alten Katzen singen, und habe mich für die Klassik entschieden!» Aber noch lange nicht für das Theater. Nun kommt Sylvia Geszty ins Spiel, ungarische Koloratursopranistin, Professorin in Stuttgart. Als Marlis einen ihrer Kurse besucht, hat die Studentin gerade ihre Stimme verloren, «durch einen Gesangslehrer, der mir nicht gutgetan hat. Geszty hat mir in zwei Wochen die Oktave bis zum hohen f aufgemacht und mir war klar, das ist es.» Zwei Jahre studiert sie bei ihr, lernt, die Stimme mit dem Zwerchfell rhythmisch zu stützen, in einen hohen Ton wie in einen Apfel zu beissen, da bricht ein Damm. Und im szenischen Unterricht stellt sich heraus, «dass ich ein natürliches Talent zum Spielen habe. Da brauchte ich gar keinen Unterricht.» Als Marlis 1994 am Theater in Nürnberg vorsingt, mit 26 Jahren, hat sie gleich ein Engagement – und debütiert als Einspringerin. «Eine Operette, Pariser Leben! Drei Tage Proben, und dann stand ich zum allerersten Mal auf der Opernbühne!»

In Nürnberg wird sie auch von ihrem «Lebensruf» erreicht, wie sie es nennt, der Titelheldin von Alban Bergs Oper Lulu, die sie so oft und so intensiv wie keine andere gestalten wird – eine junge Frau, die, eigentlich naiv, eine Reihe von Männern um Verstand und Leben bringt und selbst ein blutiges Ende nimmt. Womit wenig über den ungeheuren Horizont der Musik gesagt ist. «Ich hatte das Gefühl», sagt Marlis Petersen, «das ist einfach die Rolle, die ich ohne Anstrengung verkörpern kann. Eigenartig, gell? Die Ungreifbarkeit dieser Figur hat mich fasziniert. 2015 habe ich dann von ihr Abschied genommen mit zwei Inszenierungen, der von Tcherniakov an der Bayerischen Staatsoper und der von Kentridge an der MET. Es war, als risse ich mir ein Stück Herz heraus. Aber es war nötig, weil das Stück nach achtzehn Jahren schon auf die Seele abfärbte. Es ist einfach immer wieder brutal, wie mit ihr als Frau da umgegangen wird.» Wie schafft sie es überhaupt, solche extremen Gestalten auf der Bühne wahr zu machen? «Was man da emotional hineinsteckt, das ist man ja selbst, sonst könnte man’s gar nicht. Aber man muss sich auch in Psychologien hineinfühlen, die sehr dramatisch sein können, wie Medea, die ihre eigenen Kinder umbringt. Du musst auf der Bühne zu einem Gefühl kommen, dass du so viel Hass in dir trägst auf jemand anderen, dass du bereit bist, deine eigenen Kinder zu schlachten – damit das Publikum diese Energie versteht. Es ist herausfordernd, diesen Anteilen in sich zu begegnen. Ich glaube, wir haben sie alle. Das Theater ist ein geschützter Raum, wo man diese Gefühle ausleben kann, den Zorn, aber auch die Weichheit, die Tränen, das Staunen. Dort wird jeder berührbar.»

Was alles hineinspielt in eine Gestalt wie Medea, das hat Marlis Petersen 2010 an der Wiener Staatsoper gezeigt, als Titelheldin in der Uraufführung von Aribert Reimanns Medea. Welche Kraft sie in die berstenden, brechenden Gesangslinien brachte, mit welcher Dringlichkeit sie das leiseste Filigran erfüllte, das liess einen tatsächlich verstehen, warum sie auf die Katastrophe zusteuerte. «Für mich», sagt sie, «war die Partitur das Komplexeste, was ich jemals in meinen Händen hatte. Es hat einen ganzen Monat gedauert, bis ich das dechiffriert hatte. Und das dann auswendig zu lernen, diese Intensität – da war ich hinterher fix und fertig.» Und trotzdem flog sie direkt nach der letzten Vorstellung nach New York, als Einspringerin an der MET, zwei Tage vor der Premiere von Ambroise Thomas’ Hamlet. Würde sie so etwas wieder tun? «Nein. Das bin ich nicht mehr. Ich habe mich damals überreden lassen.»

Inzwischen ist ihr die griechische Gelassenheit näher. Seit sieben Jahren lebt sie im selbstgebauten Haus zwischen 77 Olivenbäumen in Koroni, an der westlichen Südspitze der Halbinsel Peloponnes. Dorthin zog sie sich auch zurück, als der Lockdown die Bühnen paralysierte. «Ich habe fünf Monate lang nicht mal mehr Musik gehört! Das war für mich sehr heilsam, eine grosse Tankstelle, aber danach beginnt das Nachdenken. Über die Degradierung der Kunst, den Umgang mit Andersdenkenden. Da hat eine grosse Spaltung der Gesellschaft begonnen, in der wir mittendrin sind. Da wird viel passieren.» Marlis Petersen sagt das nicht im Ton einer Kassandra. Nicht die Heroinnen der Antike haben sie nach Griechenland gezogen, sondern Meer und Sonne und Mentalität. Sie findet Veränderungen auch spannend, weil sie Neues mit sich bringen, und eine ihrer liebsten Bühnenfiguren ist die Susanna in Mozarts Figaro – eine selbstbewusste Spielmacherin. «Die hat mich immer beglückt, aber jetzt werde ich dafür zu alt, jetzt müsste ich in dieser Oper die Gräfin singen, und die entspricht mir nicht so», sie lacht. Sie spricht sehr offen über ihre Grenzen und liebt einen Dirigenten wie Kirill Petrenko dafür, dass er sie so respektiert, wie sie ist. «Ohne ihn hätte ich Strauss’ Salome nicht gesungen, die ist mir sängerisch eine Nummer zu dramatisch. Er hat dem Orchester gesagt, wir müssen der Marlis einen musikalischen Anzug schneidern. Das fand ich so berührend!» Berührt hat es sie auch, wie Hans Werner Henze, schon im Rollstuhl, sie nach der Berliner Uraufführung seiner Oper Phädra zu sich heranwinkte. «Für mich ein heiliger Moment. Ich habe gedacht, ohje, jetzt gibt es Kritik oder Lob vom grossen Meister. Und dann macht der seine Jacke auf, holt den Whisky raus und hat ihn mir angeboten! Ich musste so lachen!»

Es ist nicht das Lächeln einer Operettendiva, das im Gesicht der Hanna Glawari spielt, der reichen, jungen, der «lustigen» Witwe auf der Probebühne. Diese Frau hat auch mehr hinter sich als eine komplizierte Beziehung mit Danilo, dem Lebemann aus Pontevedro. Viel mehr. Mit einer gewissen Nachsicht blickt sie auf den Trubel zwischen Geld und Liebe. Eine Diva guckt anders. Es sei denn, eine Diva guckt so wie die auf dem Etikett des Olivenöls, das Marlis Petersen auf dem Peloponnes selbst herstellt. «Diva’s Elixir» steht darauf, und die Sopranistin auf dem Foto darunter wirkt sehr entspannt.

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 108, Februar 2024.
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Inara Wheeler

Inara Wheeler hat die amerikanische und die lettische Staatsbürgerschaft. Nach ihrer Tanzausbildung in den USA und Kanada ist sie seit 2022 Mitglied des Junior Balletts. Hier ist sie u. a. im Ballettabend «Horizonte» zu erleben.

Aus welcher Welt kommst du gerade?
In unserem Ballettabend Timekeepers tanze ich gerade in Les Noces von Bronislawa Nijinska. Es ist beeindruckend, wie wir als tänzerische Einheit mit schnellen, komplizierten Bewegungen Muster kreieren, als würden wir von einer höheren Macht bewegt. Das Ganze hat eine starke rituelle Kraft.

Worauf freust du dich am meisten im Programm Horizonte des Junior Balletts?
Alle drei Stücke sind wunderbar einzigartig und unterscheiden sich stark voneinander. Ich freue mich darauf, sie jetzt wieder nacheinander aufzuführen. In WOLC von Shaked Heller stelle ich ein Wesen dar, das um seinen Platz in der Gesellschaft kämpft. Das ist jedes Mal ein absoluter Trip für mich!

Was macht das Junior Ballett für dich so einzigartig?
Als Nachwuchscompagnie sind wir nicht irgendwo versteckt, sondern agieren gemeinsam mit der Hauptcompagnie in den meisten Proben und Vorstellungen. Wir erfahren das gleiche Coaching und erhalten ausreichend Gelegenheit, Bühnenerfahrung zu sammeln. So bin ich gut vorbereitet auf meinen beginnenden Berufsalltag als Tänzerin.

Welche Bildungserfahrung hat dich besonders geprägt?
In meinem ersten Sommerprogramm an der Nationalen Ballettschule Kanadas hatte ich einen Lehrer, der mir nahegelegt hat, intelligent und nicht hart zu tanzen, das heisst, effizient mit meinen Kräften umzugehen. Dieser Ratschlag hat sich bis jetzt immer wieder bewährt.

Welches Buch würdest du nie aus der Hand legen?
Ein Buch des Psychotherapeuten Brian L. Weiss mit dem Titel Many Lives Many Masters. Darin beschreibt er, wie er die Traumata seiner Patienten durch die Freilegung und Aussöhnung mit ihren vergangenen Existenzen geheilt hat. Seit ich ein kleines Mädchen war, habe ich viele Verluste erlebt. Dieses Buch hat meine Sicht auf den Tod völlig verändert.

Welchen überflüssigen Gegenstand in deiner Wohnung magst du am meisten?
Meine Salzlampe schafft vor dem Schlafengehen die perfekte Atmosphäre in meinem Zimmer. In unserem Haus in Colorado gibt es einige davon, und so vermittelt sie mir hier in Zürich das Gefühl von Zuhause.

Welche CD hörst du immer wieder?
Der Song Nude von Radiohead erinnert mich an meinen Vater. Es ist unser Lied. Er hat mir immer wieder neue Musik vorgestellt, und dieser Titel mit seiner hypnotisierenden Melodie erinnert mich an viele gemeinsame Momente mit ihm.

Mit welcher Persönlichkeit würdest du gerne mal zu Abend essen?
Mit FKA Twigs! Ich bewundere die britische Sängerin, Songwriterin, bildende Künstlerin und Tänzerin sehr. Ich würde mich mit ihr über ihre Musen und Inspirationsquellen unterhalten und sie fragen, wie sie mit gesellschaftlichem Leistungsdruck umgeht.

Wie wird die Welt in 100 Jahren aussehen?
Hoffentlich findet die Menschheit einen Weg, in Harmonie mit der Umwelt zu leben. Nur so kann dieser Planet weiterhin unser Zuhause bleiben. Ich hoffe, dass es mehr Akzeptanz und Chancengleichheit für alle gibt und wir lernen, einander zuzuhören und andere Meinungen zu akzeptieren.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 108, Februar 2024.
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Der Newcomer

Der aus Südafrika stammende Choreograf Mthuthuzeli November arbeitet erstmals mit dem Ballett Zürich. Er choreografiert zu George Gershwins «Rhapsody in Blue». Ein Gespräch über Türen in kreative Räume, die sich gerade öffnen, und die Erfahrungen seiner Herkunft, die er überall mitnimmt.

Mthuthu, kurz bevor du erstmals mit dem Ballett Zürich arbeiten wirst, treffen wir uns zu diesem Gespräch in London. Hier choreografierst du gerade ein neues Stück für das Royal Ballet, und gleichzeitig gastierst du mit dem Ballet Black auch im Linbury Theater am Royal Opera House. Was muss man über das Ballet Black wissen?
Das Ballet Black ist eine in London beheimatete Tanzcompagnie. 2001 wurde sie von Cassa Pancho gegründet, die das Ensemble bis heute leitet. Ihre Idee war es, schwarzen und asiatischen Tänzerinnen und Tänzern ein Zuhause zu geben. Unser Repertoire bewegt sich zwischen klassischem Ballett und zeitgenössischem Tanz. Und so vielseitig wie das Repertoire ist auch das Publikum. Es geht quer durch alle Altersgruppen und Schichten und widerlegt die Behauptung, dass Ballett nur ein weisses Publikum mittleren Alters aus der Mittelklasse anspricht.

Was bedeutet es für dich, für diese Compagnie zu tanzen und zu choreografieren?
Es ist ein grossartiges Gefühl, Tänzer im Ballet Black zu sein. Hier bin ich unter Gleichgesinnten, fühle mich zu Hause und integriert. Ich tanze mit meinen Freunden. Dass ich für diese Compagnie auch choreografieren darf, ist ein grosses Geschenk.

Dein aktuelles Stück für das Ballet Black heisst Nina: By whatever means. Angekündigt wird es als Brief an die grosse US-amerikanische Soul-Sängerin und Bürgerrechtsaktivistin Nina Simone. Was steht da drin?
Um es ganz kurz zu machen: «Ich liebe dich!» und: «Ich bewundere den Weg, den du gegangen bist!» Am Anfang habe ich mich gefragt, was ich zu Nina Simone gesagt hätte, wenn ich die Chance bekommen hätte, sie zu treffen. Ihr Leben hat viel gemeinsam mit dem Leben schwarzer Balletttänzerinnen und -tänzer. Viele haben die Hoffnung, eine Karriere als klassische Tänzer zu machen, und erleben dann, dass sie in Schubladen gesteckt werden, auf denen «Afrikanischer Tanz» oder «Modern Dance» steht. Dass ein schwarzer Körper klassisches Ballett tanzen kann, liegt oft immer noch ausserhalb des Vorstellungsvermögens. Das hat einige Verbindungen zur Geschichte von Nina Simone. Sie wollte klassische Pianistin werden, und dann wurde sie dazu gedrängt, Jazz zu spielen, was sie zunächst gar nicht wollte.

Zum ersten Mal wirst du nun beim Ballett Zürich choreografieren in einem dreiteiligen Ballettabend, der den Titel Timekeepers trägt. Was hast du für ein Verhältnis zur Zeit, welche Rolle spielt sie in deinem Leben?
Kurz vor unserem Gespräch habe ich mich mit einem guten Freund über die Zeit unterhalten, in der wir als schwarze kreative Künstler leben. Dass wir auch im Jahr 2023 immer noch zu den ersten gehören, die eine Art von «Creative Spaces» betreten, die uns lange verschlossen waren. Das bringt eine grosse Verantwortung mit sich, damit sich diese Räume in Zukunft für noch mehr Menschen öffnen, die so aussehen wie ich. Ich möchte so viel von mir mit anderen Menschen teilen und sie inspirieren. Deshalb bin ich glücklich über die Chance, bei Timekeepers dabei zu sein. Soviel ich weiss, bin ich der erste schwarze Choreograf aus Südafrika, der mit dem Ballett Zürich arbeitet.

Welche Dinge möchtest du teilen und weitergeben?
Vor allem Liebe und Offenheit. Und die Bereitschaft, sich über Schubladen hinwegzusetzen. Ich bin jemand, der seine Herkunft nicht verleugnet und seine Kultur überallhin mitnimmt. Es beschäftigt mich unentwegt, wie ich meine Kultur weitergeben und mit anderen Menschen teilen kann. Ich habe das Glück, dass ich mich durch den Tanz ausdrücken kann. Ich möchte verstehen, wer die Tänzerinnen und Tänzer sind, mit denen ich arbeite. Woher kommen sie, welches Umfeld hat sie geprägt? Dieser Austausch lässt ein Vertrauensverhältnis entstehen und ist eine wichtige Grundlage meiner Arbeit.

Dein Leben hat sich in kürzester Zeit radikal verändert. Du stammst aus einem Township in der Nähe von Kapstadt. Unter welchen Bedingungen bist du dort aufgewachsen?
Vor allem habe ich Fussball gespielt in einer staubigen Umgebung und meistens auf einem Spielfeld ohne Rasen. Aber das war völlig egal! Beim Fussballspielen – und später auch beim Tanzen – konnte ich alles um mich herum vergessen. Konnte vergessen, dass ich aus einer armen Familie stamme, die oft nicht wusste, wie sie über die Runden kommen soll und ob abends etwas zu essen auf dem Tisch steht. Mit drei Brüdern und einer Schwester bin ich bei meiner Mutter in sehr beengten Verhältnissen aufgewachsen, und das war schwierig. Allerdings habe ich mir nie gewünscht, ich käme aus einer reichen Umgebung. Denn das, was ich bin, hat mich im Leben angetrieben und mir die Leidenschaft und die Entschlossenheit gegeben, die ich heute habe. Beim Choreografieren denke ich oft daran, wie sich das damals angefühlt hat. Dann weiss ich mein neues Leben umso mehr zu schätzen.

Stimmt es, dass die Familie November als eine Art Tanz-Clan berühmt war?
Solange ich denken kann, haben wir in meiner Familie getanzt. Das war vor allem traditioneller afrikanischer Tanz oder Street Dance. Ich war fünfzehn, als ich erstmals mit dem Ballett in Berührung gekommen war. Das war 2008, damals bot eine Organisation namens «Dance For All» kostenlose Tanzstunden und Outreach-Programme an. Ich habe sehr schnell erkannt, dass Ballett vielleicht ein Weg sein könnte, der mich aus der Armut herausführt und mir ein anderes Leben ermöglicht. Ich weiss noch, wie ich das erste Mal vom Ballettunterricht kam und eine Strumpfhose trug, und alle fragten: «Was hast du denn da an?». Für meine Umgebung war das erst einmal ein Schock. Keiner hatte ja eine Ahnung davon, was Ballett ist und welches Potential es in sich trägt. Nach Meinung meiner Freunde war Ballett nur etwas für Weisse. Für mich war es einfach nur Tanz, und auch jetzt gerade, wo ich für das Ballett Zürich choreografiere, verstehe ich mich als Dance-Maker.

Wie reagieren denn die Leute aus der klassischen Welt des Balletts auf dich? Bist du für sie der Typ von einem anderen Stern?
Ich versuche, ihnen als Mensch zu begegnen, mit dem Background all der Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe. Bevor ich mich darum kümmere, ob mein Gegenüber nun ein klassischer Tänzer oder ein contemporary dancer ist, versuche ich, ihn als Menschen zu sehen. Erst dann entscheidet sich, in welche Richtung unsere gemeinsame Reise gehen kann. Wenn ich ins Studio gehe, versuche ich, die Tänzerinnen und Tänzer, die mit mir arbeiten, daran zu erinnern, warum sie das tun, was sie tun. Ich frage jeden Einzelnen im Raum, wie es ihm geht, und versuche, mir noch vor Beginn der eigentlichen Proben Zeit für jede und jeden zu nehmen. Das beginnt meist sehr spielerisch. Oft spielen wir eine ganze Weile, ehe wir mit der Arbeit an der eigentlichen Choreografie beginnen. Ja, wir sind tatsächlich alle Spielkameraden. In diesen Spielen entsteht ein gegenseitiges Vertrauen, das für mich als spätere Arbeitsgrundlage unverzichtbar ist. Die Zeit vergeht schneller, wenn man gemeinsam Spass an der Arbeit hat.

Nach Abschluss deiner Tanzausbildung an der Cape Dance Academy bist du 2015 nach England gegangen. Wie hat sich das angefühlt?
Vom Naturell her bin ich jemand, der die Dinge nicht zu sehr analysiert oder in Frage stellt. Ich versuche einfach, mein Ding zu machen. Aber dieser Ortswechsel war natürlich ein Rieseneinschnitt. England ist sehr effizient! Ich musste mich daran gewöhnen, dass hier ein anderes Tempo vorgelegt wird und alles viel, viel schneller geht. Begeistert hat mich, dass man hier so viele unterschiedliche Arten von Tanz erleben und die verrücktesten Leute treffen kann. Englisch ist nicht meine Muttersprache, und so musste ich erst einmal lernen, mich richtig auszudrücken. Aber dabei bin auch viel selbstbewusster geworden.

Wie bist du zum Choreografieren gekommen?
Ehrlich gesagt, glaube ich, dass ich schon immer ein Choreograf war. Street Dance erfordert ein hohes Mass an geistiger Flexibilität. Ich musste mir ständig neue Schritte und Bewegungen ausdenken. Stundenlang habe ich das gemacht, und wenn es gut war, haben mir die Leute ein bisschen Geld in den Hut geworfen. Natürlich habe ich das nicht als eine berufliche Perspektive gesehen. Das kam erst viel später. Meine Art zu choreografieren ist wesentlich von den Menschen geprägt worden, denen ich auf meinem Weg begegnet bin. Gerade hat das Royal Ballet hier in London noch einmal Cathy Marstons The Cellist getanzt. Über die Art und Weise des Geschichtenerzählens habe ich viel von ihr gelernt. Aber auch andere Choreografinnen und Choreografen haben mich beeinflusst in ihrer Art, wie sie kommunizieren, wie sie über Bewegung denken oder einen Raum nutzen.

Die afrikanische Stimme in deinen Arbeiten ist unüberhörbar. Doch während der afrikanische Tanz sehr geerdet und mit einer gewissen Schwere verbunden ist, macht das Ballett das genaue Gegenteil: Es strebt die Leichtigkeit an, ist «nach oben» gerichtet. Wie bringst du beides zusammen?
Ich glaube, selbst als Vogel muss man irgendwann landen und auf den Boden zurückkehren. Das ist genau der Moment, der mich interessiert. Wenn du aus der Feenwelt des Balletts wieder in der Realität ankommst. Wichtig ist mir besonders das spirituelle Element, das der afrikanische Tanz beinhaltet. In der Gegend, aus der ich komme, ist der Tanz sehr stark vom Rhythmus geprägt und sehr perkussiv. Dieses perkussive Element versuche ich, für den Körperausdruck nutzbar zu machen. Meine Zusammenarbeit mit dem Ballett Zürich ist aufregend, denn normalerweise komponiere und arrangiere ich die Musik selbst, zu der ich choreografiere. Da kann ich selbst entscheiden, in welche Richtung sich das Ganze entwickelt. Jetzt treffe ich mit George Gershwins Rhapsody in Blue auf eine existierende Komposition, deren Ablauf ich nicht beeinflussen kann und der ich komplett ausgeliefert bin.

Welche Assoziationen löst Gershwins Musik in dir aus?
Dass die Uraufführung 1924, also vor gut einhundert Jahren, stattgefunden hat, wollte ich beim ersten Hören kaum glauben. Das Stück wirkt auf mich sehr modern und ist bei einer Dauer von gerade mal fünfzehn Minuten äusserst komplex. Ich bin immer wieder fasziniert von den unerwarteten Wendungen, die die Komposition an vielen Stellen nimmt, aber auch die sanften Passagen mag ich sehr. In einer Viertelstunde kann man da sicher eine ganze Menge herausholen. Die Herausforderung besteht darin, mich selbst in der Komposition wiederzufinden und Inspiration aus ihr zu gewinnen. Ich bin wirklich gespannt darauf, ins Studio zu gehen und zu sehen, wie die Tänzerinnen und Tänzer mich und die Musik aufnehmen werden. Eine zusätzliche Herausforderung ist, dass wir Gershwins sehr fokussierte Version für zwei Klaviere verwenden. Mal sehen, welche Möglichkeiten sich daraus ergeben.

Siehst du schon offene choreografische Türen zu dieser Partitur?
Ganz viele sogar!

Heute wird Rhapsody in Blue als grosse musikalische Hommage an den brodelnden Kosmos New Yorks in den 1920-er Jahren interpretiert. Gibt dir der Tanz die Möglichkeit, diese Musik anderswo zu verorten?
Dass ICH zu dieser Musik choreografiere, gibt dir wahrscheinlich schon die Antwort auf deine Frage (lacht). Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich als junger schwarzer Mann aus Südafrika einmal Rhapsody in Blue choreografieren würde. Da werden sich also zwei Welten begegnen, und wer weiss: Vielleicht wird es eine Cape Town Rhapsody? Auf jeden Fall eine mit einem grossen Schuss Südafrika.

Inzwischen klopfen immer mehr renommierte Compagnien bei dir an, um neue Choreografien zu bestellen. Hast du nicht Angst, dass das gerade alles ein bisschen zu schnell geht?
Ich hoffe, dass ich bei all den Möglichkeiten, die sich gerade bieten, immer Menschen in meiner Nähe habe, die mir Halt geben und mich daran erinnern, wer ich bin und was ich tun musste, um dort zu sein, wo ich bin. Ich will auf dem Boden bleiben und weiss doch, dass ich all diese neuen Räume, die sich gerade auftun, betreten muss. Nicht für mich, sondern für all die Talente, die es in Südafrika und an vielen anderen Orten auf der Welt gibt. Damit sie wissen, dass sie eines Tages an eben diesen Plätzen sein werden und dass das absolut in Ordnung ist.

Das Gespräch führte Michael Küster.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 107, Dezember 2023.
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Alle verschieden und doch eine Einheit

Die neue Zürcher Ballettdirektorin Cathy Marston will mit ihrer Neuformation des Balletts Zürich Menschen mit unterschiedlichen Stilen, Energien und künstlerischen Ansätzen zusammenbringen. Sie startet ihre erste Spielzeit mit dem dreiteiligen Ballettabend «Walkways», der Arbeiten von Wayne McGregor, Jerome Robbins und ihr selbst vereint.

Cathy, seit Anfang August bist du neue Direktorin des Balletts Zürich. Wie hast du den Auftakt für deine neue Tätigkeit erlebt?
Zum ersten Mal die handverlesene Gruppe von Menschen zu sehen, die ich in einem Zeitraum von zwei Jahren zusammengestellt habe, war ein sehr emotionaler Moment für mich. Ich habe an die 3000 Bewerbungen gelesen, etwa 300 Tänzerinnen und Tänzer habe ich beim Vortanzen in Zürich gesehen und eine Auswahl getroffen. Dabei war mir besonders wichtig, Menschen zusammenzubringen, die eigenständige Persönlichkeiten sind, miteinander harmonieren, etwas Aufregendes schaffen und sich untereinander beflügeln. Sie sollen sich gegenseitig ergänzen, aber auch kontrastieren mit ihren unterschiedlichen Energien, Stilen und Ansätzen. Ob diese Gruppe mehr sein kann als die Summe ihrer einzelnen Mitglieder, werden wir im Laufe dieser Spielzeit herausfinden. Die ersten gemeinsamen Wochen, die wir miteinander verbracht haben, stimmen mich sehr zuversichtlich.

Begonnen hast du deine erste Spielzeit mit einem «Vision Day» für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Balletts Zürich. Wie sah der aus?
Vor ein paar Jahren habe ich in Grossbritannien an einem Kurs für Führungskräfte im Kulturbereich teilgenommen. Mich hat das damals sehr inspiriert, und so habe ich die Organisatorin, Sue Hoyle, nach Zürich eingeladen, um mit dem Ballett Zürich zu arbeiten. Einen ganzen Tag lang ging es nicht um künstlerische oder organisatorische Inhalte, sondern wir haben uns Zeit für ein erstes Kennenlernen genommen und uns in einer sehr entspannten Atmosphäre einfach darüber verständigt, wie wir in Zukunft miteinander arbeiten wollen. Was ist für uns wichtig? Was bringen wir mit, was suchen wir? Das war überaus konstruktiv. Am Ende dieses Tages sind wir alle sehr inspiriert und voller Elan nach Hause gegangen. Inzwischen sind wir mitten im Ballettalltag angekommen und studieren die Stücke für unseren ersten Ballettabend ein. Wir bereiten die Wiederaufnahme der Nachtträume von Marcos Morau vor, und ich bin sehr glücklich, täglich selbst mehrere Stunden mit den Tänzerinnen und Tänzern im Ballettsaal an meinen Stücken zu arbeiten.

Mit dir sind viele neue Tänzerinnen und Tänzer aus der ganzen Welt nach Zürich gekommen. Nach welchen Kriterien hast du sie ausgesucht, was war dir bei der Auswahl wichtig?
Natürlich geht es erst einmal um technische Brillanz im klassischen wie im zeitgenössischen Repertoire. Aber ich habe vor allem auch nach möglichst diversen Leuten Ausschau gehalten, die ein besonderes Interesse und Talent für die narrativ-dramatische Arbeit mitbringen, die meine ganz persönliche Leidenschaft ist. Die Unterschiedlichkeit ist sehr wichtig, denn zu grosse Ähnlichkeit wird schnell zum Problem, wenn man Geschichten über die Welt und die Menschen erzählen will. Ein wichtiger Bestandteil jeder Audition war eine kleine Arbeitsprobe mit mir. Ich wollte wissen: Sind das Leute, die nur darauf warten, dass man ihnen sagt, was sie tun sollen? Oder werden sie in einem kreativen Prozess ihre eigenen Ideen einbringen und mit mir teilen? Davon muss ich wirklich überzeugt sein.

Ob man tatsächlich die richtigen Leute zusammengebracht hat und ob das auch mit den Tänzerinnen und Tänzern funktioniert, die schon länger im Ballett Zürich tanzen, merkt man natürlich erst nach den ersten Wochen im Ballettsaal. Wie erlebst du gerade dieses neue Ballett Zürich?
Ich habe nie den Eindruck, dass es sich hier um eine Gruppe handelt, die sich noch keine zwei Monate kennt. Es lässt sich kaum unterscheiden, wer gerade neu zum Ensemble gestossen ist oder schon vorher da war. Jenifer Ringer vom Jerome Robbins Trust, die gerade die Glass Pieces einstudiert hat, hat das sehr schön auf den Punkt gebracht. Sie sprach von einer besonderen Art von Menschlichkeit, die sie in der Gruppe spürt. Das hat mich sehr gefreut.

Welche Vision hast du für das Ballett Zürich unter deiner Leitung?
Mir ist wichtig, dass diese Compagnie in der Gegenwart verankert ist, gleichzeitig aber auch zurück und in die Zukunft schaut. Das Ballett Zürich soll ein Ort der Kreativität sein. Ich werde viel für die Compagnie choreografieren, aber auch Raum lassen für neue choreografische Stimmen und namhafte Künstler, die bereits erfolgreich mit dem Ensemble gearbeitet haben. Ich überlege jeden Tag, wie die Zukunft für unsere Kunstform aussehen kann. Sicher ist zeitgenössische Relevanz sehr wichtig, aber ich möchte auch das Bewusstsein für bedeutende Errungenschaften der Ballettgeschichte schärfen. Deshalb werden wichtige Handschriften und Schlüsselwerke der Vergangenheit an der Seite von zeitgenössischen und neuen Werken zu sehen sein. Die klassische Technik wird in unserem Repertoire eine wichtige Rolle spielen. Aber wir werden auch mit Tanzformen der Gegenwart arbeiten und ein breites Spektrum an Stilen zeigen. Wie das aussehen kann, haben wir gerade erlebt! Der junge, aus Südafrika stammende Choreograf Mthuthuzeli November, der im Januar bei uns arbeiten wird, hat einen Workshop mit den Tänzerinnen und Tänzern veranstaltet. In seiner choreografischen Sprache verbindet er südafrikanische Tanzformen mit klassischen Ballettelementen auf Spitze und zeitgenössischem Tanz. Mit seiner mitreissenden Energie hat er uns sofort in seinen Bann gezogen und im Studio jene kreative Atmosphäre geschaffen, die ich mir für den Alltag des Balletts Zürich wünsche.

Diese erste Saison unter deiner Leitung ist von einer grossen choreografischen Vielfalt geprägt. Was sind deine persönlichen Highlights?
Für jedes einzelne Stück in dieser Saison haben wir uns ganz bewusst entschieden. Ich möchte keines missen und freue mich auf unseren, wie ich finde, sehr ab wechslungsreichen Ballettspielplan. Ein besonderer Höhepunkt ist die Uraufführung des Balletts Atonement nach dem berühmten Roman von Ian McEwan. Es ist eine Koproduktion des Balletts Zürich mit dem Joffrey Ballet of Chicago. Mit beiden Compagnien habe ich bereits begonnen, an dieser Produktion zu arbeiten. Das macht grossen Spass!

Deine erste Saison als Ballettdirektorin eröffnest du mit einem dreiteiligen Abend, der unter dem Titel Walkways Choreografien von Wayne McGregor, Jerome Robbins und von dir vereint. Inwiefern steht dieser Abend für deinen programmatischen Anspruch?
Vielleicht wird man in diesem Programm eine Neukreation vermissen. Aber ich fand für das neue Ensemble wichtig, dass wir erst einmal künstlerisch zueinander finden, ohne den Druck einer Uraufführung im Nacken zu haben. Die drei Stücke nähern sich dem Ballett auf sehr unterschiedliche Weise. Während es sich bei meiner Choreografie Snowblind um eine Kurzgeschichte handelt, sind Wayne McGregors Infra und die Glass Pieces von Jerome Robbins abstrakte Arbeiten. Beide sind jedoch von einer speziellen Emotionalität geprägt. Deshalb treffen sie einen eher im Herzen oder im Magen als im Kopf, und das gefällt mir. Tatsächlich möchte ich von dem, was ich auf der Bühne sehe, emotional berührt und intellektuell stimuliert werden. In dieser Reihenfolge!

Welche Idee verbindet diese drei Stücke?
Mein Ballett Snowblind, das 2018 für das San Francisco Ballett entstanden ist, erschien mir besonders geeignet, die Compagnie mit meinem choreografischen Stil vertraut zu machen. Gleichzeitig habe ich nach Stücken gesucht, die für die Aufbruchsstimmung eines Neubeginns stehen können und fand sie in Infra und den Glass Pieces. Ein choreografisches Motiv ist in allen drei Stücken präsent. Das Durchqueren der Bühnentotale von einer Seite zur anderen, die sich kreuzenden linearen Wege – das ist auch im Titel Walkways eingefangen. In allen drei Stücken erleben wir Aufbrüche und all jene Interaktionen, die entstehen, wenn sich Wege kreuzen. Sie können gerade und harmonisch, unter Umständen aber auch sehr verknotet verlaufen, und aus diesen Knoten herauszukommen, kann eine sehr mühevolle Angelegenheit sein. Die sehr menschliche Perspektive, die aus allen drei Stücken spricht, ist sicher eine meiner Grundüberzeugungen als Choreografin.

Wayne McGregor ist in Zürich kein Unbekannter. 2014 hat er für das Ballett Zürich das Stück Kairos choreografiert. Nun also Infra, das 2008 als Auftragswerk für das Royal Ballet in London entstanden ist. Was ist das Be­sondere an diesem Stück?
Mit Infra verbinde ich viele persönliche Erinnerungen. Anfang der 2000-er Jahre war das Royal Opera House Covent Garden gerade renoviert worden. Es gab zwei neue Studiobühnen, an denen tänzerisch und choreografisch viel experimentiert wurde. Damals sind sich Wayne McGregor und ich zum ersten Mal begegnet. Er kam aus einer sehr zeitgenössischen Welt, hatte bereits eine eigene moderne Compagnie und sollte nun für das Royal Ballet, eine der klassischsten Compagnien überhaupt, choreografieren. In Infra spürt man die kreative Energie der jungen Menschen, die damals die Grenzen des Balletts ausloten und erweitern wollten. Einige meiner einstigen Kommilitonen an der Royal Ballet School haben in der Uraufführung von Infra getanzt. Das Stück ist nach den Londoner Bombenanschlägen von 2005 entstanden und reflektiert die Verletzlichkeit der urbanen Stadtgesellschaft. Wayne McGregor schaut hinter die oberflächliche Fassade der Grossstadt und erforscht mit seinen Tänzerinnen und Tänzern die menschlichen Geschichten, die sich inmitten der anonymen Hektik der Metropole ereignen. Das animierte Bühnenbild des britischen Künstlers Julian Opie und die Musik von Max Richter schaffen eine unter die Haut gehende Atmosphäre. Auch wenn ich schon lange in der Schweiz lebe, bleibt London meine andere Heimat. Es war mir ein besonderes Anliegen, beide Orte in diesem Programm zusammenzuführen.

Was können Tänzerinnen und Tänzer für sich aus einem Stück von Wayne McGregor mitnehmen?
In Wayne McGregors Choreografien erfährt man über sich und seinen Körper immer etwas, was man bis dahin nicht wusste. Er lässt einen die eigenen Grenzen ausloten und im besten Fall auch überschreiten. Seit der Uraufführung von Infra hat Wayne McGregor ein riesiges Œuvre geschaffen. Ich finde es grossartig, dass er seine Stücke nicht in den Tiefen eines Archivs versenkt, sondern sie ausdrücklich auch für die Kreativität neuer Tänzergenerationen offenhält.

Jerome Robbins hat in Zürich keine lange Aufführungsgeschichte. Vor einigen Jahren hat das damalige Zürcher Ballett sein Stück In the Night getanzt. Nun kommen seine Glass Pieces heraus, die er 1983 für das New York City Ballet kreiert hat. Das Leben von Jerome Robbins war ein ständiger Spagat zwischen Musical und Ballett. Merkt man das auch in seinen Stücken?
Sicher kann man die West Side Story nicht mit den Glass Pieces vergleichen. Aber der dynamische, aus der Urbanität New Yorks gespeiste Zug ist in beiden Stücken vorhanden. Jenifer Ringer, die mit Robbins befreundet war und in vielen seiner Choreografien getanzt hat, bringt eine grosse Authentizität in die Proben. Aber auch hier ist es ähnlich wie bei Wayne McGregor. Die Choreografie ist nicht in Stein gemeisselt, sondern kann durch die Persönlichkeiten unserer Tänzerinnen und Tänzer und deren Können mit neuem Leben erfüllt werden. Trotz aller Präzision und Genauigkeit, die die minimalistische Musik von Philip Glass einfordert, ist es wichtig, dass wir auf der Bühne lebendige Menschen und keine Abziehbilder aus einer fernen Vergangenheit sehen.

Anfang der 80er Jahre, als das Stück entstanden ist, stand Philip Glass noch ziemlich am Anfang seiner Weltkarriere als Komponist. Vierzig Jahre später hat seine Musik eine unglaubliche Popularität erreicht und steht insbesondere bei Choreografen hoch im Kurs. Warum ist das so?
In vielen der grossen klassischen Ballettpartituren weist einem die musikalische Struktur auch einen choreografischen Weg. An bestimmten «Ereignissen» in der Partitur kommt man einfach nicht vorbei. Mit Minimal Music hat man eine Chance, Strukturen zu schaffen, die von der Komposition unabhängiger sind. Aber natürlich kann man sich auch in diese Musik versenken und sich ihre Struktur für choreografische Umsetzung nutzbar machen. Bei Jerome Robbins spürt man das in den Querphrasierungen seiner Choreografie. Die rhythmischen Strukturen entwickeln einen fast hypnotischen Sog und ziehen einen buchstäblich in dieses Stück hinein.

Dein Ballett Snowblind basiert auf dem Roman Ethan Frome der amerikanischen Autorin Edith Wharton. Sie ist im deutschsprachigen Raum wenig bekannt. Was sollte man über sie wissen, und worum geht es in ihrem Buch?
Edith Wharton wurde 1862 in eine wohlhabende New Yorker Familie geboren und wuchs in New York und Europa auf. In ihren Büchern erzählt sie von den zeitlosen Regeln und Ritualen der amerikanischen Oberschicht an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und thematisiert dabei immer wieder das durchbrechende Verlangen nach Freiheit, Liebe und Leidenschaft. Zeit der Unschuld, ihr erfolgreichster Roman, hat sich spätestens mit der Verfilmung durch Martin Scorsese auch ein heutiges Publikum erobert. Whartons Buch Ethan Frome aus dem Jahr 1911 spielt im winterlichen Massachusetts. Dort lebt der Farmer Ethan in einer freudlosen Ehe mit seiner hypochondrischen Frau Zeena. Als Mattie, eine Cousine von Zeena, als Haushaltshilfe ins Haus kommt, verliebt sich Ethan in sie. Beide erkennen, dass sie weder mit noch ohne den anderen leben können und fassen den Entschluss, gemeinsam zu sterben. Als dieser Suizidversuch in einem Schneesturm misslingt, ist es Zeena, die sich um die beiden Schwerverletzten kümmert und in ihrer Fürsorglichkeit über sich hinauswächst. Alle drei werden in einer schicksalhaften Dreiecksbeziehung zusammengeschweisst, und ich fand es faszinierend zu sehen, wie sich aus dieser Abhängigkeit eine besondere Art von Koexistenz entwickelt. Diese Verschränkung von Liebe, Abhängigkeit, Mitleid und gescheiterter Hoffnung hat mich als Choreografin inspiriert.

Was hat dich bewogen, zwei abstrakte Choreografien mit einem Handlungs­ballett zu verbinden?
Das ist eine britische Tradition. Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass diese sogenannten «Triple Bills» wie eine Mahlzeit mit verschiedenen Gängen sind. Sie sollen sich gegenseitig ergänzen, ohne zu ähnlich zu sein. Nach einem beflügelnden Auftakt wird man erst in eine faszinierende Geschichte hineingezogen und schliesslich in ein aufrüttelndes Finale entlassen. Mit den drei Stücken unseres Walkways-Abends wird das hoffentlich gut funktionieren.

Das Gespräch führte Michael Küster

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 105, September 2023.
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Mathias Vidal

Mathias Vidal verkörpert Platée in Rameaus gleichnamiger Oper und singt damit zum ersten Mal am Opernhaus Zürich. Er ist besonders im barocken Repertoire international erfolgreich, mit Rollen in Opern von Monteverdi, Purcell, Rameau, Lully, Cavalli, Campra oder Boismortier, aber auch in Operetten und Opéra-comique-Produktionen wie «Orphée aux enfers», «La Vie parisienne» oder «La Périchole».

In dieser Probe ist er nicht die Hauptperson, und das passt ganz gut zu Mathias Vidal als dem, der er jenseits der Bühne ist. Extrem bescheiden. Wie intensiv er sein kann, stimmlich, szenisch, das wissen die Zuschauer und Kollegen seines gewaltigen Repertoires von Monteverdi bis zur Moderne, aber dieses Potenzial wird jetzt gerade nicht gebraucht. Er steht am Rand der Probebühne und wartet, bis La Folie, die funkelnde Sopranistin Mary Bevan, und die acht Tänzer ihn erreicht haben, umschlungen, ihm einen Hut aufgesetzt, ihn und seine Kollegin zu einem Tänzchen geführt haben, das vorn am Cembalo gespielt wird, während Emmanuelle Haïm mit Schwung dirigiert. Abbruch. Regisseurin Jetske Mijnssen tauscht sich mit dem Choreografen Kinsun Chan aus, Haïm überprüft selbst ein paar Takte am Cembalo, Mathias Vidal trinkt einen Schluck Tee.

Es ist eine von diesen Proben, bei denen aus wenigen Takten mehrere Baustellen werden, ineinander übergehend, in denen zwischen Konzept und Improvisation etwas so Komplexes zusammenwächst, dass man als Zaungast nicht gleich durchblickt und umso mehr die gut gelaunte Gelassenheit geniesst, mit der alle dabei sind. Und natürlich die Musik, diesen Rameau’schen Tonfall, der aus dem späten französischen Absolutismus schon in andere Zeiten vorzugreifen scheint, der noch etwas filigran Barockes hat und schon… ja, was? Als Mathias Vidal und Theo Hoffmann, der den sarkastischen Kleingott Momus spielt, einen knappen Dialog singen, schwebt ein Hauch Offenbach über die Szene, etwas Französisches jenseits der Revolution, von der Platée noch gut vier Jahrzehnte entfernt ist, die Komödie mit der Tenor singenden Sumpfnymphe.

«Gounod, Massenet, Bizet», sagt Mathias Vidal, als wir uns im Foyer darüber unterhalten. «In diese Richtung muss man Rameau singen. Es ist dieselbe Familie, dieselbe DNA. Das ist nicht Lully oder Charpentier, wir sind in der grossen französischen Oper.» Das gelte nicht zuletzt für seine Partie. «Für einige in Frankreich bin ich überhaupt nicht der Beste für dieses Repertoire. Sie wollen die Stimme sehr leicht für das ganze Barock, meine ist ihnen zu stark. Dabei habe ich keine Siegfriedstimme! Aber Rameau, das ist keine Kammermusik.»

«Haute-contre» habe nichts mit Countertenor zu tun, es bedeute bei Rameau einfach Tenor, so wie «dessus» die alte Bezeichnung für Sopran ist, «bas-dessus» für Mezzosopran, «taille» für Bariton und «basse-taille» für Bass. Allerdings: Bei Marc-Antoine Charpentier, 40 Jahre vor Rameau geboren, «liegt Haute-contre viel höher. Das kann ich nicht singen, unmöglich, da singe ich immer taille! Also, vorsichtig sein mit der französischen alten Musik!» Er lacht.

Mathias Vidal ist zierlich, hat dunkle Locken, braune Augen, einen knappen Bart und entspricht optisch durchaus dem Klischee vom Südfranzosen, der er ist, vor knapp 46 Jahren an der Cote d’Azur im Hafenstädtchen Saint-Raphaël zur Welt gekommen als Sohn eines Amateursaxophonisten. Mehr erzählt er über seine Eltern nicht, und dass er selbst eine Familie und Kinder hat, findet er nicht unbedingt erwähnenswert. Er selbst begann als Siebenjähriger mit dem Klavierunterricht. Als er in Nizza studierte, 50 Kilometer nordöstlich von seiner Vaterstadt, interessierten ihn Musikwissenschaft, Chor- und Orchesterleitung und immer mehr der Gesang. Das fing an im Chor der Oper von Nizza. Im kleinen Gattières nördlich dieser Stadt sang Mathias mit 20 Jahren zum ersten Mal eine Rolle in Hoffmanns Erzählungen. Von da war es ein grosser Sprung ans Pariser Conservatoire, wo er Gesang bei Christiane Patard studierte.

«Ich lernte alles bei ihr, mit sehr guter italienischer Technik, die lehre ich nun selbst. Sie starb leider vor zwei Jahren, sonst wäre ich jede Woche in Paris. Man braucht immer einen Lehrer, wenn man Sänger ist.» Rameau war damals noch in weiter Ferne, aber nicht Emmanuelle Haïm, die um 16 Jahre Ältere, die als Lehrbeauftragte ihm und anderen Studentinnen und Studenten Musik von Claudio Monteverdi nahebrachte. «Bis ich 25 war, habe ich eigentlich nur Belcanto gesungen, italienische Oper. Das sind auch meine Wurzeln, eine meiner Grossmütter kommt aus Sizilien, und sie sang dauernd diese Arien… Nach dem Konservatorium sang ich zum ersten Mal französische Romantik. Keine Hauptrollen!»

Das war in Compiègne, jener nordfranzösischen Stadt, die ausser ihrer historischen Bedeutung für Frankreich wie für Deutschland auch ein Théâtre Impérial aus der Zeit Napoléons III. hat, seit langem bekannt für seine Opernausgrabungen. Hier debütierte Mathias 2004 in Bizets noch nie aufgeführter Oper Noé, «und in derselben Saison sang ich Rossinis Barbier, Offenbachs La Périchole und ein bisschen frühe französische Musik mit Gérard Lesne, dem berühmten Counter. Ich sang alles, was die Leute wollten, ich dachte einfach, ah, da ist ein Job für dich!» Dieser bunte Start ins Bühnenleben scheint wegweisend bei einem, den man in Frankreich «éclectique» nennt, in vielen Genres zu Hause und nicht leicht zu etikettieren. Ist das ein Problem?

«Es wechselt von Haus zu Haus, wie man besetzt wird. Hier Rameau, da Operette…» Nein, das Hauptproblem ist ein anderes, und es gilt für alle französischen Sänger: «Wir haben tolle Musiker und nur 20 Operntheater, das ist nichts. In Deutschland gibt es 120. Warum? Theater in Nantes und anderen Grossstädten zeigen viel weniger Vorstellungen als zum Beispiel das in Oldenburg. Die festen Ensembles sind vor 40 Jahren verschwunden. Es gibt also nur Gastspiele. Wenn du in Frankreich auftrittst, geht es um das Leben, du hast nur einen Schuss! Wir versuchen diese musikferne Mentalität zu ändern, das geht nur langsam.» Umso lieber denkt er an den Erfolg, den eine Koproduktion der Theater von Lille und Rennes hatte, die 2017 Zemlinskys Einakter Der Zwerg auf die Bühne brachten. Es war der norwegische Talentscout Pål Christian Moe, der Mathias für die tragische Titelrolle empfahl.

Wer ihn im Mitschnitt erlebt, begreift sofort, warum das einschlug. Eine Stimme, die den Worten folgt, die fleht und nicht prunkt, eine Körpersprache, die zeigt, was dieser «Zwerg» vor allem ist – ein zutiefst verunsicherbares Wesen. «Ich war sehr glücklich mit diesem Charakter», meint er, «und mit der Atmosphäre dieser Musik, der Harmonik. Wir haben in Frankreich auch Werke aus dieser postromantischen Periode, aber die sind eleganter. Bei Zemlinsky ist es sehr real. Und auf Deutsch zu singen ist zwar nicht einfacher, aber klarer. Die Worte verbinden sich besser.»

Tatsächlich fiel ihm der Weg zu Zemlinsky leichter als der zu Rameau. «Ich war sehr langsam mit diesem Komponisten, und bei meiner ersten Produktion war ich improvable, denn es ist sehr schwer. Das Schwierige ist, die Ornamente und eine grosse Stimme zusammenzubringen. In der ersten Woche der Proben wird die Stimme erstmal klein, weil man alle Töne erwischen will. Man muss zu einer bestimmten Flexibilität finden.» Die Zürcher Platée ist die dritte, die Mathias auf der Bühne singt – nach Produktionen in Frankreich und Japan –, aber die erste, bei der die von den Göttern genasführte hässliche Nymphe eben keine ist, sondern ein männlicher Souffleur, der sich in einen Startänzer verliebt. Für ihn macht das keinen fundamentalen Unterschied. «Es sind dieselben Gefühle, dasselbe Spiel zwischen den Charakteren. Und die Figur ist sehr reichhaltig, naiv und anmassend, komisch, romantisch, tragisch.»

Ein Wunsch freilich bleibt offen. Ideal für Rameau und den Stimmumfang eines Haute-contre, meint er, sei ein Stimmton von 400 oder 405 Hertz statt 415 wie hier, «aber für Platée ist das okay, es ist eine Komödie!» Um was genau, frage ich ihn, geht es eigentlich in der komplexen Szene, die gerade geprobt wurde? «Platée wartet auf ihre Hochzeit mit Jupiter», sagt er in seinem sanften südfranzösischen Englisch. «She is enjoying moments. And… that’s it.»

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 107, Dezember 2023.
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Evan Hughes

Evan Hughes singt in Rameaus «Platée» den Jupiter. In Zürich war er 2019 bereits als Gobrias in «Belshazzar» und 2022 als Leporello in «Don Giovanni» zu erleben.

Aus welcher Welt kommst du gerade?
Gerade habe ich Händels Theodora in einer schönen Inszenierung von Stefan Herheim in Wien hinter mir. Es war eine hochpsychologische, sehr intime Arbeit, die in einem Wiener Kaffeehaus spielte und einem den Boden unter den Füssen wegzog. Ich war ein strafender Bösewicht. Ich liebe dunkle und dramatische Opern, aber es ist sicher gesund für die Psyche, jetzt mit Platée – obwohl es dort auch tragische Elemente gibt – eine Komödie folgen zu lassen.

Worauf freust du dich bei der Produktion Platée?
Es ist das erste Mal, dass ich Rameau singe, und ich finde die Musik eine Offenbarung. Es ist wirklich aufregend, in einen neuen Gesangsstil einzutauchen, vor allem unter der Leitung der grossartigen Emmanuelle Haïm, mit der ich letztes Jahr in Händels Semele in Frankreich zusammenarbeiten durfte. Das Konzept von Jetske Mijnssen ist für mich ein grosser Spass, denn ich spiele einen «Divo», einen Balletttänzer, und darf tanzen und herrliche Musik singen.

Du bist Jupiter. Wie fühlt es sich an, den Gott der Götter zu verkörpern?
Unser Jupiter ist ein gottähnlicher Ballettstar, also hat er diese Kombination aus Charisma und Narzissmus, die ihn sympathisch und magnetisch, aber auch monströs macht.

Welche Bildungserfahrung hat dich besonders geprägt?
Ich würde sagen, die Eindrücke, die ich als kleiner Junge auf dem Campus des Musikfestivals «Music Academy of The West» in Kalifornien gewinnen durfte. Mein Vater leitete das Festival, meine Mutter war Sängerin und Gesangslehrerin, und während der Sommermonate, in denen das Festival stattfand, konnte ich bei Meisterklassen mit talentierten Opernsänger:innen zuhören.

Welches Buch würdest du nie aus der Hand legen?
Alles von Jonathan Franzen.

Welchen überflüssigen Gegenstand in deiner Wohnung magst du am meisten?
Meine Monstera deliciosa, die zu einem wilden Riesen herangewachsen ist. Ich liebe diese Pflanze und beobachte gerne, wie sie sich entwickelt.

Welche CD hörst du dir immer wieder an?
Als ich aufwuchs, war meine Mutter eng mit dem französischen Geiger Gilles Apap befreundet, der auch heute noch ein guter Freund von ihr ist. Er hat in den 90er-Jahren mehrere Alben aufgenommen, die ich mir öfter anhöre als alles andere. Er spielt Musik vom Barock bis zur rumänischen Volksmusik. Von seinen Soloplatten bis zu seinen Aufnahmen mit den «Transylvanian mountain boys» bin ich ein eingefleischter Fan, und seine Aufnahmen bringen mich immer wieder zu mir selbst zurück.

Mit welcher Persönlichkeit würdest du gerne mal zu Abend essen?
Mit dem Filmregisseur Derek Jarman.

Wie wird die Welt in 100 Jahren aussehen?
Angesichts des Leids in der Welt muss ich mich zwingen, optimistisch zu sein und darauf vertrauen, dass die unglaublichen Fortschritte in Wissenschaft und Technik und die Lehren aus der Geschichte uns vor uns selbst retten werden! Ich glaube, dass die Kunst auch in 100 Jahren noch eine der treibenden Kräfte des positiven Wandels sein wird und der Spiegel ist, den die Welt braucht!

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 107, Dezember 2023.
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Klaus Florian Vogt

Klaus Florian Vogt gibt in Zürich sein Rollendebüt als Siegfried in Wagners «Götterdämmerung». Der weltweit gefeierte Tenor stand im letzten Sommer bei den Bayreuther Festspielen als Siegmund in «Die Walküre» und in der Titelpartie des «Tannhäuser» auf der Bühne. Am Opernhaus Zürich war er in der vergangenen Spielzeit bereits in der Titelpartie des «Siegfried» zu erleben.

In Norddeutschland, wo er herkommt, würde man sagen, er hat die Ruhe weg. Das ist vielleicht sogar eine Grundvoraussetzung für diese Art von Berufsleben. Da kommt in Zürich kurz vor der Bühnenprobe für die Götterdämmerung, erster Aufzug, dritte Szene, die Anfrage aus Paris, ob er da als Lohengrin einspringen kann am nächsten Tag. Kurzer Austausch mit dem Intendanten in der Cafeteria, ob das gehen könnte. Klaus Florian Vogt ist völlig gelassen. Während man in der Pariser Oper wahrscheinlich nervös auf den Nägeln kaut, wirkt das Thema bei ihm, als müsse nur geklärt werden, ob ein Stuhl links oder rechts steht. Sie lassen das erstmal offen und kümmern sich in der Probe um Komplizierteres, nämlich wie Siegfried als Unsichtbarer seiner Brünnhilde – von der er vergessen hat, dass sie seine Braut ist – glaubwürdig den Ring entreissen kann. Immer mit Klavier und Gesang, denn die Bewegungen müssen ja der Musik folgen, und mit endlos viel Geduld.

Ehe es um die Emotionen gehen kann, in dieser Szene so vielschichtig wie selten, muss die Choreografie gebastelt werden, und in diesem Modus klingt es noch wie eine freundliche Ansage, wenn Vogt, sanfter Hüne in Jeans und mit dem Tarnnetz auf dem blonden Haar, an Gunthers Stelle singt: «In deinem Gemach musst du dich mir vermählen!» Da hört man aber schon die Klarheit in dieser Stimme, aus der er so unendlich viele Farben holen kann. Dass die Emotionen auch in einer Probe so hochkochen können wie sonst nur in den besten Momenten einer Aufführung, dazu kommen wir später, im Foyer, wo Klaus Florian Vogt mir erstmal von seinem Weg zum Siegfried erzählt, der sich bei unserem letzten Treffen vor neun Jahren durchaus schon abzeichnete. Da sang er gerade den Lohengrin in Bayreuth und sagte auf die Frage, was denn an den Partien des Siegfried und des Tristan so grossen Respekt auslöse: «Das weiss ich auch nicht. Darauf bin ich sehr gespannt.» Er lacht schallend, als ich ihn daran erinnere. «Jetzt ist es soweit mit dem Herausfinden», meint er und ergänzt: «Man sollte vor jeder Rolle Respekt haben.» Vielleicht ist er ein bisschen ernster geworden, ansonsten eher reifer als älter, so durchtrainiert, wie er da sitzt. Aber wenn er lacht, bricht es jählings hell und übermütig aus ihm heraus.

Seinen ersten Tristan singt er nächstes Jahr an der Semperoper, in Bayreuth auch beide Siegfrieds, den im Siegfried und den in der Götterdämmerung, für die er dann schon seine Erfahrungen aus Zürich mitbringt. Das schwere Heldenfach? «Das wird so genannt, ja. Ich seh’ das nicht so, ich singe ja den Siegfried technisch nicht anders als den Lohengrin, lauter oder so. Ich gehe von der Figur aus, von der Orchesterfarbe, von der jeweiligen Situation, und von da kommt der Stimmausdruck.» Aber es seien nun mal grosse und lange Partien, «und wenn man noch nicht so erfahren ist und die Stimme technisch noch nicht so gereift, lässt man sich von so einem dicken Orchesterklang hinreissen, dagegen anzugehen, und das ist eine grosse Gefahr. Dass man überzieht, forciert. Dadurch wird man müde, und das ist nicht so erstrebenswert.» Er lacht wieder. «Mit mehr Erfahrung spürt man besser, wie weit man gehen kann. Beim Siegfried war es so, dass es irgendwann keine Passage mehr gab, wo ich mir hätte Sorgen machen müssen, oh, das ist ja so hoch oder so lang oder so laut… Darauf habe ich gewartet.» Dazu komme so etwas wie beim Krafttraining. «Wenn man mehr Muskeln will, muss man neue Reize setzen, zum Beispiel die Gewichte erhöhen oder die Frequenz. Das ist auch mit der Muskulatur so, die die Stimme hält.»

Abgesehen davon sei Wagner ja keineswegs nur laut. «Klar gibt’s laute Stellen! Ein richtig fettes Orchester-Fortissimo, das liebe ich!» Da jubelt noch der Hornist im Sänger mit, der im Graben der Hamburgischen Staatsoper früher selbst solche Fortissimi blies. «Aber es ist viel schöner, wenn es ganz grosse Gegensätze gibt. Wagner schreibt sehr oft piano, und gerade bei Parlando-Stellen macht er das Orchester wirklich leise, wie bei dem verträumten Waldweben im Siegfried, nur so eine Fläche unter der Stimme, das darf auch was Zartes haben. Ich sehe uns in solchen Momenten ein bisschen wie als Märchenerzähler. Ja, wir erzählen eigentlich ein Märchen, und wenn ich was erzähle, möchte ich, dass mein Gegenüber das versteht. Bei Wagner sind Text und Musik wirklich ineinander verwoben und gleichberechtigt zu singen. Wenn man seine Melodieführung und die Pausen genau befolgt, merkt man, dass der ganze Text sehr organisch ist. Es gibt wenige Stellen, wo man Gefahr läuft, sich die Zunge zu brechen. Für mich ist das alles wunderbar singbar.»

Aber einfaches Märchendeutsch ist es ja nicht gerade. «Es ist im Ring schon deswegen schwer zu verstehen, weil die Geschichte so kompliziert ist! Es ist wichtig, diesen Text für sich selbst, aber auch für das Publikum zu entflechten, sonst versteht man ja gar nichts mehr. Das ist ein Grossteil der szenischen Arbeit, dass wir uns untereinander klar machen: Was sagt der eigentlich? Das ist mit Andreas Homoki als Regisseur so, dass man es am Ende versteht. Ich bin unheimlich froh, diese beiden Siegfrieds mit ihm zu machen, weil er sehr nah am Stück bleibt, weil man die Grundlinien dieses Charakters versteht und sein Verhältnis zu den anderen. Wenn man gleich beim Rollendebüt etwas Verdrehtes machen muss, kriegt man diesen Zugriff nie. So habe ich für die beiden Partien ein tolles Gerüst, in dem ich die mit der Zeit auch erweitern kann.»

Wie unterscheiden sich denn die beiden Siegfrieds? Immerhin hat Richard Wagner den Siegfried nach dem zweiten Aufzug 1857 erstmal liegen lassen, Tristan eingeschoben und ab 1869 dann den Ring fertig komponiert. Manche finden, der Held sei in der Götterdämmerung ganz anders geworden, es seien sogar zwei so verschiedene Partien, dass der Sänger sich umstellen müsse. Das findet Vogt nicht, anders als sein Kollege Stephen Gould, der jetzt so früh gestorben ist. «Das hat mir Stephen auch erzählt. Natürlich ist von der Anlage der frühere Siegfried anders, viel mehr spielerische Elemente, und beim späteren geht es in der Harmonik viel weiter. Aber ich glaube nicht, dass man den anders singen muss. Es wird immer gesagt, das ist der erwachsene Siegfried. Quatsch, der hat genau dieselbe Frische und Direktheit. Man könnte sich sogar vorstellen, dass zwischen dem Ende des Siegfried und dem Beginn der Götterdämmerung nur eine Nacht mit Brünnhilde liegt. Wovon soll der denn reifer und erfahrener geworden sein? Dagegen spricht auch, dass er auf die ganzen Betrügereien reinfällt. Der glaubt gar nicht, dass es böse Menschen gibt.»

So prägt auch das Konzept einer Rolle den Umgang mit der Stimme, die Farben, die er findet. Wie ist das bei der Partie, die ihm vor 20 Jahren den internationalen Durchbruch bescherte, dem Lohengrin? Gibt es verschiedene Lohengrins in ihm? «Ganz viele! Und die werden oft vermischt», sagt er. «Ich habe da inzwischen eine Schatzkiste von Ausdrucksmöglichkeiten. Da kommen auch immer noch neue dazu.» Und wenn mit Tristan die Heldenwelt komplett ist, wird ihm nicht die Aussicht auf noch zu erobernde Gipfel fehlen? «Das ist nicht, was mich antreibt, sondern da eine Tiefe zu entdecken. Jeder Abend, den man mit den Wagnerpartien durchlebt, ist ja schon selbst das Erklimmen eines Gipfels.» Es gibt aber noch etwas, das Klaus Florian Vogt antreibt. «Adrenalin ist die vielleicht einzige Droge, die ich brauche. Das brauchen Sportler ja auch, um eine Höchstleistung zu bringen.» Und das gebe es nicht nur mit Publikum, sondern auch in den Proben. «Man muss in Proben ja erforschen, wo kann ich hingehen, emotional. Da passiert es schon, dass es mit einem durchgeht…» Ein bisschen zusätzliches Adrenalin hat er sich für den nächsten Tag auch schon gesichert. Nach der Vormittagsprobe, auf der besteht Regisseur Andreas Homoki, wird er nach Paris fliegen und abends den Lohengrin singen. Wer dirigiert denn? «Weiss ich nicht!» Er lacht. «Wird schon jemand da sein!».

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 106, Oktober 2023.
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Ich will noch viel mehr über mich erfahren

Brandon Lawrence ist seit dieser Spielzeit Erster Solist am Ballett Zürich. Zielstrebig hat er seine Karriere über Yorkshire, die renommierte Londoner Royal Ballet School und das Birmingham Royal Ballet aufgebaut. Jetzt ist er nach Zürich gewechselt, um seinen reichen künstlerischen Erfahrungen weitere hinzuzufügen. Ein Porträt von Michael Küster

Umzüge können ganz schön stressig sein! Brandon Lawrence kann ein Lied davon singen. Im Sommer ist er von Birmingham nach Zürich gezogen. Es ist das erste Mal, dass er ausserhalb von Grossbritannien wohnen wird, und tatsächlich erweist es sich als Herausforderung, ein komplettes Leben ins Ausland zu verschiffen: «In meiner Birminghamer Wohnung hatten sich im Laufe von zwölf Jahren viele Dinge angesammelt, und für den Umzug musste ich wirklich über jedes einzelne Teil entscheiden. Das war schwer! Aber am Ende habe ich sechs grosse Kisten nach Zürich vorausgeschickt und den Rest in einem Lagerhaus verstaut. Gerade mache ich die angenehme Erfahrung, dass ich nur ganz wenige Dinge davon wirklich vermisse. Manchmal muss man einfach nur loslassen!»

Brandon ist einer von neunzehn neuen Tänzerinnen und Tänzern, die Zürichs Ballettdirektorin Cathy Marston in ihre Compagnie engagiert hat. Ab 6. Oktober 2023 wird er als neuer Erster Solist im Ballettabend Walkways zu erleben sein. Damit beginnt ein neues Kapitel in einer Biografie, in der das Tanzen seit frühester Kindheit die Hauptrolle spielt. Wenn Brandon an diese Jahre in Bradford zurückdenkt, kommt ihm zuerst die Musik in den Sinn, die ihn den ganzen Tag umgibt: «Seit ich acht bin, habe ich im Haus und im Garten getanzt. Pausenlos habe ich versucht, die Musikvideos aus dem Fernsehen nachzumachen.» Neben den Hits von Michael Jackson sind es die weihnachtlichen, typisch britischen Pantomime-Aufführungen, die seine Lust am Theater entfachen und in Brandon den Drang erwecken, selbst auf der Bühne zu stehen. Deshalb ist es nur eine Frage der Zeit, dass seine Mutter ihn in einer Tanzschule anmeldet, und es wird nicht die letzte sein. Nur einmal in der Woche, am Samstag zu tanzen, ist bald nicht mehr genug: Brandon will mehr, findet Gefallen an der Herausforderung, der Disziplin, dem Streben nach Perfektion. Trotzdem hat er nicht das Gefühl, in seiner Kindheit etwas verpasst zu haben. Er lacht: «Zum Glück bin ich noch in einer Zeit ohne Smartphones und ohne soziale Medien aufgewachsen. Ich hatte genug Zeit, um Fahrrad zu fahren, auf Bäume zu klettern oder mit meinen Rollerblades unterwegs zu sein». Mit einem Stipendium nimmt er an den Yorkshire Ballet Seminars teil. Dort ist es die ehemalige Ballerina Marguerite Porter, die ihn unter ihre Fittiche nimmt und ihn zur Aufnahmeprüfung an der Royal Ballet School in London anmeldet. Dann geht alles ganz schnell: «Ich erinnere mich, dass das Vortanzen an einem Dienstag stattfand. Sie sagten, ich könne am kommenden Samstag an der Schule anfangen.» Also schnell zurück nach Yorkshire, die Sachen gepackt, und vier Tage später beginnt das grosse Abenteuer in einer völlig neuen Umgebung. Romantik pur! Die Londoner Schule liegt idyllisch in Richmond Park und ist in einem alten Jagdschloss untergebracht. «Hier mit Gleichgesinnten zusammen zu sein, die alle das gleiche Ziel hatten, war fantastisch. Ich fühlte mich absolut am richtigen Ort.» Brandon ist gut darauf vorbereitet, plötzlich für sich selbst verantwortlich zu sein. Als Scheidungskind hat er früh gelernt, zu kochen, zu waschen oder sein Bett zu machen. Jetzt geht es darum, den Tag optimal zu strukturieren und für sich das richtige Mass von Trainings- und Erholungsphasen zu definieren. «Damals», sagt er, «habe ich gelernt, mich zu fokussieren und auf das Wesentliche zu konzentrieren.» Schon im dritten Jahr an der Royal Ballet School, weiss er genau, wo einmal sein Platz sein soll. Es zieht ihn zum Birmingham Royal Ballet. Dem damaligen Direktor David Bintley ist Brandon schon während dessen Besuchen an der Royal Ballet School aufgefallen, und er bietet Brandon schliesslich einen Vertrag an. Vom Sommer 2011 an wird die Millionenstadt in den West Midlands für die nächsten zwölf Jahre Brandons neue Heimat sein.

1946 aus dem einstigen Sadler’s Wells Ballet hervorgegangen und mit dem Londoner Royal Ballet verbunden, hat die inzwischen unabhängige Compagnie seit 1990 ihren Sitz in Birmingham und gehört heute zu den fünf grössten Compagnien Grossbritanniens – mit einer langen Aufführungstradition für klassisches Handlungsballett und einem rastlosen Gastierbetrieb im In- und Ausland. Neben den Choreografien von David Bintley hat das Birmingham Royal Ballet legendäre Produktionen von Frederick Ashton und Kenneth MacMillan im Repertoire. Brandon hat in allen getanzt! «David Bintley», erinnert er sich, «hat mir so viele Auftrittsmöglichkeiten gegeben! Er hat immer an mich geglaubt, noch ehe ich selbst wusste, dass ich für eine Rolle bereit war. Dabei war er sehr geduldig, wenn es darum ging, einen Tänzer seinen Weg finden zu lassen. Von Davids choreografischer Erzählkunst habe ich sehr profitiert. Wie man einem Rollenporträt Menschlichkeit einhaucht, habe ich von ihm gelernt.» Auch Bintleys Nachfolger Carlos Acosta, einst selbst ein legendärer Tänzer, fordert seinen Principal immer aufs Neue heraus. Ausserdem arbeitet er mit Choreografen wie Jessica Lang, George Williamson und Didi Veldman zusammen. Die Fotos im Internet zeigen Brandon in einer beeindruckenden Sammlung von Helden, Prinzen und Herzensbrechern. Doch schon früh wird Brandon klar, dass auch Helden und Prinzen ohne die richtigen künstlerischen Partner ganz schön einsam sein können. Zum Glück gibt es Künstlerinnen wie die neuseeländische Tänzerin Delia Mathews oder die Kanadierin Céline Gittens, mit denen Brandon in vielen beglückenden Aufführungen auf der Bühne steht: «Die Menschen, mit denen man tanzt, sind für die eigene Laufbahn unglaublich wichtig, weil wir so viel von ihnen lernen können. Tanzen ist immer ein Geben und Nehmen – ein Miteinander, bei dem man über sich selbst hinauswachsen kann und das einen die eigenen Grenzen überschreiten lässt.»

Genau dieser Punkt führt Brandon dann auch zu dem Entschluss, seiner Tänzerlaufbahn noch ein neues Kapitel hinzuzufügen: «In Grossbritannien ist eine Position als Principal Dancer im Royal Ballet für viele Tänzer das Ziel aller Sehnsüchte. Doch ehrlich gesagt, reicht mir das nicht. Für die Birminghamer Erfahrungen werde ich ewig dankbar sein, aber ich merke, dass ich noch viel mehr über mich erfahren, dass ich weiterforschen und noch einmal mit neuen künstlerischen Partnern arbeiten möchte. Auch stilistisch habe ich lange noch nicht alles getanzt, was ich gern möchte.»

Mit Anfang Dreissig denkt Brandon natürlich längst über die Zeit nach seiner aktiven Tänzerkarriere nach und kann sich da bereits vieles vorstellen: Tanzcoach, Kurator oder gar Ballettdirektor? Nichts ist unmöglich, aber erst einmal kommt Zürich. Brandon hat leuchtende Augen, als er über das vielseitige Zürcher Repertoire und die Herausforderungen spricht, die dort hoffentlich auf ihn warten. Begeistert erzählt er von den ersten Wochen in seiner neuen Compagnie und der Arbeit an den Choreografien von Wayne McGregor, Jerome Robbins und Cathy Marston. Arbeiten der neuen Zürcher Ballettdirektorin hat Brandon beim Northern Ballet und beim Royal Ballet in London gesehen, er war fasziniert von Jane Eyre und The Cellist. In Zürich nun selbst in ihren Stücken zu tanzen, sei eine tolle Herausforderung: «Ich freue mich riesig auf unsere Zusammenarbeit. Künstlerisch sind Cathy und ich sehr auf einer Wellenlänge.»

«Was bekommen Choreografen von Brandon Lawrence?», frage ich ihn, und seine Antwort fällt knapp aus: «Wiederholungen!», lacht er. «In den Proben und in einem choreografischen Prozess bin oft ich derjenige, der sagt: Komm, lass uns das noch einmal machen! Das Resultat einer Arbeit liegt mir immer sehr am Herzen, und manchmal dauert es, bis ich selbst wirklich zufrieden bin. Wir Tänzer sind keine Maschinen mit Perfektionsgarantie, deshalb knie ich mich gern mit besonderer Sorgfalt in einen choreografischen Prozess hinein und feile so lange, bis es für mich stimmt.» Von prägenden Erlebnissen und Erfahrungen aus seinem Tänzerleben berichtet Brandon regelmässig im Podcast Open Barre. Während der Corona-Pandemie hat er ihn gemeinsam mit der Tanzautorin Julia Dixon ins Leben gerufen, und inzwischen haben die erfrischenden Insider-Gespräche, die die beiden zu unterschiedlichsten Themen aus der Ballettwelt führen, eine grosse Fangemeinde.

Zürich und die Schweiz als seine neue künstlerische Heimat zu entdecken, erlebt Brandon gerade als grosses Abenteuer. Eine der ungewöhnlichsten Erfahrungen sind die Opernklänge, die jeden Tag durch die Flure des Opernhauses schallen. Das gab es in Birmingham nicht! Von der Probenatmosphäre in seiner neuen Compagnie ist er begeistert: «Mir gefällt diese tolle Mischung aus ganz unterschiedlichen Leuten. Die neuen Tänzerinnen und Tänzer ergänzen sich sehr gut mit denen, die schon vorher da waren. In den drei Stücken von Walkways findet, glaube ich, jeder von uns etwas für sich. Triple Bills sind eine tolle Sache, wenn sie so abwechslungsreich sind wie dieses Programm. Da kann man drei verschiedene Tanzstile an einem Abend erleben. Es gibt die bewegende Geschichte in Snowblind von Cathy Marston, wo man seine narrativen Fähigkeiten abrufen muss. Ich bin einer der Darsteller des Farmers Ethan Frome, und als Mann zwischen diesen beiden sehr unterschiedlichen Frauen, Zeena und Mattie, muss ich mir sehr bewusst machen, wie ich das Verhältnis zu jeder der beiden auf unterschiedliche Weise tänzerisch beglaubigen kann. Wayne McGregors Infra ist heute schon fast ein ikonografisches Stück. 2008 habe ich die Uraufführung in Covent Garden gesehen, damals war ich noch Schüler an der Royal Ballet School. Ich hätte nie gedacht, dass ich selbst einmal in diesem Stück tanzen würde. Und die Glass Pieces von Jerome Robbins mit der geradezu süchtig machenden Musik von Philip Glass sind einfach ein Traum! Dort habe ich im zweiten Teil einen herrlichen Pas de deux voller Reinheit, den ich mit Elena Vostrotina tanzen darf. Was für ein Glück! Visuell, aber auch musikalisch ist dieses ganze Programm ein Festmahl. Ich kann es kaum erwarten, auf die Bühne zu kommen!»

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 105, September 2023.
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Max Richter

Max Richter stammt aus den USA und tanzte nach der Ballettausbildung an der International City School of Ballet im Houston Ballet. Wichtige Rollen während des Engagements in Houston waren Angel in Cathy Marstons «Summer and Smoke», Odette/Odile in Stanton Welchs «Schwanensee» sowie Solopartien in Balletten von Ben Stevenson, Arthur Pita und Aszure Barton. Seit dieser Saison ist Max Richter Mitglied des Balletts Zürich.

Aus welcher Welt kommst du gerade?
Direkt aus den Vereinigten Staaten. Die letzten neun Jahre habe ich in Houston, Texas, gelebt und dort im Houston Ballet getanzt. Von dort bin ich im Sommer in die Schweiz gezogen und bin sehr gespannt, wie dieses neue Kapitel meines Lebens verlaufen wird.

Was macht das Ballett Zürich für dich zu etwas Besonderem?
Ich entdecke das Ballett Zürich gerade als sehr kreatives Umfeld und als einen sicheren und vorurteilsfreien Raum, wo ich jeden Tag aus meiner Komfortzone geholt werde. Da wir als Tänzerinnen und Tänzer alle sehr unterschiedlich sind, kann ich mich auf vielfältigste Weise inspirieren lassen.

Worauf freust du dich in Walkways, unserem neuen Ballettabend?
Cathy Marston, Wayne McGregor und Jerome Robbins an einem Abend! Was für eine tolle Idee! Jede der drei Choreografien ist auf ihre Weise einzigartig und unverwechselbar. Es ist ein Privileg, dass ich in diesem Programm mein Debüt mit dem Ballett Zürich geben darf.

Welches Bildungserlebnis hat dich besonders geprägt?
Zu erkennen, wie wichtig Selbstvertrauen für die künstlerische Freiheit und das künstlerische Wachstum sind. Ich geniesse es mit Menschen zu arbeiten, die mich so nehmen, wie ich bin und für die ich mich nicht in irgendeiner Weise verbiegen muss

Welches Buch würdest du niemals weggeben?
Es ist ein Buch der US-amerikanischen Autorin Brené Brown. Sie erforscht zwischenmenschliche Verbindungen – unsere Fähigkeit für Empathie, Zugehörigkeit, Liebe. In Braving the Wilderness erläutert sie, wie man seinen Platz im Leben findet und wie wichtig es ist, sein wahres Ich und die eigene Verletzlichkeit zu akzeptieren.

Von welcher Musik bekommst du nie genug?
Die Songs der US-amerikanischen Singer-Songwriterin Taylor Swift kann ich immer wieder hören. Mich fasziniert, wie sie ihre persönlichen Erfahrungen in sehr einfühlsame Texte von grosser Tiefe und Sinnhaftigkeit kleidet.

Welchen überflüssigen Gegenstand in deiner Wohnung magst du am meisten?
Meine Pflanzen, auch wenn ich sie absolut nicht für überflüssig halte und mich gern um sie kümmere. Sie wachsen und sich verändern zu sehen, bringt das Gefühl von Leben in mein Zuhause.

Mit welcher Persönlichkeit würdest du gern einmal zu Abend essen?
Es wäre mir eine Ehre, den deutschen Komponisten Max Richter zum Essen zu treffen. Schon lange bin ich ein grosser Fan von ihm und freue mich natürlich sehr, dass das Ballett Zürich in Wayne McGregors Stück Infra zu Musik von ihm tanzen wird. Ich würde Max Richter fragen, woher er die Inspiration zu seinen Kompositionen bezieht.

Wie wird die Welt in 100 Jahren aussehen?
In 100 Jahren kann hoffentlich jeder Mensch in der Version von sich leben, die ihn am glücklichsten macht.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 105, September 2023.
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Andrew Moore

Andrew Moore studierte in Philadelphia. Am Opernhaus Zürich war er Mitglied des Internationalen Opernstudios und gehört seit der Spielzeit 2022/23 zum Ensemble. In dieser Spielzeit singt er Leporello in «Don Giovanni» und ist u.a. in «La rondine», «Die lustige Witwe» und in der Familienoper «Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer» zu erleben.

Aus welcher Welt kommst du gerade?
Ich komme aus den Sommerferien in New Jersey, wo ich aufgewachsen bin und wo meine Familie und Freunde leben. Small town vibes... Als Amerikaner, der in der Schweiz wohnt, lebe ich immer zwischen diesen beiden Welten. Ich arbeite aber sehr gerne und bin auch froh, wieder zurück zu sein und eine volle Spielzeit vor mir zu haben!

Auf was freust du dich am meisten in dieser Saison?
Ganz besonders freue ich mich darauf, zum ersten Mal den Leporello auf der Bühne zu singen. Seine berühmte Arie, in der er Don Giovannis Frauen aufzählt, gehört zu den ersten Stücken, die ich als Achtzehnjähriger mit meinem Gesangslehrer studiert habe. Er sagte damals: «Ich habe gute und schlechte Nachrichten: Deine Stimme ist toll! Aber dein Italienisch klingt, als würdest du auf deinem Frühstück rumkauen.» Jetzt bin ich 10 Jahre älter und darf diese Arie auf der Bühne singen! Damit geht ein Traum in Erfüllung.

Welches Bildungserlebnis hat dich besonders geprägt?
Es gab glücklicherweise immer wieder Menschen, die mir geholfen haben, dahin zu kommen, wo ich jetzt bin. Als ich meinen Eltern erzählte, dass ich Sänger werden will, hatte meine Mutter die schlimmsten Befürchtungen. Sie sagte: «Du wirst in Ellen’s Sturdust Diner arbeiten» – das ist ein Restaurant in New York mit singenden Kellnern... Ich versuchte es dann mit dem Kompromiss, Musiklehrer zu werden, aber mein Gesangslehrer förderte mich und glaubte an mich, so wie später auch Adrian Kelly vom Internationalen Opernstudio und Annette Weber, die mich ins Ensemble des Opernhauses holte.

Von welcher Musik bekommst du nie genug?
Darf ich etwas anderes sagen als «Oper»? Ich liebe Musik von den 50er- bis in die 80er-Jahre, Rock und Folk vor allem. Musik von heute höre ich hingegen eher selten... Kennst du diese Situation, dass deine Eltern im Auto Musik hören, während du als Kind auf der Rückbank sitzt, aus dem Fenster schaust und dich wie in einem Musikvideo fühlst? Ich glaube, mein Musikgeschmack hat viel mit dieser Erinnerung zu tun.

Welche Persönlichkeit würdest du gerne für einen Tag sein?
Manchmal wünsche ich mir, einen Tag lang eine richtig berühmte Old-School-Operndiva zu sein, die mit Sonnenbrille und Pudel den Raum betritt, und alle liegen ihr zu Füssen. Das ist bestimmt ein anderes Lebensgefühl als das eines Bassbaritons...

Woran merkt man, dass du Amerikaner bist?
Auf jeden Fall an meinem starken New Jersey-Akzent. Früher dachte ich allerdings, dass ich gar keinen Akzent habe. Mir ist das erst aufgefallen, als ich zum ersten Mal nach San Francisco gereist bin und gefragt wurde, wo ich herkomme!

Wie wird die Welt in 100 Jahren aussehen?
Vielleicht wird die Schweiz der grüne Daumen auf einer schwarzen Erde sein... Mir scheint, dass die Schweiz auf eine gute Art und Weise konservativ und umweltfreundlich ist und gut mit ihren Ressourcen umgeht. Amerika und andere Länder haben in dieser Hinsicht noch viel zu lernen.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 104, September 2023.
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Ermonela Jaho

Ermonela Jaho wurde in diesem Jahr bei den International Classical Music Awards als «Künstlerin des Jahres» ausgezeichnet. Die Sopranistin ist gebürtige Albanerin. Ihre Karriere führte sie an alle grossen Häuser der Welt. Höhepunkte der jüngeren Zeit waren ihr Debüt als Adriana Lecouvreur an der Wiener Staatsoper, Mimì am Teatro Real in Madrid, Liù an der New Yorker Met, Cio-Cio-San an der Staatsoper Hamburg sowie Blanche in «Dialogues de Carmélites» von Francis Poulenc an der Bayerischen Staatsoper.

Sie trinkt ihren Espresso ohne Zucker, das Guetzli bleibt liegen, das Wasserglas bleibt lange voll, trotz der Augusthitze im Wintergarten des Café Sphères, es gibt einfach zu viel zu erzählen. Ich muss nicht mal erklären, was das für eine Porträtreihe ist, für die wir uns hier treffen, nachdem sie, Ermonela Jaho, heute schon sechs Stunden Probe hinter sich hat und ich neun Stunden reiste, dank der üblichen «Störungen im Betriebsablauf» der Deutschen Bahn, von denen die Sängerin erstmals hört, überrascht: «Aber in Deutschland ist man doch so pünktlich!» «Das ist dreissig Jahre her.» Sie klopft mir amüsiert tröstend auf den Arm. Ob man vor dreissig Jahren in Deutschland oder in Albanien lebte, das ist ein himmelweiter Unterschied. Was Ermonela als Kind und Teenager erlebte, das spielt, wie sich herausstellen wird, bis heute eine grosse Rolle.

Auch für ihre Gestaltung der Magda in Giacomo Puccinis La rondine, über die wir zuerst sprechen, denn bis eben hat sie auf der Probebühne an dem Stück gearbeitet. Magda gelingt gerade das nicht, was Ermonela einst schaffte, gegen beträchtliche Widerstände einen Traum zu realisieren. «In dieser Oper stirbt keiner», meint sie, «aber es ist trotzdem dramatisch. Wenn du stirbst, ist das Leben vorbei», sie klatscht kurz in die Hände wie eine Lehrerin, die «Schluss für heute!» ruft, «aber leben mit einem Traum, der nie wahr wird, mit diesem Schmerz, das ist dramatischer, als nur zu sterben.» Magda komme aus der demi­-monde wie Violetta in La traviata, der junge Mann, den sie liebt, aus solider Familie, «und vielleicht kommt er auch nicht im richtigen Moment…» Sie liebt es, wie der Regisseur Christof Loy arbeitet, «an allen Details, allen Personen. Jeder hat seine eigenen Gedanken, seine eigene Art, ans Leben heranzugehen, das ist in unserer Rondine auch so, nicht nur mit den Solistinnen und Solisten, auch mit der Tanztruppe und dem Chor. Es ist irgendwie eine Reise, die wir erleben hinter der Geschichte von Magda und Ruggero, eine Lebensreise. Ich bin ja seit dreissig Jahren unterwegs auf den Bühnen, ich will nicht sagen im world business, aber es passiert nicht so oft, dass ein Regisseur auf diese Weise Leben auf die Bühne bringt.» Von world business dürfte sie durchaus reden, sie singt, in New York lebend, an den grossen Häusern der Welt, und für Arte entstand sogar ein Film über sie und ihre Kolleginnen Barbara Hannigan und Asmik Grigorian, Fuoco sacro, eine Suche nach dem «heiligen Feuer des Gesangs».

Man könnte auch einfach von Wahrhaftigkeit sprechen, von der Identität von Leben und Kunst, die auf der Bühne gelingen kann, und keineswegs, sagt Ermonela, auf der Bühne allein: «Theater ist eine direkte Verbindung vom Herzen des Künstlers zu dem des Publikums. Verwundbar zu sein gehört auch dazu. Du kannst einem schönen Klang lauschen, fünf Minuten, zehn Minuten. Okay, schön, aber passiert da noch etwas? Die Menschheit existiert noch, weil es den Austausch von Gefühlen gibt, und Oper ist das in gross.» Ihre Stimme, ihre Mimik ändert sich bei diesen Worten, als stünde sie schon wieder auf der Bühne, überhaupt sind ihr schmales Gesicht, die Melodien und die Farben ihres Sprechens immer eins mit dem, was sie sagt. Mitunter könnte man sie fast ohne Worte verstehen – was auch im Getöse des Cafés sehr hilfreich ist. Dunkler und schattiger klingt sie, als sie von dem Erlebnis spricht, das sie überhaupt zur Oper brachte, La traviata im Tirana des Jahres 1988, als Ermonela vierzehn Jahre alt war, in der Dämmerung des kommunistischen Regimes, das Albanien vom Rest der Welt isoliert hatte. «Ich wusste nichts über diese Oper, es war meine erste. Da war etwas, das mich so sehr berührte. Violetta, das ist eine gefolterte Seele. Und wir, in Albanien geboren, haben all die Tragödien des Balkans im Blut. Kinder sind wie ein Schwamm, sie saugen alles auf. Es ist wie ein Archiv. Jeder Mensch hat das und weiss es nicht.» Das wurde ihr erst später klar. Damals erklärte sie dem älteren Bruder, mit dem sie in die Oper gegangen war: «Ich werde Opernsängerin, und ich werde nicht sterben, ohne einmal in meinem Leben Violetta gesungen zu haben.» Das wäre auch für ein Mädchen unter bequemeren Bedingungen eine kühne Ansage. Ermonela blieb ihr treu, studierte nach dem Zusammenbruch des Regimes Gesang am Konservatorium in Tirana und wurde dort von der Person entdeckt, ohne die es in kaum einer Sängerkarriere geht, die den entscheidenden Schritt ermöglicht. Katia Ricciarelli, italienische Sängerin, die einen Meisterkurs gab, lud sie nach Mantua ein. «Aber es war wirklich hart für mich, 1993 aus Albanien nach Italien zu kommen.» Zehntausende Albaner waren über das Meer nach Italien geflohen und dort nicht gerade willkommen, «und jeder dort sah mich an mit diesem Blick, obwohl ich dabei war, meinen Traum zu realisieren. Warum bin ich kein deutscher oder italienischer Teenager, fragte ich mich, warum muss ich leiden? Meine Therapie war es, zu singen.» Den Lebensunterhalt ihrer Ausbildung, zuerst in Mantua, dann in Rom, verdiente sie mit Babysitten und Gelegenheitsjobs. «Meinen Eltern habe ich immer gesagt, alles ist prima, ich wollte ihnen Sorgen ersparen. Sie hatten mir eine Erziehung gegeben und mich unterstützt, nun war es an mir, zu kämpfen. Wenn man aus Ländern mit solchen Schwierigkeiten wie Albanien kommt, ist das die positive Seite: Du siehst immer, wie du kämpfen musst, um dich durchzusetzen. Es gab auch Momente, in denen ich dachte, ich höre auf, jetzt reicht’s. Aber wenn ich zwei Tage lang nicht sang, merkte ich, das ist mehr als nur Karriere. Meine Seele braucht das. So machte ich weiter und weiter.» So lange, bis sie bei einem Wettbewerb auf einer Bühne ihre «Balkan side» ausspielen konnte, wie sie das nennt. Das ungefiltert Dramatische. «Ich bin auf der Bühne wie ein Tier, das aus dem Käfig kommt», sagt sie und lacht, «im Leben bin ich viel kontrollierter». Mit 26 Jahren hatte sie in Bologna ihr erstes professionelles Engagement als Mimì in La bohème, und von da an ging es so steil aufwärts, dass sie 2008 in London für die erkrankte Anna Netrebko einsprang und triumphierte – in der Rolle ihres frühen Traums, der Violetta. Es ist sozusagen die Rolle ihres Lebens, sie ist inzwischen 310-­mal in Alfredos Armen gestorben, «aber ich bin nicht immer dieselbe Person. Ich habe in mir bestimmte Seiten entdeckt, die ich mit zwanzig Jahren nicht kannte.» Als sie dachte, jetzt gäbe es für diese Rolle doch nichts mehr zu entdecken, nach ihrer Violetta an der MET im Januar, da brachte ein junger italienischer Dirigent sie auf neue Ideen, Francesco Ciampa vom Teatro Massimo in Palermo. «Ich fühlte mich, als hätte ich das noch nie gesungen! Aber jetzt werde ich mit Violetta aufhören.»

Was bleibt, ist die Erfahrung von Leiden, die sie zuerst in dieser Gestalt gebündelt fand. Ermenola ist überzeugt, dass sie vor allem deswegen etwas zu sagen hat auf der Bühne, weil sie selbst gelitten hat. «Für mich muss ein Künstler ein kleines Trauma haben. Wir lernen aus Schmerz, und Schmerz verbindet, aber das heisst nicht, dass der Künstler traurig sein muss.» Auf die Idee käme man bei ihr ohnehin nicht, so aprilhaft wechseln Wolken und Sonne in ihrem Gesicht, so witzig führt sie vor, warum schöner Klang auch mal auf der Strecke bleiben muss. «Wenn im Drama geweint wird, kann ich nicht sagen, oh, lasst uns das schön machen» – sie sagt das mit süss flötender Stimme und tut, als blicke sie verklärt. «Wenn du weinst, weinst du. Das ist keine Schande. Du musst es wagen, das Publikum mag das.» Ein Vorbild bis heute ist für sie Maria Callas, «weil sie so viel am Gefühl arbeitet. Natürlich musst du deine Hausaufgaben in der Technik machen, ohne die kann man nichts ausdrücken. Es geht darum, der Rolle, die du singst, die Farben der Seele zu geben. Und keine Angst haben, sich verletzlich zu zeigen.» Noch weniger Angst davor hat sie seit Covid. «Wir Künstler sahen, dass wir nicht mehr existierten. Du weisst nicht, was morgen passiert. Seitdem gehe ich immer auf die Bühne, als wäre es die letzte Aufführung, das ist eine Art Befreiung, und ich weiss dann, ich habe 100 Prozent gegeben, mit all meinen Stärken und Schwächen. Like it or dislike it, but it was honest.»

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 104, September 2023.
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Jeanine De Bique

Jeanine De Bique ist seit einigen Jahren unterwegs zur ganz grossen internationalen Opern-Karriere. Sie singt an renommierten Bühnen von Paris bis Wien und bei den Festspielen in Salzburg und Aix-en-Provence. Am Opernhaus Zürich gibt die Sopranistin aus Trinidad und Tobago nun ihr Hausdebüt: Sie ist die Königin Isabel in George Benjamins zeitgenössischer Oper «Lessons in Love and Violence»

«Können Sie mich verstehen?» Jeanine De Bique sitzt im Tram, auf dem Weg zur Probebühne. Es wird diesmal ein road movie, per Zoom und per WhatsApp, improvisiert und in geweiteter Perspektive, vom spätmittelalterlichen England des Ed­ward II. bis in die Karibik, die Insel Trinidad, auf der Jeanine gross wurde und sich wohl allerlei träumen liess, aber nicht, dass sie mal in einem Zürcher Tram in ein Smartphone blicken und über Isabel reden würde, die Gattin des schwulen Königs Edward, in deren Rolle sie sich für Lessons in Love and Violence gerade hineinarbeitet. «Ich weiss nicht, wie es ist, eine Königin zu sein,» meint sie, während Hausfassaden hinter der Scheibe vorbeiziehen, «ich weiss auch nicht, wie es ist, reich zu sein. Aber ich weiss, wie es ist, an etwas festzuhalten, woran ich sehr hart gearbeitet habe. Isabel hat viel zu verlieren, das ist für mich ein guter Ausgangspunkt, um in die Rolle ein­zutauchen.»

Und damit ist Jeanine eigentlich schon bei sich selbst, denn sie hat sehr viel erkämpft und gewonnen, seit sie und andere ihre Stimme entdeckten, auf jener Insel im karibischen Meer vor Venezuela, die nicht gerade zu den gängigen Startorten für Opernkarrieren zählt. Längst wird die Sopranistin hoch gehandelt, sie sang bei den Londoner Proms und in der New Yorker Carnegie Hall, wurde bei den Salzburger Festspielen als Annio in Mozarts Titus gefeiert und als Händels Alcina in der Pariser Oper, an die sie kürzlich als Susanna in Mozarts Le nozze di Figaro zurückkehrte. Das werden die Fahrgäste in der Tram kaum vermuten – sie sehen eine lässig gekleidete junge Frau, die so unbekümmert plaudert, als sässe sie mit mir in der Opernkantine, und mit gewissen Vorurteilen gegenüber der Karibik aufräumt, ehe sie überhaupt zum Vorschein kommen können. Zum Beispiel sei es nicht so, dass man dort nur dem Calypso fröne, dem synkopischen, tanzbaren Gesang, den sie natürlich auch beherrscht.

Sie ist, wie nicht wenige im Zweiinselstaat Trinidad und Tobago, als Christin mit dem anglikanischen Gesangbuch aufgewachsen, das die Briten, Kolonialherrscher bis 1958, mitbrachten, und in dem wiederum finden sich etliche Choräle von J.S.Bach. «Anfang dieses Monats sang ich meine erste Matthäuspassion, in Rotterdam, und fand da so viele Melodien, die ich schon als Baby kannte», sagt sie lachend, «nur mit ande­rem Text. In meinem Land gibt es so viel Musik, alles dreht sich darum, auch Chor­vereine sind eine grosse Sache.» Dazu kam, dass ihre alleinerziehende Mutter, eine Botanikerin, Gitarre und Klavier spielte. «Wenn man so von Musik umgeben ist, müssten eigentlich alle Musiker werden, aber die eine meiner Schwestern wurde Ärztin, die andere Physiotherapeutin». Inzwischen ist sie dem Tram entstiegen, macht sich singend mit ein paar improvisierten Calypsotakten Luft, lacht und gesteht, dass sie als Jugendliche keineswegs Opernarien hörte (ohnehin hielt sich der karibische Sender, der auch Klassik spielte, nicht lange), sondern am liebsten die Kassette mit Barbara Streisands Broadway Album von 1985, «ich wusste gar nicht, was Broadway ist, kannte aber alle Lieder und Texte.» Und sie lernte Klavierspielen, das war auch eine ihrer Berufsoptionen neben Psychologin und Rechtsanwältin. 

«Ich wusste nicht, was ich wollte – nur, dass ich die Pflicht hatte, sehr gut zu sein, wenigstens so gut wie möglich.» Derweil fiel beim Chorsingen ihre Stimme auf, sie sang auch solistisch, «vieles fiel mir leicht. Als ich sechzehn war, fragte mich die Gesangslehrerin an der Secondary School, ob ich nicht Privatstunden nehmen wollte, um an einem regionalen Wettbewerb teilzunehmen.» Sie hatte Erfolg. Was Oper ist, wusste sie da immer noch nicht richtig, aber Gesang sollte es sein, und für ein profes­sionelles Studium musste sie die Insel verlassen – gen Norden, zur Manhattan School of Music. Für den Flug, für die Unterkunft musste erstmal Geld gesammelt werden, und sie brauchte ein Visum, es war eine völlig neue Welt, in die sie da geriet.

«Und es war anfangs keineswegs glanzvoll. Ich war mit 20 Jahren zwei Jahre älter als meine Kommilitonen, und ich hatte einen Akzent – natürlich bin ich mit Englisch aufgewachsen, aber wir benutzen andere Worte, und in New York klingt es wie ein Dialekt.» Hilda Harris wurde ihre Gesangslehrerin, eine afrikanisch­-amerika­nische Mezzosopranistin, und es war der Klavierbegleiter und Korrepetitor Warren Jones, der ihr zu ihrem ersten schulinternen Bühnenauftritt verhalf – eine Nebenrolle in Bernsteins Einakter Trouble in Tahiti – und ihre Liebe zu den Liedern Hugo Wolfs entflammte. Und Renée Fleming war es, der sie ihr allererstes Live-Opernerlebnis verdankte, mit 21 Jahren: Fleming gab 2007 ihr Rollendebüt als Violetta in La traviata an der MET.

Nun hat Jeanine die Probebühne in Zürich erreicht, meine Zoomverbindung bricht zusammen, macht nichts, wir wechseln zu WhatsApp, jetzt wird ihr Akku knapp, macht auch nichts. «This is hooorrible», singt sie fröhlich, dann höre ich sie zu einem Kollegen sagen: «Hast du ein Ladegerät?» Das passt alles ganz gut zu ihrem Leben im Transit, voller Übergänge und Ungewissheiten, aber auch voller Fäden, die nicht verloren werden, sondern neu verknüpft. Renée Fleming zum Beispiel hat später ihre junge Kollegin beraten, als die sich auf ihre Pariser Alcina vorbereitete. Aber an solche Engagements dachte Jeanine De Bique noch gar nicht, als sie 2008 einen ersten Preis bei den Young Concert Artists International Auditions errang und sich auf eine Karriere als Konzertsängerin einstellte. Bis das Theater Basel, auf Talent­suche in New York, sie nach einem Vorsingen einlud, für ein Jahr an der Nachwuchs­förderung in Basel teilzunehmen. Mit Auftritten natürlich – zum Beispiel in Christoph Marthalers morbider Inszenierung der Grossherzogin von Gerolstein im Jahr 2010. 

Es folgte ein Jahr Wien, und es folgte immer mehr. Kopenhagen, Montpellier… So schön das ist, kann es einen nicht auch aus der Kurve tragen? Überwältigen? Sie denkt nach. «Seit Basel hatte ich einen Agenten, mit dem ich planen konnte, der mein Guide wurde… War es überwältigend? Es war auch aufregend, und es konnte auch extrem einsam sein. Aber wirklich einsam ist man nie, es gibt so viel zu entdecken. In New York habe ich gelernt, mit allem Unvertrauten klarzukommen. Ich weiss aber noch, wie ich mich in Basel gefreut habe, ein Starbucks zu finden, das war vertraut. Und dann konnte ich mir die hot chocolate dort nicht leisten! Das war zum Weinen. Aber seitdem ist mein Leben epically different geworden», sie lacht wieder. «Als ich in Wien war, im Young Artist Program, hatte ich ein vision board, so eine Liste mit Zielen. Darauf stand: ‹Ich werde in der Oper Zürich auftreten›. Da bin ich nun. Das ist ein Wunder. Aber ob ich angekommen bin? I’m a solo female black traveller…»

Die Probe geht los, in der Pause meldet sie sich wieder. Ich möchte wissen, ob es sich in verschiedenen Ländern unterschiedlich anfühlt, ein solo female black tra­veller zu sein. «Ich würde sagen, man muss überall die ganze Zeit aware and alert sein, bewusst und wachsam. Es gibt noch viel Arbeit zu tun in der Gesellschaft, auch wenn Fortschritte da sind. Leontine Price ist eine, die ich bewundere. Sie und andere African American stars wurden gross in einer Epoche, die sehr schwierig war. Sie haben für uns den Weg gebahnt als schwarze Sänger. Und ich wiederum erreiche über die social networks Leute, die nicht die Möglichkeit haben, in die Oper zu gehen, die gar keine Ahnung von Oper haben, aber die berührt sind von dem, was ich ma­che.» Ihr folgen auf Instagram fast 30’000 Fans. «Sie können sich identifizieren mit einer, die aussieht wie ich. Das ist mir wichtiger als das grösste Opernhaus.»

Von welcher Rolle träumt sie? Aus dem Pausentrubel hat sich Jeanine in ein schattiges Zimmer zurückgezogen, auf dem Bildschirm kann ich ihr Gesicht fast nur noch in Umrissen sehen, als sie mit gedämpfter Stimme sagt: «Desdemona.» Die  traditionellerweise weisse Frau, die der traditionellerweise schwarze Otello aus Eifer­sucht erwürgt. Bei Jeanine De Bique könnte es sein, dass das mal ganz anders endet. «Ich will positive Änderungen bewirken mit allem, was ich tue.»

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 102, Mai 2023.
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Siena Licht Miller

Siena Licht Miller singt in der Neuproduktion von Händels «Serse» die Titelrolle. Die deutsch-amerikanische Mezzosopranistin war 2020/21 Mitglied des Internationalen Opernstudios in Zürich und gehört seit dieser Spielzeit zum Ensemble des Opernhauses Zürich. Sie war hier u.a. in «L’italiana in Algeri», «Monteverdi», «Das Rheingold» (Flosshilde), «Barkouf», «Salome», «Anna Karenina» und «Lakmé» zu hören.

Sie kniet da und beschmiert sich mit Farbe. Mit schwarzer. Das weisse Gewand, den  Körper, die blonden Haare, komplett. Oder anders gesagt, er tut das, Serse, Xerxes,  Händels verzweifelter, schier wahnsinniger Perserkönig in seiner letzten Arie «Crude furie degli orridi abissi», 1738 für einen Kastraten geschrieben. Jetzt ohne Ton, im Smartphone. Es ist nicht gerade die Sorte Video, die man sich sonst neben dem Capuccinobecher bei Starbucks anschaut. «Das haben wir gestern gedreht», sagt Siena Licht Miller, nun ohne Farbe im Haar und nicht im Geringsten verzweifelt. «Es muss hinterher eine Menge Duschwasser gekostet haben», meine ich. «Yes, it did...» Sie lacht. Die 28-jährige Mezzosopranistin ist an Extreme gewöhnt und an Sprünge zwischen den Bühnenwelten. Noch vor einer halben Stunde stand sie im Probensaal am Kreuzplatz neben Sabine Devieilhe und sang mit ihr das weltberühmte Blumenduett aus Lakmé.

Siena, neuerdings fest im Ensemble der Oper Zürich, wird hier praktisch für jeden Stil besetzt, von Monteverdi bis Verdi, von Rossini bis Wagner, von Offenbach bis Strauss. Eine hochgewachsene, heitere Frau, die nach zwei Minuten das «Sie» über Bord wirft und darum bittet, «Denglisch» sprechen zu dürfen. Deutsch ist zwar, im wahrsten Sinn, ihre Muttersprache, aber im Amerikanischen fühlt sie sich eher zu Hause. Sie kam in Portland zu Welt, im US-Bundesstaat Oregon an der Pazifikküste, wohin ihre deutsche Mutter mit 25 Jahren zog. «Die Eltern meiner Mutter haben ein Haus in der Toscana, in der Nähe von Siena, und mein Vater ist zur Hälfte Italiener, also waren wir früher jeden Sommer dort. Mein Name repräsentiert alles, was ich bin.» Sie lacht. Und der Vorname «Licht» passt schon auf den ersten Blick.

Er könnte auch für das stehen, was ihr Zürich bedeutet – ein Anruf von hier erwies sich vor drei Jahren als Rettung ihrer Sängerlaufbahn. Da befand sich Siena in Portland und sah zu, wie alles dichtmachte, eine amerikanische Opernbühne nach der anderen. Bühnen, von denen es ohnehin nicht sehr viele gibt und die, weitgehend auf private Förderer angewiesen, keine ihrer Musikerinnen und Sänger vor dem Abgrund schützen konnten, der sich durch «the pandemic» auftat. Für viele wurde Covid der Sargnagel einer ohnehin prekären Existenz. Aber diese junge Sängerin hatte etwas in der Tasche, was für ihre künstlerische Zukunft ähnlich wichtig war wie ein Visum für Emigranten – einen Vertrag mit dem Opernstudio in Zürich. 

«Im Januar 2020 kurz vor Covid», sagt sie, «kam ein Anruf aus Zürich, sie suchten jemanden für das Opernstudio. Ich hatte Jahre zuvor an einem Vorsingen im Curtis Institute in Philadelphia teilgenommen für einen Platz in Zürich, jetzt sollte ich hinfliegen und noch einmal vorsingen. Aber ich kam nicht weg und schickte stattdessen ein Video.» Sie wählte eine Arie des Nicklausse aus Hoffmanns Erzäh­lungen. «Ich bekam den Job und musste alles absagen, was ich in Amerika hatte. Aber etwas in mir sagte, du musst gehen. And then the world shut down. And thank God I came to Zürich. Ich weiss nicht, ob ich sonst noch singen würde.» Es entbehre nicht der Ironie, sagt sie, dass gerade Offenbachs «Geigenarie» ihr den Weg nach Europa öffnete. Eine Arie, in der Nicklausse den Klang der Violine, die dazu spielt, mit dem Liebesschmerz vergleicht, über den dieser Klang auch hinwegtrösten kann.

Denn Geigerin ist Siena selbst einmal gewesen. Sie hat das gleich zu Beginn des Gesprächs erzählt, als wolle und müsse sie es hinter sich bringen. Die Tochter eines Osteopathen und einer Psychotherapeutin wollte schon mit fünf Jahren unbedingt Geige spielen, und es erwies sich, dass sie neben viel Talent auch ein aussergewöhnliches Gedächtnis hatte. «Ich konnte kaum Noten lesen, aber nach einmaligem Hören einen 20 Minuten langen Konzertsatz von Mozart nachspielen.» Was sie ausserdem liebte,war Skifahren in den Bergen Oregons. Mit 15 Jahren hatte sie einen Skiunfall, bei dem sie den grösseren Teil ihres Gedächtnisses verlor, dazu die Reflexe für die Feinmotorik. «Nur mein musikalisches Gedächtnis war komplett intakt. Ich konnte mir nicht merken, was man mir gerade gesagt hatte, aber ich konnte mir ein 40 Minuten langes Stück Musik aufrufen.»

Der Neurologe Oliver Sacks hat in seinem Buch Der einarmige Pianist beschrieben, wie so etwas zustande kommt. Musikalische Strukturen werden jenseits des episodischen Gedächtnisses verarbeitet, eine grosse Rolle spielt dabei das geschützt liegende Kleinhirn, entwicklungsgeschichtlich uralt. Sacks erzählt, wie die gespeicherte Musik zum Seil werden kann, an dem Patienten aus dem Abgrund von Vergessen hochklettern können. Bei Siena ist das besonders gut gegangen. «Ich sang, zuerst mehr als Teil der Therapie, das war heilsam. Ich fühlte mich dadurch mit allem mehr verbunden und auch intelligent. Meine Intelligenz stellte ich nämlich sehr in Frage.» 

Auch wenn sich nach und nach der Rest des Gedächtnisses wieder einfand, «Geige konnte ich nicht mehr so spielen, wie ich das wollte. Und ich erinnere mich, dass, als ich singen zu lernen begann, die Reaktion der Leute voller Freude war. A powerful feeling. Und dann blieb ich kühn genug, um immer mehr zu erkunden.» Mit 18 Jahren begann Siena Gesang zu studieren, am Oberlin Conservatory im Bundesstaat Ohio, Psychologie und deutsche Literatur kamen dazu. Mit 21 wechselte sie ans elitäre Curtis Institute of Music in Philadelphia an der Ostküste, wo nur 2 Prozent aller Bewerber Studienplätze bekommen. Um ihr Stimmfach machte sie sich nicht viele Gedanken. «Ja, ich bin Mezzo, aber ich sehe mich lieber als Siena, die guckt, was zu ihrer Stimme passt. Ich identifiziere mich mit dem speziellen Mezzo-Temperament. Wir haben diesen üppigen Unterton wie die Viola, mein Lieblingsinstrument. Und wir müssen alles sein können, ein troublemaker, ein Junge. Die Charaktere, die ich spiele, geben mir die Möglichkeit, Gefühle auszudrücken, die ich sonst für mich behielte. Weil ich von der Geige kam, war da anfangs auch eine differierende Identität, ich sah mich nicht immer als Sängerin. Das hat Peter Sellars sehr gut verstanden, bei ihm fühlte ich zum ersten Mal, es ist Platz für mich in der Welt der Oper.»

Mit Regisseur Sellars gestaltete sie 2019 in Santa Fe als Einspringerin die Kitty Oppenheimer in John Adams’ Doctor Atomic. «Es ging bei den Proben auch um das Aufeinanderzugehen, die Energie in der Gruppe. Musiker sind so empfindlich, über so etwas sprechen wir nicht genug. Es gibt eine Intimität im Probenraum, und die besten Regisseurinnen und Dirigenten nehmen das sehr ernst.» Zu denen gehört für Siena auch Nina Russi, die Regisseurin von Serse. «Alles muss menschlich sein bei ihr, ehrlich und echt. Es ist wirklich kathartisch, wenn wir arbeiten, weil es so ehrlich ist, und das ist anstrengend! Aber wenn du aufrichtig bist, verstehen die Zuschauer alles, ohne irgendetwas über das Stück wissen zu müssen. Manchmal wünschte ich, ich wüsste selbst gar nichts über diese Kunstform, sässe nur im Publikum und beobachtete meine Reaktion im Innersten, ohne all das wie singen sie?» 

Eine der wichtigsten Quellen für ihre Arbeit ist die Natur, «für mich besonders die Berge. Ich kann ohne Berge gar nicht singen», sagt sie. «Es ist schwer zu erklären, aber die Berge und die Musik haben eine Menge gemeinsam. Wir gehen da hinein auf der Suche, um uns selbst besser zu verstehen, und werden konfrontiert mit den grössten Freuden und den tiefsten Sorgen. Die Berge haben mich in meinem Schlimmsten und in meinem Besten gesehen, und dasselbe ist es mit der Musik. Wenn ich in den Bergen war und in der Stille gelebt und diese Luft geatmet habe, ist da eine Ruhe in mir, in der ich wieder bereit bin für Musik. Manchmal verfolgen mich auch Reste einer Bühnengestalt zu sehr, mit der ich mich verbunden habe. Die werde ich in den Bergen wieder los.» 

Wird irgendwann auch der Perserkönig dazugehören? «To connect with Serse, das war nicht immer leicht. Aber er beginnt die Oper, indem er einen Baum besingt: Ombra mai fu. Ich glaube, die Natur findet mich immer!»

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 101, April 2023.
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Wei Chen

Wei Chen stammt aus den USA. Nach einem Engagement beim Royal Ballet of Flanders ist er seit 2013 Mitglied des Balletts Zürich und war hier in verschiedensten Rollen zu sehen. In Cathy Marstons Ballett «The Cellist» verkörpert er das Cello von Jacqueline du Pré.

Aus welcher Welt kommst du gerade?
Das Ballett beansprucht den grössten Teil meiner Zeit. Den anderen Teil verbringe ich in einer völlig anderen Welt, die ich mit den Augen meiner kleinen Tochter zu sehen versuche. Meine Frau Mélissa tanzt ebenfalls am Opernhaus. Gemeinsam jonglieren wir ständig mit den Bedürfnissen dieser zwei Welten, die beide absoluten Einsatz und Konzentration erfordern. 

Was macht das Ballett Zürich für dich so besonders?
Trotz der vielen unterschiedlichen Charaktere innerhalb unseres Ensembles finden wir uns immer wieder in dem gemeinsamen Bemühen, das Beste aus unserer Kunst herauszuholen. Das schweisst uns zusammen, und nur so ist es möglich, das sehr weit gespannte Repertoire des Balletts Zürich in höchster Qualität zu präsentieren.

Worauf freust du dich in Cathy Mars­tons Ballett The Cellist?
Zum ersten Mal werde ich ein Instrument verkörpern! Das ist eine sehr vielfältige Aufgabe. Zum einen steht dieser Cello-Tänzer wirklich für das Instrument, aber er steht auch für ein Talent, das darauf wartet, entdeckt zu werden. Er verkörpert die Liebe zur Musik, wird zum Zufluchtsort in schwierigen Situationen und symbolisiert die Erinnerung an die grosse Cellistin Jacqueline du Pré.

Welches Bildungserlebnis hat dich besonders geprägt?
Nach Abschluss meiner Tanzausbildung war es nicht einfach, ein Engagement zu finden. Beim Juniorballett des Houston Ballet entdeckte ich dann, wie bewegend Kunst sein kann. Dort habe ich gelernt, dass Talent sich für wahre Kunst immer mit Leidenschaft verbinden muss.

Welches Buch würdest du niemals aus der Hand geben?
Ein Buch, das ich von meiner Schwester bekommen habe: Tuesdays with Morrie von Mitch Albom. Es sind die Memoiren eines erfolgreichen Sportjournalisten, der seinen ehemaligen Soziologieprofessor wiedertrifft, als bei ihm ALS diagnostiziert wird. Morrie hält seinem einstigen Studenten eine letzte Vorlesung über das Leben. Es ist ein hoffnungsvoll stimmendes Buch mit einer grossartigen Perspektive.

Welche Musik kannst du immer wieder hören?
Ein Album, das ich immer wieder höre, ist Hush von dem einzigartigen Vokalkünstler Bobby McFerrin und dem Cellisten Yo-Yo Ma. Obwohl beide einen ganz unterschiedlichen Background haben, gelingt ihnen gemeinsam eine geistreiche und humorvolle Sicht auf die klassische Musik.

Mit welchem Künstler würdest du gern essen gehen?
Im Grunde mit jedem Künstler, der eine leidenschaftliche Botschaft zu vermitteln hat.

Wie wird die Welt in 100 Jahren aus­sehen?
Ich würde mir wünschen, dass die Welt bis dahin einige ihrer brennendsten aktuellen Probleme überwunden haben wird. Dass Menschen mit anderen Ansichten nicht vorverurteilt werden, sondern empathische Gespräche führen können und sich endlich besser verstehen. Wir werden die Dinge niemals alle auf die gleiche Weise sehen, aber vielleicht gelingt es uns irgendwann, eine andere als die eigene Meinung gelten zu lassen. 


Dieser Artikel ist erschienen in MAG 101, April 2023.
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Svetlina Stoyanova

Svetlina Stoyanova war bisher u.a. als Rosina und Cherubino an der Wiener Staatsoper und an der Mailänder Scala sowie als Ruggiero («Alcina») beim Glyndebourne Festival zu erleben. Am Opernhaus Zürich sang sie zuletzt Lola in «Cavalleria rusticana».

Aus welcher Welt kommen Sie gerade?
Aus der Welt von Rossini. Ich habe ge­rade Cenerentola in Riga gesungen. Aber noch lieber erzähle ich eigentlich, dass ich mir gerade Urlaub in Thai­land gegönnt habe. Davor bin ich non­stop in verschiedenen Städten aufge­treten. Eine Pause war wirklich nötig!

Worauf freuen Sie sich in der Neu­produktion von Roméo et Juliette?
Es ist meine erste Oper von Gounod, und ich freue mich sehr, ein Stück auf Französisch zu singen. Das habe ich noch nicht oft gemacht, obwohl das französische Repertoire eigentlich gut zu meiner Stimme passt. Und ich liebe Hosenrollen! Stéphano ist eine tolle Erweiterung des Repertoires.

Wer ist Stéphano?
Stéphano ist ein Junge, der gut mit Roméo befreundet ist. Er gehört zu den Montagues. In seiner Arie im dritten Akt spürt man, dass er sich ein bisschen betrogen fühlt, als Roméo ihm keine Beachtung schenkt und nur noch Augen für Juliette hat. Aber er ist auch neu­gierig, was zwischen Roméo und Juliette wohl passiert. Er will später auch mal verliebt sein. Ausserdem ist er ein hor­mongesteuerter «Troublemaker», der stark von den aggressiven Männern geprägt ist, die ihn umgeben. Er trinkt auch schon als Minderjähriger …

Welches Bildungserlebnis hat Sie be­sonders geprägt?
Ich komme aus einer Familie, die eher mit Wissenschaft als mit Kunst ver­traut ist. Das Studium in Schottland war für mich eine Reise in eine ganz neue Welt. Am meisten musste ich wohl lernen, mehr Mut und Selbstvertrauen zu haben. Einmal habe ich im Unter­
richt die Arie «Una voce poco fa» gesungen und den letzten Ton nicht hingekriegt. Meine Lehrerin hat gesagt: Ok, dann werden sie beim Casting einfach den nächsten Mezzosopranen­ gagieren. «Well…», im nächsten Unter­richt habe ich das hohe B gesungen!

Welches Buch würden Sie niemals aus der Hand geben?
Ich lese viel über Astronomie. Meine Grossmutter ist Physikerin. Sie hat mir die Faszination für Sterne, das Uni­versum und Schwarze Löcher vererbt.

Welche Persönlichkeit würden Sie gerne einen Tag lang sein und warum?
Da kann ich gleich an die letzte Frage anschliessen: eine Astronautin! Ich habe den grossen Traum, meine beiden Leidenschaften, die Musik und die Astronomie zu kombinieren und ein Live-­Konzert im Weltraum zu geben. Die Vorstellung, im schwerelosen Raum zu singen, fasziniert mich einfach …

Woran merkt man, dass Sie Bulgarin sind?
Wahrscheinlich an meinem Namen. Es gibt in Bulgarien drei Sänger:innen mit diesem Namen: Krassimira Stoya­nova, Vladimir Stoyanov und mich. Wir sind sozusagen eine «Namensfamilie», aber überhaut nicht miteinander ver­wandt! Mit Krassimira habe ich an der Scala schon in Ariadne auf Naxos auf der Bühne gestanden. Ich hoffe, dass wir irgendwann auch zu dritt auftreten!

Wie wird die Welt in 100 Jahren aus­sehen?
Vielleicht haben wir bis dann eine Kolo­nie auf dem Mars… Nein, eigentlich bin ich besorgt: Wenn wir Menschen noch ein Prozent egoistischer werden, dann sehe ich ziemlich schwarz für die Zu­kunft. Wir müssen einfach freundlicher zueinander sein – und zu uns selbst auch.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 100, April 2023.
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Camilla Nylund

Camilla Nylund gehört zu den international gefragtesten lyrisch-dramatischen Sopranistinnen und debütierte in Zürich im «Ring des Nibelungen» als Brünnhilde. Bei den Bayreuther Festspielen sang sie Elisabeth, Elsa, Sieglinde und Eva, in Zürich ist sie im November erneut als Senta zu erleben.

Sie war fünfzehn, als sie ihre erste grosse Reise machte, nach Rom zu einem Meister­kurs für Sänger. Dazu musste sie erstmal ein Schiff nach Stockholm besteigen, knapp 500 Kilometer südwestlich ihrer finnischen Heimatstadt Vaasa. «Meine Gesangsleh­rerin ist auch mitgefahren und ein paar ältere Mädchen», sagt Camilla Nylund, «aber es gab keine Handys.» 1983 war das. «Dass meine Eltern keine Angst hatten, mich da losziehen zu lassen! Meine Mutter hat dann in der Pension in Rom angerufen und wollte wissen, wie es mir geht, und die Wirtin hat abgenommen und pronto, pronto gesagt, und meine Mutter fragte sich, was sie damit meint, bråttom, bråttom? Das heisst auf Schwedisch schnell.»

Diese Reise ist der Schlüssel zu vielem, was Camilla Nylund bei unserem Treffen erzählt, rund um ihre Arbeit an der Brünnhilde im Zürcher Siegfried und an der Katerina Ismailowa in der Hamburger Lady Macbeth von Mzensk. Wir sitzen in der Wohnung ihrer Hamburger Freundin, deren grosse Gemälde uns umgeben. Jetzt wallen ihre blonden Haare ungebunden, abends werden sie für Katerina wieder streng hochgesteckt. Auf der Bühne der Oper Hamburg macht sie die lebenshungrige Ehe­frau, die zur Mörderin wird, derartig glaubhaft, so stark, flexibel, leuchtend, nuanciert im Gesang, so präsent in der ganzen Gestalt, dass man in keiner Sekunde über das Alter der Darstellerin nachgrübelt. Und über ihr Russisch ebenso wenig. Sie selbst aber schon. «Ich könnte viel Zeit damit verbringen, das zu perfektionieren», meint sie. «Ich kann kyrillisch nicht lesen, ich habe den Text der Oper im Klavierauszug mit Lautschrift gelernt und das natürlich mit einer Russin durchgesprochen. Es hat aber gut funktioniert, wahrscheinlich auch dadurch, dass ich eine Finnlandschwedin bin. Das Slawische liegt mir.» Sie kommt aus der schwedischsprachigen Minderheit am Küstenstreifen entlang des Österbotten, St. Petersburg ist von der Hafenstadt Vaasa kaum weiter entfernt als Stockholm, und in so einer Lage wird das «Sprachohr» gut geschärft, das eine so vielseitige Sängerin braucht.

Camilla Nylund wusste ziemlich früh, dass sie Sängerin werden wollte. Aufge­wachsen im Dorf Kvevlax östlich von Vaasa, Tochter eines Technikers und einer Krankenschwester, sang sie gern, wie ihre Eltern. Es gab eine Musikschule dort, staatlich finanziert, «jeder konnte sich das leisten». Sie lernte Blockflöte, Querflöte, Klavier, sang im Chor, sie wollte «überall dabei sein». Mit vierzehn bekam sie in Vaasa klassischen Gesangsunterricht, mit fünfzehn stand sie erstmals als Solistin auf der Bühne. Ein Musiklehrer des Gymnasiums hatte für das Musical Jesus Christ Superstar alle verfügbaren Kräfte vereint, Camilla durfte die Maria Magdalena singen, auf schwedisch. «Ein unglaubliches Erlebnis mit Kostüm und Maske und Orchester, ein Riesenerfolg.»

Die Reise nach Rom im selben Alter gab ihr zusätzlichen Rückenwind. «Es war unglaublich heiss und eine fantastische Woche. Ich hatte danach nie mehr Angst vor etwas Neuem. Ich musste mich ja zurechtfinden in der Welt, und das hat mir in diesem Beruf viel geholfen. Ich habe immer gedacht, ich muss es irgendwie schaffen.» Dass und wie sie es geschafft hat in eine internationale Karriere, macht sie vielleicht erst recht sensibel für die Hürden, an denen eine so starke und lebensfrohe Frau wie Katerina Ismailowa in Schostakowitschs Oper scheitert. «Sie ist kein Monster. Es sind die Umstände, die sie zur Mörderin machen. Wenn man in so einer schrecklichen Umgebung lebt… Es ist ein total aktuelles Stück, denn die Situation, der Machtan­spruch von Männern, hat sich für viele Frauen nicht verändert.» Darum ist sie froh, dass eine Frau das Stück inszeniert hat, die Filmemacherin Angelina Nikonova. Nylund, die mit ihrem Mann in Dresden lebt und dort die beiden Töchter grosszog, wurde von Anfang an ermutigt. Es gab auch glückliche Fügungen, und eine davon veranlasst sie zu glauben, «dass es höhere Mächte gibt, die etwas für uns regeln.» Als sie sich am Salzburger Mozarteum um einen Studienplatz bewarb, «da hätte so viel schiefgehen können. Und da gab es eine Lehrerin, die an mich geglaubt hat. Ich wusste nicht, wie man einen Ton stützt und einen hohen Jubelton singt. Éva Illés hat zu mir gesagt, ‹Sie kamen auf die Bühne und hatten eine Ausstrahlung›.» Eine schwierige Lehrerin sei sie gewesen, aber sie legte die technische Basis.

In Salzburg und dann beim ersten festen Engagement in Hannover, dem eines in Dresden folgte, wurde Deutsch für Camilla Nylund zur zweiten Muttersprache, und bald auch zur ersten Bühnensprache. Denn Rollen in den Opern von Richard Strauss und Richard Wagner hat sie besonders oft gesungen. Als Salome steht sie seit bald zwanzig Jahren auf den Bühnen, als Elisabeth im Tannhäuser fast schon ebenso lange, «im Ring habe ich alle Partien gesungen, die man singen kann. Woglinde, Freia, Gutrune, Sieglinde…» Dass allerdings noch Brünnhilde dazukommen könnte, hat sie sich bis vor fünf Jahren nicht träumen lassen. Brünnhilde, ein Achttausender für Sängerinnen! «Als Andreas Homoki mir das anbot, habe ich ihn zuerst für verrückt erklärt und dann gedacht, ich habe doch oft verrückte Sachen gemacht und vieles gewagt. Zürich ist nicht so ein riesengrosses Haus, und in eine Neuproduktion kann ich mich reinknien. Durch meine Kontinuität, durch die Arbeit an so verschiedenen Partien kann meine Stimme das mitmachen. Ich habe ein Fundament, auf dem ich stehen kann, das ist, wie wenn man ein Haus baut. Ich habe keine hochdramatische Stimme, sondern mache das mit meinen Mitteln. Es gibt verschiedene Techniken, wie man die Stimme über das grosse Orchester projiziert. Eine bombensichere Technik habe ich bei Irmgard Boas gelernt.»

Diese jetzt 90 Jahre alte Lehrerin lernte Nylund 2003 in Dresden kennen, und es ist dieselbe Zaubermeisterin, der auch Klaus Florian Vogt vertraut. Er singt in Zürich seinen ersten Siegfried an Nylunds Seite, die ihm schon ein Ring­-Stück voraus ist. In der Walküre ist Brünnhilde von der Göttin zum Menschen gemacht worden, jetzt, in Siegfried, «wacht sie auf, hat Siegfried vor sich und weiss gar nicht, was das Menschsein bedeutet. Er spricht von Liebe, aber er kennt die Liebe auch nicht. Da ist die Verzweiflung von Brünnhilde, die versucht zu erklären, woher sie kommt, was sie für eine Frau ist, und er versteht überhaupt nichts. Das ist interessant, typisch Mann und Frau. Spannend, auch wenn dieser Text so kompliziert ist.»

Solche Menschlichkeiten sind es, die sie interessieren, «ich bevorzuge auch grosse Rollen, weil ich die einen ganzen Abend lang entwickeln kann.» Und natürlich in den Proben. «Es ist toll, wie Homoki diese Figuren sieht. Wir kamen auch mal an einen Punkt, wo wir merkten, nein, so kann die Person nicht sein. Wir entwickeln das dann zusammen. Was ich sage, was ich tue, da muss ich wirklich dahinterstehen.» Und nun steht sie zeitgleich hinter zwei sehr verschiedenen Gestalten, Brünnhilde und Katerina, beides neue Rollen, wie hält sie das aus? «Das war natürlich ein Wahnsinn, gleich nach der Premiere in Hamburg mit Brünnhilde in Zürich anzufangen, und deren Partie habe ich gelernt, während ich Proben mit Katerina hatte. Aber es ging halt nicht anders.» Es ging nicht anders, weil Siegfried schon fest stand und die Lady Macbeth sie «irrsinnig gereizt» hat, auch wenn Nylunds Ehemann, ebenfalls Sänger, meinte: «Das ist zuviel für dich.» Es geht, aber andere würden durchdrehen. «Ich ruhe in mir», sagt sie schlicht. Und dann erzählt sie noch etwas von früher und von jetzt. Sie wollte nach dem Abitur in Helsinki Gesang studieren, an der Sibelius­ Akademie. Abgelehnt. «Da hat man nicht an mich geglaubt. Ja, eine gute Stimme, aber nicht gut genug. Ich hab’ da nie studiert. Und gestern hatte ich ein Gespräch mit dem Leiter der Opernausbildung dieser Akademie. Ich gebe im November den Meisterkurs.» Sie lacht sehr froh. «So kann’s gehen.» 

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 99, März 2023.
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Dmitry Sinkovsky

Dmitry Sinkovsky leitete zahlreiche Ensembles, u.a. Il Giardino Armonico, Il Complesso Barocco, Il Pomo D’Oro, Musica Petropolitana und Acca­demia Bizantina, das belgische Ensemble B’Rock sowie das Helsinki Baroque Orchestra. Weitere Orchester, die er musikalisch geleitet hat, sind u.a. MusicAeterna, Musica Viva und jüngst das Orchester des Mariin­ski Theaters. Seit 2022 ist er Chefdirigent der Nizhny Novgorod Oper in Russland.

Wir sitzen neben einem Wald von schwarzen Notenständern auf der ansonsten leeren Probebühne. Arbeitslicht, Stille – puristischer geht es kaum. Auf ein Pult hat Dmitry Sinkovsky, ein kräftiger 42-Jähriger, der die Haare hinterm Kopf zum Knoten geschnürt trägt, seine dicke Partitur gestellt, ein anderes Pult habe ich mir in die Waagrechte gebogen, als Tischchen für den Kaffee. Der ist dringend nötig. Wie sich herausstellt, hat auch der Dirigent nur vier Stunden Schlaf gehabt, allerdings nicht wegen einer Zugverbindung. Er hat bis spät in die Nacht noch Wortbedeutungen im italienischen Libretto recherchiert. Was die Protagonisten in Francesco Cavallis früher Barockoper Eliogabalo singen, ist nämlich selten ohne Hintersinn... 
Aber jetzt möchte ich erstmal wissen, ob er, der diese Oper musikalisch leitet, auch Geige spielen wird. Denn vor ein paar Minuten, als ein paar Schritte weiter auf der anderen Probebühne die heutige Arbeit mit den Sängerinnen und Sängern und dem Regisseur Calixto Bieito endete, hat Sinkovsky noch fröhlich ein paar Akkorde angestrichen. Sein Barockinstrument hat er immer dabei. Besser gesagt, beide Instrumente, denn Countertenor ist er ja auch. «Auf jeden Fall spiele ich», meint er, «zusammen mit Luca Pianca an der Laute. Das müssen wir machen, denn diese Musik fordert viel Improvisation. Calixto möchte auch, dass ich an einigen Stellen singe, aber das lassen wir noch offen.» Er lacht. «Keiner weiss, was in einer Woche passiert. Die Proben sind ein permanenter Prozess.»
Sicher ist nur, dass, wenn Dmitry Sinkovsky spielt oder singt, er sich auf demselben hochprofessionellen Level bewegen wird wie die anderen Akteure auch. Das Label Glossa hat ihn als Interpreten von Beethovens Violinkonzert ebenso im Programm wie mit einer CD, auf der er Lieder von Sergej Akhunov singt, geschrieben für seine Stimme und die historischen Instrumente seines Ensembles «La Voce Strumentale». Bei Naïve erschien eine CD, auf der er Vivaldis Vier Jahreszeiten spielt und dazu noch eine Arie des Venezianers singt, fast unnötig zu sagen, dass er das Ganze auch dirigiert. Inzwischen dirigiert er auch Opern von Rossini, Verdi, Tschaikowski. Auch dazu kommen wir noch…
Was er derzeit an der Oper Zürich macht, ist Neuland für Sinkovsky – eine Oper aus dem Jahr 1667. «Das Früheste, was ich je spielte, sang, dirigierte», sagt er, auf  Englisch, denn sein Deutsch findet er nicht so gut wie sein Italienisch, Serbokroatisch, Französisch und, natürlich, Russisch. «Aber Dirigieren ist bei dieser Musik nicht das Dominierende, auch wenn ich natürlich Einsätze gebe. Ich bin eher der, der es zusammensetzt, Instrumente aussucht, kürzt. Wenn man nicht kürzt, dauert Eliogabalo dreieinhalb Stunden, es sollen aber nur etwas mehr als zwei werden. Die Rezitative sind sehr, sehr lang, manchmal endlos, es wird oft dasselbe auf immer neue Weise erzählt. Das ist leichter zu kürzen als Monteverdi, den man eigentlich gar nicht kürzen kann. Aber man muss aufpassen, kein wichtiges Material dabei zu verlieren. Es gibt unglaubliche Momente in dieser Oper, die sind… wow, echte Meisterstücke.»Was es nicht gibt, ist eine Instrumentierung. Es gibt Instrumentalstimmen, «die kann man besetzen, wie man will. Ich will so viele Farben wie möglich. Zinken, Flöten, Dulzian, Posaune, Harfe, drei Theorben, Laute, Lirone, Cembalo, Orgel… Jede Person bekommt ihre musikalische Identität, ihr Instrument.» Das ist schon deswegen hilfreich, weil Cavalli ein dichtes Netz machtpolitischer wie sexueller Intrigen zwischen zehn Männern und Frauen komponiert hat, an der Spitze der grössenwahnsinnige Kaiser, der eigentlich alle Frauen beansprucht und vor Gewalt nicht zurückschreckt, aber natürlich trotzdem wunderschön singen darf, wie es mir Sinkovsky nun demonstriert. «Oh che vaghi candori…» 
Seine schlanke, fokussierte Stimme schwebt im mezzopiano durch den stillen Saal, nach «che morbide rose» bricht er ab. «That’s it, ein Arioso von acht Takten. Eliogabalo singt sie für Gemmira, die Alessandro liebt, und die weichen Rosen… das ist etwas Physisches.» «Etwas Erotisches.» «Oh yes. Ich habe bis halb vier daran gesessen, hinter diese Metaphern zu kommen. Wir sprechen heute nicht mehr in Metaphern. Wie ausdrucksvoll diese Sprache war!» Und mit der Emotion müsse man beginnen, die Technik sei nur Unterstützung. «Das habe ich von Harnoncourt gelernt. Es ist eben nicht so, dass man in die Noten guckt und sagt, ja, kenne ich, den Rhythmus», er singt ein paar punktierte Noten, «der muss so und so verziert werden», er umgibt die Töne mit 32tel-Girlanden. «Natürlich muss man wissen, wie man Verzierungen schreibt. Aber Cavalli, das ist hauptsächlich gesprochene Musik. Wie man ein Wort ausspricht, das kann alles ändern, mehr als eine Verzierung oder ein Vibrato oder kein Vibrato.»
Es macht Spass, Cavallis Geheimnisse zu erkunden, aber ich möchte auch wissen, wie eigentlich ein Musiker zu Cavalli kommt, der zuerst am Konservatorium seiner Geburtsstadt Moskau in die alte russische Schule des Geigens einstieg, virtuos, hochromantisch, Bruch, Brahms, Tschaikowski... «Am Konservatorium war damals Alte Musik schon in Mode, Pinnock, Gardiner, Leonhardt, die Pioniere. Ich hörte das und bekam eine Gänsehaut, es war wie ein geheimer Raum. Mit zwanzig hatte ich das Glück, als Geiger zu einer erfahrenen Gruppe von Barockmusikern zu kommen, Musica Petropolitana aus St. Petersburg. Die brachten mich mit berühmten Musikern in Kontakt, mit dem Counter Michael Chance, mit Emma Kirkby. Und ich dachte, wenn ich in Zukunft Dirigent sein will, und das wollte ich, sollte ich auch singen lernen. Was will man Sängern sagen, wenn man nicht versteht, was sie tun?» Na schön, aber das muss ja nicht gleich zu einer Zweitkarriere als Counter führen. Wie hat er seine Stimme entdeckt? «Das fragen mich Sänger auch.» Er lacht, dann schmettert er ein sehr hohes «Haaa» in die Luft. «Okay.» Der frischgebackene Barockgeiger bekam Unterricht bei Marie Leonhardt, der Sänger bei Michael Chance. Der kommende Dirigent studierte in Zagreb Chorleitung und in Toulouse Orchesterleitung. Seit Februar 2022 ist Dmitry Sinkovsky Chefdirigent der Oper in Nizhny Novgorod, einer Millionenstadt 400 Kilometer östlich von Moskau. Seit ebenso langer Zeit herrscht Krieg in der Ukraine. Wie aber kommt damit der Sänger der Titelpartie klar, der Ukrainer Yuriy Mynenko? «Wir haben uns ohne jede Diskussion vom ersten Tag an verstanden. Wir machen dasselbe Ding. So sollte es sein in unserer kleinen musikalischen Gemeinschaft, die zusammenbleiben muss in jeder Art von Zeit. Ich bin der Zürcher Oper dankbar, den Vertrag eingehalten zu haben.»
Er erzählt vom Orchester in Nizhny, ein sehr junges Ensemble von 25- bis 27-Jährigen, «diese neugierigen jungen Augen sind mir mehr wert als Geld, so motiviert, die wollen arbeiten, die sind wie eine Familie. Und egal mit welcher Situation man sich befasst, immer kümmert man sich um seine Familie. Leute mit einer festen Stelle im Orchester, mit Familie und Verwandten, haben keine Wahl, woanders hinzugehen wie reisende Musiker. Die können nur die Musik verlassen und auf die Strasse gehen. Besonders als Solist und Dirigent sollte man daran denken, dass es weitaus Abhängigere gibt.» Und die lässt er nicht sitzen. «Keiner weiss, was in einer Woche passiert», Dmitry Sinkovskys Satz zum Probenprozess passt auch zur Weltlage. Nur dass man im Theater eher mit dem Schönsten rechnet als mit dem Schlimmsten. Für den Ensembleleiter, Sänger und Geiger hat sich der Regisseur schon wieder eine neue Herausforderung einfallen lassen, ein viertes Metier. «Calixto sagte heute, hier will ich einen ballo, einen Tanz, mach was! Also werde ich heutenacht ein paar Ritornelle komponieren. Im Stil von Cavalli, oder seine Themen benutzend, mit Zink oder Geige im Stil einer Triosonate…» Es wird wohl mal wieder spät werden.

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 97, November 2022.
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Ich muss über jeden Schritt nachdenken

Hans van Manen ist dieses Jahr 90 Jahre alt geworden, das Ballett Zürich zeigt im Januar sein Stück «On the Move». Michael Küster hat den Jahrhundert-Choreografen in Amsterdam besucht. Ein Gespräch über die Freiheit des Suchens beim Choreografieren, über Schallplattenstapel, Disneys «Fantasia», Homosexualität, Fotografie und wie man als Künstler sein Erbe regelt

Hans van Manen, im Juli 2022 hat die Ballettwelt Ihren 90. Geburtstag gefeiert. Wie haben Sie selbst diesen Tag verbracht?
Das schönste Geschenk war das dreiwöchige Festival, bei dem in der Amsterdamer Oper insgesamt 19 meiner Ballette gezeigt wurden. Das Dutch National Ballett, das Nederlands Dans Theater und Introdans aus Rotterdam haben getanzt. Aber besonders gefreut hat mich, dass mit dem Ballett am Rhein, dem Wiener Staats­ballett und dem Stuttgarter Ballett auch drei internationale Compagnien angereist waren. Es war ein riesiger Erfolg. Ich habe alle 13 Vorstellungen gesehen und musste mich jedes Mal verbeugen. Gott im Himmel! Es war einfach fantastisch!

Sie haben bereits vor einigen Jahren, 2014, aufgehört zu choreografieren. Wie präsent sind Ihre Stücke heute für Sie?
Ich habe in meinem Leben 150 Ballette gemacht und dachte irgendwann, es reicht. Ich wollte nicht, dass man sagt: Oh, er ist schon 90 und macht noch immer Ballette. Das Aufhören war damals wie eine Befreiung. Ich fand es herrlich, nicht mehr unter dem Druck zu stehen, zu drei Terminen im Jahr eine neue Choreo­gra­fie fertig haben zu müssen. Aber die Tanzkunst interessiert mich bis heute zu hundert Prozent. Wo auch immer ein Ballett von mir aufgeführt wird, ich komme! Ich habe fünf Leute, die meine Ballette einstudieren, und jedes Mal bin ich überrascht, wie gut sie das machen. Aber ich versuche auch immer, ein paar Tage vor der Premiere selbst vor Ort zu sein, um noch mit den Tänzerinnen und Tänzern zu arbeiten. Natürlich komme ich auch nach Zürich.

Zum Ballett Zürich haben Sie eine lange Beziehung. Seit fast dreissig Jahren sind Stücke von Hans van Manen in Zürich zu sehen, darunter so berühmte Choreografien wie Metaforen, Frank Bridge Variations oder Kammerballett.
Zürich war immer ein besonderer Ort für mich. Bernd Roger Bienert hat in den 90er-Jahren die ersten van Manen-Stücke gezeigt. Heinz Spoerli, mit dem ich bereits in seiner Zeit in Basel viel zusammengearbeitet habe, hat das fortgeführt, und auch mit Christian Spuck gibt es eine schöne Verbindung.

Nicht nur die jüngeren Choreografien, sondern auch viele Stücke aus den sechziger und siebziger Jahren haben sich ihre Zeitlosigkeit bewahrt. Beschäftigt Sie der Gedanke, was aus Ihrem Werk wird, wenn Sie nicht mehr da sind?
Als Choreograf hofft man natürlich, dass es einige Stücke auch über den eigenen Tod hinaus schaffen, lebendig zu bleiben, aber eine Garantie für Zeitlosigkeit gibt es nicht. Ich finde es wichtig, über den Tod nachzudenken und Vorkehrungen zu treffen – nicht nur, was die Ballette betrifft. Sonst wird es für alle furchtbar, die das dann regeln und auflösen müssen. Vor seinem Tod sollte man so viel wie möglich weggeben. Nur so hat man in der Hand, dass das im eigenen Sinne passiert. Mein künstlerisches Erbe wird von der Hans-van-Manen-Stiftung verwaltet.

Wir führen unser Gespräch auf Deutsch. Nicht nur die Sprache, sondern auch Deutschland an sich spielt in Ihrem Leben eine wichtige Rolle.
Ich bin in Nieuwer Amstel in Nordholland geboren, aber meine Mutter war Deutsche. Allerdings erinnere ich mich nicht, dass wir zu Hause Deutsch gesprochen hätten. Doch wahrscheinlich täusche ich mich, denn sonst würde ich die deutsche Sprache nicht so gut kennen. Meine internationale Karriere hat 1971 von Deutschland aus ihren Anfang genommen. Damals ist Keep going in Düsseldorf entstanden. Schon vorher waren namhafte deutsche Tanzkritiker wie Jochen Schmidt und Horst Koegler immer wieder nach Holland gekommen, um meine Aufführungen zu rezensieren. Aber in Deutschland habe ich immer wieder gearbeitet.

Galt der Prophet nichts im eigenen Land?
Da ist etwas Wahres dran. Meinen Ruf als Choreograf musste ich mir im Ausland und vor allem in Deutschland erarbeiten, ehe er nach Holland ausgestrahlt hat. Damals wie heute hat die Tanzkunst hier keinen einfachen Stand. Obwohl das Inte­resse gross ist und die Ballettvorstellungen gut gefüllt sind, findet der Tanz fast überhaupt keinen Widerhall im Feuilleton.

Musik und die Tänzerinnen und Tänzer haben Sie immer wieder als die wichtigsten Quellen Ihrer Inspiration benannt.
Von der ausgewählten Musik hängt die Besetzung für eine Choreografie ab. In einer grossen Orchesterpartitur wird sie grösser sein als bei einem Klavierstück oder einem kammermusikalischen Werk. Wenn die Musik einmal feststeht, habe ich sofort eine Besetzung im Kopf, mit der ich arbeiten will. Das waren keineswegs nur meine Lieblingstänzerinnen und -tänzer, sondern ich fand es immer spannend, ihnen Leute an die Seite zu stellen, die ich in anderen Vorstellungen oder im Training gesehen hatte. Die richtige Musik zu finden, hiess in den sechziger und siebziger Jahren: Schallplatten, Schallplatten, Schallplatten! Ich habe mich damals quer durch das Repertoire gehört.

In einem Film haben Sie von einem Plattengeschäft erzählt…
Das war wirklich einmalig. Dort musste ich nur das Genre sagen, zum Beispiel Streichorchester aus dieser oder jener Zeit, und schon kamen sie mit einem Stapel Platten oder CDs, die ich mit nach Hause nehmen und daraus in Ruhe eine Auswahl treffen konnte. Wenn ich die passende Musik gefunden habe, nehme ich für mich eine Einteilung vor und lege fest, wo es einen Pas de deux gibt oder wo drei, vier oder sechs Leute tanzen. Ich habe eine Vorstellung von Anfang und Ende, weil das dramaturgisch sehr wichtig ist. Auch bei einem Buch sind ja die ersten Zeilen die wichtigsten! Aber ansonsten weiss ich nichts im Voraus. Alles entsteht mit dem Beginn der Arbeit im Studio. Ich kenne die Einteilung der Tänzerinnen und Tänzer und lasse mich ansonsten von der Musik leiten. Sie weist mir den Weg. Ich improvisiere viel, und dabei steht man natürlich ziemlich nackt da. Deshalb liebe ich risikofreudige Tänzerinnen und Tänzer. Wenn sie gar zu vor­sichtig sind, werde ich auch vorsichtig. Sie müssen sich hineinwerfen. Sie machen geniale Fehler, und dann rufe ich: Das bleibt so! Da wird nie geschrien. Es geht alles sanft und ohne Druck, und so muss es auch laufen. Wir hatten immer Spass mit den Choreografien. Wenn ich meinte: «Das kann man ja nicht anschauen. Das sieht aus wie Balanchine.», fragte ein Tänzer gleich zurück: «Welcher Balanchine?» Und dann stellten wir fest, dass es doch eine Eigenständigkeit hatte, und wir haben die Sequenz behalten.

George Balanchine galt und gilt vielen Tanzschaffenden als eine Art Überfigur. Was hat er am Anfang Ihres Weges als Choreograf bedeutet, und was bedeutet er heute?
Als ich das erste Mal Balanchine sah, fand ich das unglaublich. Und das ist bis heute so geblieben. Bei einigen meiner Stücke spürt man, dass er mich inspiriert hat, aber ich glaube, sie sehen trotzdem nicht aus wie von Balanchine. Strawinsky und Picasso hassten das Wort «Inspiration», für sie war es ein Modewort. Halb im Scherz sage ich deshalb lieber: Ich stehle, wo immer ich kann. Man «stiehlt» und stellt fest: Mit diesem Element kann ich auch dieses oder jenes tun. Stehlen ja, imitieren nein! Das muss man sich bei jedem Stück sagen.

Wo sagen Sie denn heute: «Das habe ich von Balanchine gelernt.»?
Von Balanchine lernt man zuallererst Musikalität! Zu beobachten, wo und warum sich die Choreografie ändert, das ist fantastisch anzusehen. Die Art, wie er mit Wiederholungen umgeht. Auch was die Ausnutzung des Bühnenraums angeht, habe ich viel von ihm gelernt. In welchem Verhältnis stehen Horizontale und Vertikale, wann verwende ich die Diagonale, die ja die längste Form von Wiederholung ist, die man in einer Choreografie machen kann. Es war mir immer wichtig, den zur Verfügung stehenden Raum voll auszunutzen. Wenn man Architekt ist, gebraucht man das ganze Haus und nicht nur die erste Etage.

Jetzt haben Sie viele Begriffe aus der Geometrie und Architektur verwendet. Wahrscheinlich können Sie es schon nicht mehr hören, aber Ihr Beiname «Mondriaan des Tanzes» kommt ja nicht von ungefähr …
Es ist ein grosses Kompliment, und es ehrt mich, wenn man das beim Betrachten meiner Stücke so empfindet. Ich messe dem aber keine so grosse Bedeutung bei. Mein ganzes Leben habe ich mich für Bildende Kunst interessiert, vor allem für die Werke des Konstruktivismus. Da kommt man an Mondriaan natürlich nicht vorbei. Auch in Zeiten, in denen ich kein Geld hatte, habe ich Bilder gekauft und dann in Monatsraten abbezahlt. Die Herzensbeziehung war dabei immer das Wichtigste. Es gibt diesen magischen Moment, wo du merkst: Ich muss und soll das haben. Und dann muss man kaufen.

Ihr Weg zum Tanz führte über einen Umweg. Sie sind zunächst bei dem grossen holländischen Maskenbildner Herman Michels in die Lehre gegangen.
Es war kurz nach Kriegsende, und die Schulen waren geschlossen. Meine Mutter, die wusste, dass ich tanzen wollte, hat mich durch Vermittlung einer Freundin bei Michels untergebracht, damit ich überhaupt etwas machen konnte. Michels war der beste Maskenbildner in Holland für Film, Bühne und Oper. In den fünf Jahren bei ihm habe ich alles an Balletteindrücken aufgesogen, was möglich war. Als ich 18 war, sagte ich zu ihm, dass ich aufhören wolle, um im Ballett von Sonia Gaskell zu tanzen. Er meinte, ich solle nur noch an einem Tag in der Woche für ihn ar­beiten und könne mein Salär trotzdem behalten. Das habe ich noch ein halbes Jahr gemacht, mich dann aber ganz dem Tanz gewidmet. Ich war sicher nicht der Idealtyp für Schwanensee oder Giselle, aber ich war ein Virtuose und konnte unglaublich gut drehen. Zehn Pirouetten waren für mich normal. Nach einer kurzen Zeit bei Sonia Gaskell bin ich ins Opernballett gewechselt und 1958 schliesslich für ein Jahr nach Paris zu Roland Petit gegangen. Paris war eine Enttäuschung, die grosse Ballettgeschichte schien dort vorbei, und so sind Gérard Lemaître und ich schon nach einem Jahr nach Holland zurückgekehrt, wo wir uns dem gerade gegründeten Nederlands Dans Theater angeschlossen haben. Ich wurde zunächst als Tänzer und Choreograf engagiert, ein halbes Jahr später war ich Künstlerischer Leiter. Nach zehn Jahren reichte es mir, von da an habe ich nur noch als Choreograf ge­arbeitet und bin ohne alle administrativen Verpflichtungen sehr gut gefahren.

Amsterdam ist immer der Mittelpunkt Ihres Lebens gewesen. Warum haben Sie dieser Stadt ein Leben lang die Treue gehalten?
Ich wollte immer nur in Amsterdam leben, denn hier kann man anonym bleiben. Die Konkurrenz in einer Stadt wie New York hätte ich nicht ausgehalten. In Holland konnte ich immer machen, was ich machen wollte. Das Nederlands Dans Theater und das Holländische Nationalballett waren die beiden Pole meiner Arbeit. Jede der beiden Compagnien hat – bedingt durch die unterschiedliche Tanz-­Technik – ihr völlig eigenes Profil, und entsprechend unterschiedlich choreografiert man dann auch.

Ihr Schaffen ist mittlerweile auch zum Forschungsgegenstand geworden. Kluge Köpfe haben Ihr Werk in Perioden eingeteilt. Da ist die Rede von der Frühzeit, der Zeit der beginnenden Reife, der romantischen Periode, der Phase der kleinformatigen Duos... Können Sie das nachvollziehen?
Das Leben stellt sich in der Rückschau nicht in solchen Schubladen, sondern eher als ein grosser Kosmos dar. Man merkt oft erst viel später, was wichtig für einen war. Der Jazz zum Beispiel. Mein Bruder war Jazz-Pianist, und das hat mich sehr beeinflusst. In den 50er-Jahren habe ich, inspiriert von Jerome Robbins, Jazz-­Ballette gemacht. Aber auch zu Popmusik habe ich choreografiert, in Twice von 1970 zum Beispiel Sex Machine von James Brown. Das haben wir in London bei einem Gala-Abend des Royal Ballet aufgeführt. Später war das überall ein Erfolg, nur dort nicht. Aber hinterher bekam ich einen Brief von James Brown. Er fände es toll, dass Sex Machine endlich den Weg nach Covent Garden gefunden hätte. Nach diesem Brief war die Welt für mich wieder in Ordnung.

Schon 1987 hat der Tanzkritiker Jochen Schmidt seiner Hans-van-Manen-Monografie den Titel Der Zeitgenosse als Klassiker gegeben…
Ein fantastischer Titel, oder?

Sie fühlen sich damit also richtig beschrieben?
Jochen Schmidt hat das Spannungsverhältnis von Klassizität und Moderne in meinen Stücken gesehen. In der tänzerischen Ausbildung steht der klassische Tanz oft am Anfang. Aber dann kommen die unterschiedlichsten Eindrücke hinzu und hinterlassen ihre Spuren. 1952 habe ich durch Martha Graham erfahren, was es heisst, den Boden in einer Choreografie zu benutzen. So etwas hatte ich noch nicht gesehen! Heute habe ich oft den Eindruck, dass die Choreografen fast zu viel mit dem Boden arbeiten. Da sieht man fast gar keinen Tanz mehr, und die Beine werden nicht mehr gebraucht.

Genauso wichtig wie die Beine sind in Ihren Choreografien die Augen und der Blick…
Das stimmt. Für die Beziehung zweier Tänzer in einem Pas de deux ist die Blickrichtung unverzichtbar. Bei mir ist sie immer einchoreografiert. Wohin schaut man? Wie schaut man einander an? Man darf nie in den Saal schauen, nach dem Motto «Guckt mal, wie fantastisch ich tanze!» Ausgestellte Virtuosität finde ich schrecklich. Wenn man in die Gasse schaut, stellt sich die Frage: Geht man? Geht man noch nicht? Geht man im Guten? Geht man im Bösen? Blicke sind ein Seismograph für die Beziehung und ausschlaggebend für alles, was sich choreografisch ereignet.

Lassen Sie uns noch einmal auf die Musik zurückkommen. Welche Qualität muss Musik haben, damit sie choreografische Ideen bei Ihnen freisetzt?
Ich merke immer wieder, wie wichtig der Rhythmus ist. Erst der Rhythmus lässt tanzen. Musik muss mich so anfassen, dass ich gar nicht anders kann, als dazu zu choreografieren. Ich finde manche Stücke fantastisch, aber weiss von Anfang an, dass es nicht einfach wird. Aber dieses Risiko muss man eingehen. Ohne Risiko ist alles uninteressant. In vielen Choreografien, die ich sehe, wird die Musik als Wallpaper, als Tapete, benutzt. Es ist ein verbreiteter Irrglaube, dass es sich bei Ballett um illustrierte Musik handelt. Mir war immer wichtig, sich nicht auf den äusseren Ablauf zu verlassen, sondern die Innenspannung der Musik zu erfassen und zu ergründen. Ich finde es toll, wenn Musik es mir nicht einfach macht und sie mich zwingt. Das ist herrlich. Ich will auch gezwungen werden. Es gibt Choreografen, die Schritte geradezu mühelos aus dem Ärmel schütteln. In den meisten Fällen gelingt mir das nicht. Ich muss über jeden Schritt nachdenken.

Sie haben fast nie zu Musik choreografiert, die ausdrücklich für den Tanz kom­poniert wurde. Eine Ausnahme war 1974 Strawinskys Le Sacre du printemps beim Holländischen Nationalballett. Was war das für eine Erfahrung?
Ich muss 14 gewesen sein, als ich Walt Disneys Zeichentrickfilm Fantasia gesehen habe. Da traten die Dinosaurier zu Sacre-Klängen auf! Ich bin damals sicher zehn Mal ins Kino gegangen, weil ich die Musik so fantastisch fand. Aber ehrlich gesagt, war ich mit meinem Sacre nie zufrieden. Ich habe damals mit einem Pas de deux in der Mitte begonnen, weil zwei Solisten gerade für eine Probe frei waren. Das hätte ich nicht tun sollen. Man muss von Anfang an anfangen und weiter­choreo­grafieren bis zum Ende. Wenn man hier ein Stückchen und da ein Stückchen macht, gerät die Dramaturgie in Gefahr, und man verliert die Geschichte aus den Augen.

Trotzdem sind Sie zu Strawinsky immer wieder zurückgekehrt. Weil er ein musikalischer Seelenverwandter ist?
Weil er mich aufgeregt hat! Wir sprachen über den Konstruktivismus, der steckt ja auch in dieser Musik. Bei Strawinsky ändert sich die musikalische Struktur jede Minute. Man kann fast die Uhr danach stellen.

Gibt es Musik, bei der Sie denken: Das hätte ich gern noch choreografiert?
Ich kann Musik inzwischen gut ohne jeden Gedanken an Choreografie geniessen. Ich höre etwas und denke mir: Was für ein fantastisches Stück Musik! Erst gestern gab es im Fernsehen ein Gustav-Mahler-Adagio in einer Fassung für Klarinette, Cello und Klavier. Vor ein paar Jahren hätte mich das wahrscheinlich inspiriert. Kammermusik ist einfach herrlich!

Was sollten Tänzerinnen und Tänzer begriffen haben, wenn sie Ihre Stücke tanzen?
Dass man mit Schritten noch ganz andere Sachen machen kann, als man normalerweise tut. Ich habe immer versucht, die herkömmlichen klassischen Schritte zu verändern. Man kann sie länger oder kürzer machen, und mit der erlernten Technik lässt sich das Spektrum tänzerischen Ausdrucks immer wieder erweitern. Dieser Kreis ist noch lange nicht ausgeschritten. Aber es geht mir, wie gesagt, nie um die Technik an sich. Das Wichtigste im Pas de deux ist die Beziehung zwischen zwei Menschen. Deshalb wollte ich immer Menschen auf der Bühne sehen. Tänzer, die Menschen sind und nicht nur Tänzer.

Sie haben in Ihren Stücken die unterschiedlichsten Paarkonstellationen zusammengebracht. 1965 war in Metaforen der erste Männer-Pas de deux der Tanzgeschichte zu sehen. Trotzdem waren Ihre Ballette nie eine Selbstfeier der Homosexualität…
Warum sollten sie das auch sein? Ich habe die Homosexualität immer sehr einfach und als etwas völlig Normales gesehen. Ich wusste seit meinem 10. Lebensjahr, dass ich homosexuell bin und habe das ab 15 auch offen gelebt. Dennoch bin ich mir im Klaren, dass das in vielen Teilen der Welt auch heute nicht selbstverständlich ist und verfolge den Umgang der Politik mit diesem Thema sehr bewusst.

Mit Ihrem Partner Henk sind Sie seit 51 Jahren zusammen. Was ist das Rezept für diese lange Beziehung?
Das funktioniert, weil wir nicht zusammenwohnen. Wir sehen einander fast jeden Tag, wir essen zusammen. Aber abends geht jeder zu sich nach Hause, denn es gibt immer noch Dinge, die man alleine tut. Vielleicht läuft im Fernsehen ein Stück, das ihn nicht interessiert, und ich will es sehen? Wenn man einander totale Freiheit gibt und sich jeder trotzdem für den anderen verantwortlich fühlt, kann man es lange miteinander aushalten. Auf Reisen sind wir immer im selben Hotelzimmer. Gerade erst hatten wir in Paris wieder so viel Spass zusammen. Wir gehen da jedes Mal zu Armani, und die wollen dann immer, dass wir alles anziehen. Das tun wir auch. Aber wir sagen dann zehn Mal Nein und einmal Ja.

Armani ist Ihr Lieblingsdesigner?
Ja, aber auch Ralph Lauren mag ich sehr. Und halten Sie mich für verrückt, aber oft kaufe ich auch die idiotischsten Schuhe bei Dolce & Gabbana. Aber ich trage sie nie, weil ich finde, dass es Kunstwerke sind!

In Ihren Stücken steckt neben einer grossen Klarheit, Eleganz und Menschlichkeit oft auch sehr viel Humor. Schuhe bzw. Absätze haben Sie sogar auch in der Choreografie zum Thema gemacht…
Wann immer ich irgendwo auf einer Terrasse sitze, beobachte ich, wie die Leute laufen. Es gibt so wenig Menschen, die das gut können. Und die Absätze sind bei fast allen furchtbar. Bei den Frauen sind sie oft so hoch, dass sie die Beine nicht strecken können. Zu den Premieren in Russland kamen die Damen oft in Sportschuhen und brachten ihre High Heels in einem Beutel mit, um sie im allerletzten Moment anzuziehen. Das fand ich grossartig. In Twilight von 1972 stand meine Ballerina Alexandra Radius auf hochhackigen Spitzenpumps. Was im Leben etwas Normales ist, bringt eine klassische Tänzerin auf der Bühne in eine eigenartige Position. Sie tanzt weder auf Spitze noch auf flacher Sohle, sondern in einem Zwischenbereich. Der Schuh scheint nicht nur ihre Motionen, sondern auch ihre Emotionen einzuschränken. Die Musik von John Cage für präpariertes Klavier fand ihre Entsprechung in dieser Choreografie für «präparierte Füsse». Aber Absätze können auch eine Waffe sein. Dagegen wirken nackte Füsse fast wie ein
Friedensangebot.

Unser Gespräch wäre unvollständig, wenn wir nicht auch über den Fotografen Hans van Manen sprechen würden. Fotos wie Stretching, Sword oder Bacchanten sind geradezu ikonografische Kunstwerke, die in namhaften
Museen ausgestellt sind. Woher kam der Impuls zum Fotografieren?

Das hatte mit den vielen Malern zu tun, mit denen ich befreundet war. Sie wollten immer, dass ich meine Meinung zu ihren Kunstwerken äussere, weil ich angeb­lich «den richtigen Blick» hätte. Irgendwann fanden sie, ich müsse fotografieren.1972 habe ich mit der Kleinbildkamera zunächst in Farbe begonnen. Dann habe ich noch ein Studium angefangen und mit der Hasselblad in schwarz-weiss und im Negativformat 6x6 das fotografiert, was mich als Choreograf interessiert – den menschlichen Leib. Während es in der Choreografie um den Ablauf von Bewegung geht, hat mich beim Fotografieren der Stillstand interessiert, das Verhältnis von Körper, Raum und Licht und ihrer zweidimensionalen Abbildung. Neben dem Choreografieren war das eine anstrengende Sache. Fast jede Nacht stand ich bis drei Uhr morgens im Labor. Ich musste mich irgendwann entscheiden und fand die Choreografie am Ende doch wichtiger für mich. 1991 habe ich mit dem Fotografieren aufgehört und seither auch nie wieder eine Kamera angefasst. Aber ich kaufe nach wie vor Fotografien und interessiere mich sehr dafür. Gerade bin ich sehr glücklich mit den Close-Ups, die mein Freund, der holländische Fotograf Erwin Olaf, von einigen meiner Choreografien gemacht hat. Sie wurden in Amsterdam und Paris in Ausstellungen gezeigt und auch als Bildband veröffentlicht.

Das Ballett Zürich tanzt jetzt Ihre Choreografie On the Move aus dem Jahr 1992. Was ist das für ein Stück?
On the Move habe ich seinerzeit für das Nederlands Dans Theater choreografiert. Mit insgesamt vierzehn Tänzerinnen und Tänzern war das für mich eine relativ grosse Besetzung. Ein befreundeter Kritiker hatte mir das Erste Violinkonzert von Sergej Prokofjew empfohlen. Ich habe es gehört und fand es am Anfang alles andere als einfach. Besonders die Wiederholungen in der Partitur haben mich damals beschäftigt. Müsste ich da in der Choreografie nicht etwas anderes machen? Aber ich habe mich dann doch für eine choreografische Wiederholung entschieden, und wenn das toll getanzt wird, ist das absolut richtig. Heute bin ich zufrieden, dass ich das Stück gemacht habe.

Was muss denn zusammenkommen, damit Hans van Manen zufrieden ist?
Man muss einfach guten Gewissens draufschauen können. Zu vielen meiner Ballette stehe ich bis zum heutigen Tag. Aber es gibt auch welche, über die die Zeit ihr Urteil gefällt hat. Henk und ich sind all meine Stücke durchgegangen, und bei etwa 40 Prozent fanden wir: Weg damit! Wenn Henk zögerlich war, habe ich gesagt: Du kannst es aufführen lassen, wenn ich es nicht mehr sehen muss. Also nicht, solange ich lebe!

Wir haben während unseres Gesprächs köstlich gegessen und guten Wein genossen, und Sie haben sich dabei ein paar kleine Zigaretten gedreht…
Das muss sein! Ich rauche seit 70 Jahren aus Passion. Erst kürzlich habe ich mich wieder durchchecken lassen, und die Ärztin rief mich am nächsten Tag an: «Spreche ich mit dem 18-jährigen Hans van Manen?» Ich fragte: «Alles in Ordnung?» «Alles in Ordnung!» Ich rauche nicht Lunge, sondern ein bisschen durch die Nase. Ich inhaliere nicht total, das habe ich nie getan. Aber ich rauche mit Henk noch immer fast jeden Tag einen Joint. «Prima!», sagen die Ärzte.

Das Gespräch führte Michael Küster
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 97, November 2022.
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Yuriy Mynenko

Yuriy Mynenko, Countertenor aus Odessa, singt die Titelpartie in der Neuproduktion «Eliogabalo». Er ist bisher u.a. an der Staats­oper Stuttgart, am Theater an der Wien und bei den Salzburger Festspielen aufgetreten.

Aus welcher Welt kommen Sie gerade?
Mein letztes Projekt vor Zürich war Antonio Vivaldis Il Giustino im Schloss Drottningholm in Stockholm. Danach fuhr ich nach Hause, nach Odessa. Von dort wieder nach Zürich zu kommen, war sehr schwierig. Wenn ich keine Spezialgenehmigung vom Ministerium für Kultur gehabt hätte, wäre  es vollkommen unmöglich gewesen. Aber auch mit dieser Genehmigung sass ich zehn Tage an der Grenze fest. Für Männer im wehrfähigen Alter ist die Ukraine zurzeit ein Gefängnis. Ich bin der Meinung, die Leute, die gelernt haben, in der Armee zu kämpfen, sollten das Land an der Front verteidigen – und wer nicht kämpfen kann oder will, sollte das Land verlassen dürfen. Ich unterstütze mein Land so gut ich kann finanziell. Aber ich bin Sänger und nicht Soldat.

Auf was freuen Sie sich in der Eliogabalo-Produktion?
Ich freue mich sehr darauf, ganz neue Dinge auszuprobieren! Frühbarocke Musik singe ich hier zum ersten Mal, bisher habe ich vor allem Händel, Vivaldi, Mozart und viel russische Musik gesungen. Auch szenisch ist vieles für mich neu. Aber ich liebe das Theater, Oper ist für mich zuallererst Musiktheater! Dieser Eliogabalo ist eine sehr widersprüchliche Figur. Er sucht die Extreme, er will Sex mit Frauen und mit Männern, er ist unersättlich in seiner Gier. Ich mag Calixto Bieitos Ideen, seine Interpretation, und es macht grossen Spass, das umzusetzen.

Welches Bildungserlebnis hat Sie besonders geprägt?
Freiheit! Niemand hat mir während meiner Ausbildung Grenzen gesetzt. Ich bin davon überzeugt, dass wir Künstler uns das nehmen müssen, was uns weiterbringt. Künstler zu sein, kann einem niemand beibringen.

Welche CD hören Sie immer wieder?
Das ändert sich ständig, mal ist es Hard Rock, mal ukrainische Popmusik, dann wieder Oper oder klassische Instrumentalmusik. Gestern habe ich erst ACDC gehört und dann das Mozart-Requiem

Mit welchem Künstler, welcher Künst­lerin würden Sie gerne essen gehen, und worüber würden Sie reden?
Mit Luciano Pavarotti! Ich habe ihn mal in St. Petersburg kennengelernt und würde gern mit ihm über seine Lebensphilosophie, seine Beziehung zur Musik und seine fantastische Gesangstechnik sprechen. Oder mit Joan Sutherland. Sie war Jury-Präsidentin beim Francesco Viñas Wettbewerb in Barcelona, als ich einen Preis gewonnen habe. Mit ihr würde ich auch sehr gern einen Abend verbringen.

Welches Buch würden Sie niemals aus der Hand geben?
Die Bibel. Wenn mehr Menschen auf der Welt die Bibel lesen und nach den Gesetzen des Neuen Testaments leben würden, gäbe es nicht so viele Kriege auf der Welt. Ich lese aber auch andere Bücher. Philosophie fasziniert mich – Nietzsche und Kant zum Beispiel. 

Warum ist das Leben schön?
Mein Herz blutet, weil in meinem Land Krieg herrscht und sich die Ukraine gegen einen übermächtigen Angreifer verteidigen muss. Deshalb ist mein  Leben zurzeit nicht nur schön. Aber ich bin dankbar dafür, dass ich trotz allem reisen und mein Land repräsentieren kann, dass ich hier mit tollen Kolleg:innen eine Oper erarbeiten kann. Und dass in meinem Herzen immer noch Liebe ist. 

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 97, November 2022.
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Frei von Logik und Moral

Der italienische Komponist Pierangelo Valtinoni hat mit «Alice im Wunderland» nach dem «Zauberer von Oz» zum zweiten Mal eine Familienoper für das Opernhaus Zürich geschrieben. Im Gespräch erzählt er, was aus seiner Sicht eine gute Familienoper ausmacht und warum es nicht einfach für ihn war, als Komponist seinen eigenen Weg zu gehen

Pierangelo, du hast bereits vier Kinderopern geschrieben; die erfolgreichste bisher war Pinocchio – er wurde in viele Sprachen übersetzt und hat die Kinderherzen von Berlin und Venedig über Moskau bis Hongkong erobert. Warum hast du dir nun Lewis Carrolls Alice im Wunderland ausgesucht?
Vor Alice schrieb ich neben Pinocchio die Schneekönigin und den Zauberer von Oz, der ja hier in Zürich uraufgeführt wurde. In allen drei Stücken ist die Hauptfigur auf der Suche nach etwas oder jemandem: Pinocchio sucht seinen Vater, Gerda sucht Kai, und Dorothy sucht ihr Zuhause. In Alice im Wunderland ist das ein bisschen anders – Alice ist vor allem auf der Suche nach sich selbst. Das hat mich sofort fasziniert, neben der Tatsache, dass diese Geschichte so viel Nonsens enthält und so wunderbar Moral-frei daherkommt. Es war allerdings nicht so ganz einfach, diesen Stoff in Musik zu setzen.

Warum?
Die Geschichte besteht aus Episoden, die sich nicht aufeinander beziehen und genauso gut auch in einer anderen Reihenfolge erzählt werden könnten. Es gibt keine Logik. Das ist für die Musik – für meine Musik – ein Problem: Sie kann sich nicht ohne eine gewisse innere Logik weiterentwickeln. Ich musste also ein System erfinden, einen Trick, um der Musik zu einer Logik zu verhelfen, während der Text unlogisch blieb. Die Lösung war für mich dann die Form der Variation: Der Schluss des ersten Aktes und der Epilog entsprechen dem Prolog. Die Idee ist immer dieselbe, aber sie wird variiert, und dem Zuhörer ist das vielleicht gar nicht bewusst. Für mich ist es wichtig, dass in einer Oper, die 90 Minuten dauert, die Musik sich so entwickelt, dass die einzelnen Teile nicht einfach austauschbar sind. Sonst empfinde ich das nicht als organisch.

Im Wunderland passieren ja in der Tat vor allem Dinge, die die Logik, die Alice bis dahin gewohnt war, auf den Kopf stellen...
Ja, denken wir zum Beispiel an die Grinsekatze: Alice sagt etwas, und die Katze sagt etwas vollkommen anderes, was überhaupt keinen Bezug hat zu dem, was vorher gesagt wurde. Alice geht ja durchaus bewusst ins Wunderland – ohne zu wissen, was sie dort erwartet –, weil sie sich in ihrer Welt, der Welt der Erwachsenen, ganz schrecklich langweilt. Im Verlauf dieser Reise wird Alice immer selbstbewusster, und schliesslich traut sie sich sogar, der Herzkönigin zu widersprechen. Es ist also auch eine Geschichte über das Erwachsenwerden.

Alice im Wunderland ist ein Stoff, der schon sehr oft bearbeitet wurde; hattest du bei der Stoffwahl keine Angst, dass deine neue Oper mit all den schon existierenden Versionen verglichen wird?
Doch, ein bisschen schon. Ich habe mich bemüht, jegliche Referenz an die Filme oder andere Bearbeitungen des Stoffes, die ich gesehen habe, zu vermeiden. Es gibt ja auch eine Oper nach diesem Stoff von Unsuk Chin, aber das ist eher eine Oper für Erwachsene und etwas ganz anderes. Zusammen mit meinem Librettisten Paolo Madron habe ich versucht, einen eigenen, originellen Umgang mit dem Stoff zu finden, und hoffe natürlich, dass das auch so wahrgenommen werden wird.

Was kann eine Oper deiner Meinung nach besser als ein Film?
In der Oper ist es immer die Musik, die die Situation bestimmt. Wenn ich den Text aus meinen Opern entfernen würde, würde das an der Musik nichts ändern. Und die Musik kann zwar die Geschichte vielleicht nicht so genau erzählen, ist aber immer ganz direkt emotional erfahrbar und zumindest für mich viel poetischer.

Du hast mir von weiteren Aufträgen für Kinderopern erzählt, die dich in Zukunft erwarten; was gefällt dir daran, für Kinder zu komponieren?
Es ist für mich kein Unterschied, ob ich Musik für Kinder oder für Erwachsene schreibe. Meine musikalische Sprache ändert sich nicht. Für mich besteht die Herausforderung einer Kinderoper vor allem darin, die Kinder nicht zu langweilen. Ich bemühe mich deshalb, mit unterschiedlichen Emotionen zu arbeiten. Eine langsame Arie, die eine Viertelstunde dauert, funktioniert in einer Kinderoper nicht. Wenn ich einen Auftrag für eine Oper für Erwachsene bekommen würde, dann würde ich das gerne machen. Aber im Moment habe ich mit Kinderopern sehr viel Erfolg; Alice war auch am Hongkong Arts Festival zu sehen. Ich habe das Gefühl, dass ich meine Fantasie sehr viel mehr ausleben kann, wenn ich für Kinder schreibe. Ich fühle mich dabei sehr frei.

Dir ist ja die Kommunikation mit dem Publikum sehr wichtig, und Kinder reagieren oft viel direkter als Erwachsene.
Als Komponist habe ich – wie die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen – verschiedene Phasen durchlaufen. Als junger Mensch habe ich mich sehr an der Avantgarde orientiert und im Stil Ligetis komponiert, was mir auch durchaus gelungen ist. Aber dann bin ich an einen Punkt gekommen, an dem ich nicht mehr verstanden habe, warum ich Musik schreiben soll, die mich persönlich nicht zufriedenstellt. Die zeitgenössische Musik erzählt – so ist jedenfalls mein Eindruck – ausschliesslich von dunklen, hässlichen Dingen, von Albträumen, vom Tod. Das hat mit der Art ihrer musikalischen Sprache zu tun. Mir hat das überhaupt nicht entsprochen. Also habe ich mich entschieden, anders zu komponieren. Das war riskant. Aber es war mir lieber, als weiter Musik zu schreiben, mit der ich mich nicht identifizieren konnte.

Bist du für diese Entscheidung von deinen Kolleginnen und Kollegen kritisiert worden?
Ja, durchaus. Meine Musik steht ja schliesslich überhaupt nicht im Einklang mit der Musik der Avantgarde. Und am Anfang war es auch nicht ganz einfach für mich. Inzwischen ist mir das egal. Für mich ist wichtig, dass man ehrlich zu sich selbst ist und seinen eigenen Weg geht.

Du hast mal gesagt, du schreibst Musik, um verstanden zu werden...
Es geht mir dabei aber nicht um den Applaus. Ich schreibe einfach so, wie es mir gefällt. Ich möchte mit meiner Musik kommunizieren, Emotionen bei den Menschen hervorrufen. Und das geht am besten, wenn die Musik, die ich schreibe, auch bei mir selbst Emotionen erzeugt.

Für die Kommunikation mit dem Publikum eignet sich Theatermusik natürlich sehr gut. Man merkt deiner Musik an, dass du das Theater liebst, deine Musik ist sehr gestisch und immer für die Bühne gedacht.
Man hat mir oft gesagt, dass man auch in meiner Instrumentalmusik das Theater spürt. Ja, ich liebe das Theater.

Kommen wir noch einmal zurück auf Alice im Wunderland. Hier gibt es viele klar erkennbare Motive, die den einzelnen Figuren zugeordnet sind; die Katze zum Beispiel hat ein prägnantes Klarinettenmotiv. Hast du dich von Prokofjews Peter und der Wolf inspirieren lassen?
Ja, das habe ich. Natürlich hätte ich auch ein anderes Instrument wählen können. Aber die Klarinette hat wunderbar für die Katze funktioniert! Und für die Katze wollte ich ein besonders einprägsames Instrument mit einem charakteristischen Motiv verwenden, weil die Katze eine Figur ist, die nur spricht und nicht singt. Deshalb musste ihre Musik umso besser erkennbar sein.

Sehr einprägsam ist auch das orientalische Motiv der Raupe...
Darauf bin ich gekommen, weil es bei Lewis Caroll heisst, dass die Raupe Wasserpfeife raucht. Da war so ein Motiv natürlich naheliegend.

Daneben scheint es in deiner Musik auch den Einfluss des Jazz und der Unterhaltungsmusik zu geben.
Als ich beschloss, mich von der Avantgarde abzuwenden, habe ich auch entschieden, dass ich mich von jeder Art Musik beeinflussen lassen möchte, die ich als Jugendlicher gehört habe, und das waren neben klassischer Musik eben auch Jazz und Pop. Für mich ist die sogenannte Unterhaltungsmusik nicht grundsätzlich weniger wert als eine Sinfonie von Beethoven. Deshalb finden sich in meiner Musik die unterschiedlichsten Einflüsse.

Auch Tanzrhythmen spielen in deiner Musik eine wichtige Rolle.
Da habe ich mich ein bisschen von Bach inspirieren lassen, was sicher auch mit meiner Vergangenheit als Organist zu tun hat. Bach schreibt zum Beispiel Menuette, deren Rhythmus klar erkennbar ist, die aber viel komplexere Strukturen haben als ein Menuett, das als Tanzmusik gedacht ist. Bei mir gibt es Passagen, in denen man sofort den Walzerrhythmus erkennt, die aber in ihrer inneren Struktur über einen Walzer hinausweisen. Solche Tanzrhythmen – es gibt noch viele weitere in Alice im Wunderland – sind deshalb wichtig für mich, weil sie direkt in den Körper gehen.

Siehst du eigentlich die Szenen vor dir, wenn du sie komponierst?
Ja, ich sehe alles sehr konkret vor mir. Aber ich kann das, was ich beim Komponieren gesehen habe, dann auch wieder vergessen. Leichter wird es für mich, wenn mir das, was sich die Regisseurinnen und Regisseure ausgedacht haben, gefällt. Bisher haben mir bis auf eine Aufführung eigentlich alle Inszenierungen meiner Kinderopern gefallen. Ich bin also guten Mutes, dass das auch bei unserer Alice wieder so sein wird, und ich freue mich sehr darauf.

Das Gespräch führte Beate Breidenbach
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 96, Oktober 2022.
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Jérémie Rhorer

Mit Jacques Offenbachs «Barkouf» debütierte Jérémie Rhorer 2022 am Opernhaus Zürich. Er dirigierte an Opernhäusern wie der Wiener Staatsoper, der Bayerischen Staatsoper in München, La Monnaie in Brüssel und dem Teatro Real in Madrid. Er ist ausserdem Gründer und Musikdirektor des auf historischen Instrumenten spielenden Orchesters Le Cercle de l’Harmonie, mit dem er u.a. am Théâtre des Champs-Élysées einen Mozart-Zyklus mit «La clemenza di Tito», «Die Entführung aus dem Serail», «Don Giovanni» und «Le nozze di Figaro» aufführte.

Es regnet heftig. Kein Tag, an dem man beschwingt zur Arbeit geht. Genau der richtige Tag für Jacques Offenbach, um seine funkelnde Energie zu entfalten, 142 Jahre nach seinem Ableben in Paris. Man spielt sich erstmal ein im grossen Orchesterprobensaal am Kreuzplatz, Dienstbeginn gegen 10 Uhr vormittags, hinten plaudern die Solisten, es ist ihre erste Probe für Barkouf zusammen mit dem Orchester. Dann nimmt auf seinem Schemel vor den Musikern Jérémie Rhorer Platz, 49 Jahre alt, nicht gross, beiges Jackett, sparsame Gesten. Er gibt den Einsatz zur ersten Nummer, und plötzlich wandelt sich die Atmosphäre. Diese Rhythmen, diese Schnitte und Farben, diese kleinen Verrücktheiten! Eine unverregnete Heiterkeit breitet sich aus. Ab und zu eine Unterbrechung, eine Korrektur: Betonungen werden verschoben, die Silben im Tenor brauchen mehr staccato. Um die ersten Geigen leiser zu haben, genügt eine kurze Armbewegung links. Klarheit entsteht und noch mehr von dieser Heiterkeit, die nicht banal ist, sondern voller Leben. Die Sänger werden übermütiger, immer mehr von den Gesten, den Charakteren, die sie mit Klavier und Regie erprobt haben, brechen aus. Man könnte meinen, Offenbach irgendwo amüsiert lächeln zu sehen, vielleicht auch noch nachdenken: Ist das gut, Fagott zum Pizzicato? Ja, sogar sehr gut. Der Zuhörer am Saalrand verspürt erste Suchtsymptome. Bitte noch eine Nummer, noch ein Duo, Trio, Quintett

Damals bei der Uraufführung in Paris war nach sieben Vorstellungen Schluss, Anfang Januar 1861. «Schwer zu verstehen, warum», sagt Jérémie Rhorer, als wir nach der Probe durch etwas weniger Regen zu Starbucks hinübergehen, «auch wenn Barkouf durch die Kritik von Hector Berlioz wirklich zerstört wurde.» Er schwärmt von den Farben, der grossen Palette, mit der Offenbach zwei verschiedene Welten deutlich mache, den machiavellistischen Zynismus der Politiker, «von der Groteske switcht er zum Tieferen, zum sanften Charakter etwa von Maïma. Er hat dieses Talent, wie Bizet und später Bernstein und viele Jazzmusiker, direkt zum Ohr zu kommen.» Und das besondere Talent zur Komik solle man nicht unterschätzen. «Es ist eines der kostbarsten Talente, die Freude auszudrücken. Das Leben, das Lachen. Für eine Ideologie ist Lachen das gefährlichste.»

Er erwähnt Umberto Ecos Der Name der Rose. Das verbotene Buch in diesem Roman, das vom finsteren Bibliothekar vergiftet wird und durch dessen Lektüre dann die Mönche sterben, ist das Buch von Aristoteles, in dem die Komödie behandelt wird, er tritt für Freude und Lachen ein. «Auch Mozart und Haydn konnten das Komische sehr gut», meint Rhorer, «aber man muss sich bei Offenbach hüten, es überzuinterpretieren. Humor braucht subtile Balance. Zuviel ist nicht mehr komisch. Der Dirigent muss auch die Eleganz des Komponierten garantieren, auf Artikulation und Präzision bestehen.» Das alles sagt er nachdenklich, bedachtsam seine Worte auf Englisch wählend. Er ist selbst ein Komponist, den um so mehr das Handwerkliche interessiert, die Mittel, die eingesetzt werden. «Je tiefer ich in das Stück einstieg, desto mehr war ich vom Handwerk beeindruckt. Offenbach weiss, was er tut. Es klingt fruchtig, spirituoso, es ist schmackhaft. Es gibt keine schwachen Stellen.»
Berlioz, meint er, habe sich vielleicht gerade an Offenbachs Souveränität im Umgang mit der Harmonik gestört, den er als laienhaft abtat. «Berlioz selbst hatte, ehrlich gesagt, für Harmonik kein offensichtliches Talent. Ich glaube, er wusste selbst, dass es eine seiner Schwächen war. Aber er hat mit seiner Kritik Offenbach fast ein bisschen aus der Gesellschaft gestossen, und leider wusste er, was er tat. Dieses Machtausüben zwischen Musikern ist in Frankreich eine Konstante, von Lully, der Kollegen bekämpfte, bis zu Pierre Boulez.» Den Einfluss des grossen Serialisten hat Rhorer noch im Conservatoire der 1990er bemerkt, als er Komposition studierte. «Ich wollte über Tschaikowski, Puccini, Prokofjew sprechen, die wurden nicht in Erwägung gezogen. Und die Tendenzen in der zeitgenössischen Musik fand ich deprimierend, ideologisch.» Mir fällt dazu Steve Reich ein, der sich im New York der 1960er vor die Alternative gestellt sah, entweder so zu komponieren wie Boulez oder wie Cage, wenn er nicht ausgelacht werden wollte, und seinen eigenen Weg fand. «Erstaunlich, dass Sie das sagen! Tatsächlich hat mich Reich gerettet, seine Musik öffnete eine Welt. Aus irgendeinem Grund war er trotz der Neotonalität am Konservatorium akzeptiert, ich durfte mich in der Analyse mit ihm beschäftigen.» Boulez aber bleibt für Jérémie Rhorer «eine dunkle Figur», geradezu der Gegenpol zum zutiefst bewunderten Leonard Bernstein. Ein Filmmitschnitt von Mahlers Dritter wurde ihm zur Offenbarung. «Er lässt sie neu entstehen. Bei ihm ist jeder willkommen zur Feier der Menschlichkeit!»

Für das Anti-Elitäre hat der zurückhaltende Rhorer vielleicht um so mehr Sinn, als er keineswegs auf den lichten Höhen des Bildungsbürgertums zur Welt kam. Der Grundschüler im Pariser Vorort Ivry-sur-Seine wollte Tennisspieler werden, «aber alle Kursplätze an dem Mittwochnachmittag, der es sein musste, waren belegt.» Also schickte ihn seine Mutter in die Musikschule, wo er sich die Flöte aussuchte. Aber der Unterricht war von zweifelhafter Qualität, er wollte da weg. Eine Anzeige wies den Weg: Bei der Maîtrise de Radio France, dem Kinderchor des Rundfunks, konnte man sich bewerben. Jérémie sang vor und wurde angenommen. Dann kam der Tag, als Colin Davis den Chor dirigierte.

«Ich sah ihm zu, und das war’s. Wie er mit seinen Gesten die Musik erhob, den Klang modellierte… Die Schönheit des Ausdrucks war so offensichtlich. Da war ich zehn.» Von dem Tag an wollte Jérémie ein Dirigent werden. «Aber haben Sie nicht als Cembalist begonnen?» «Das war ein Weg, um da hinzukommen. In Paris gab es einen Dirigenten, Emil Tchakarov, der sagte mir, dirigieren kannst du nicht lernen. Er hatte es in Bulgarien gelernt, indem er grosses Repertoire für fünfzehn Musiker transkribierte, die er dann dirigierte. Er sagte, bau dir dein eigenes Orchester. Ich sammelte zuerst sechs Musiker, um Mozarts Adagio und Fuge zu dirigieren, da war ich sechzehn.» Mit 21 Jahren, mittlerweile studierter Cembalist und Komponist, gründete er mit dem Geiger Julien Chauvin das Orchester Le Cercle d’Harmonie, auf historischen Instrumenten spielend, dann ging es steil aufwärts. Die dritte CD nahmen sie schon mit Diana Damrau auf, mit Rhorer am Pult. 2011 debütierte das Ensemble im Londoner Barbican Centre, 2016 bei den Proms. Am Pariser Théâtre des Champs-Élysées produzierten sie die grossen Opern von Mozart. Dessen Don Giovanni dirigierte Rhorer 2017 auch beim Festival in Aix-en-Provence – elektrisierender, klarer hat man die Ouvertüre noch nicht gehört.

Dass er als Gastdirigent von Salzburg bis Edinburgh, von der Wiener Staatsoper bis zur Brüsseler La Monnaie unterwegs ist, bei Gewandhausorchester und Tschechischer Philharmonie, wird man von Rhorer selbst nicht erfahren, ohne nachzufragen. Eher schon, warum Verdi auf dem Stimmton A=432 Hertz bestand. Warum Poulenc depressiv wurde, als er sich mit Zwölftonmusik befasste. Wie unglaublich Tschaikowskis Meisterschaft in der Harmonik ist. Und wie eng es im Orchestergraben der Opéra-Comique zuging, als dort Barkouf uraufgeführt wurde. Keine gewerkschaftlich festgelegten Mindestabstände, «es war gestopft voll! Ein Aspekt, den man im Kopf haben sollte.» Und war es nicht so, vorhin bei der Probe, dass die Musiker auf dem riesigen Podium an der Kreuzstrasse einander näher zu kommen schienen, obwohl sich kein Stuhl bewegte? Ein bisschen Magie ist wohl auch dabei. Wir stehen auf, es regnet draussen nicht mehr, und der Dirigent lächelt. Nicht wegen Jacques Offenbach, sondern weil sein einjähriger Sohn und dessen Mutter ein paar Strassen weiter auf ihn warten. «Wir müssen noch zu Migros, einkaufen…»

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 96, Oktober 2022.
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Brenda Rae

Die amerikanische Sopranistin Brenda Rae war in Zürich bereits als Adèle in «Le Comte Ory» zu hören; nun singt sie die Maïma in Offenbachs «Barkouf». Brenda Rae ist regelmässig an Häusern wie dem Royal Opera House, Covent Garden, der Met in New York oder der Bayerischen Staatsoper zu Gast.

Aus welcher Welt kommen Sie gerade?
Aus der Welt der Zauberflöte bei den Salzburger Festspielen. Ich freue mich, dass ich mich jetzt in die Maïma in Barkouf vertiefen kann, denn obwohl die Königin der Nacht eine sehr aufregende Rolle ist, hat man damit nicht viele Möglichkeiten, eine Figur zu entwickeln, und das ist etwas, das mir in diesem Job grossen Spass macht.

Welches Bildungserlebnis hat Sie besonders geprägt?
Ich werde meinen Lehrern in Wisconsin ewig dankbar sein dafür, dass sie mir eine Szene aus Bellinis La sonnambula zugeteilt haben. Ich studierte Musik, hatte mich aber noch nicht für die Oper entschieden; als ich den Belcanto kennenlernte, habe ich mich Hals über Kopf in die Oper verliebt. Die Melodien, die Kreativität, die man für die immer neuen Verzierungen braucht, die Herausforderung, die Koloraturen mit Bedeutung zu füllen... all das hat dazu geführt, dass ich mein Leben der Oper gewidmet habe.

Welche CD hören Sie immer wieder?
Ich höre eigentlich ständig Musik, und ich liebe es, neue Musik zu entdecken. Je nach Stimmung höre ich Indie, House, traditionelle irische Musik oder Klaviermusik von Debussy, und obwohl ich keine Wagner-Kennerin bin, liebe ich das Rheingold-Vorspiel.

Was bringt Sie zum Lachen?
Dafür braucht es nicht viel, denn ich lache sehr gern. Ich bin «nah am Wasser gebaut», eine meiner Lieblingsphrasen auf Deutsch. Ich fühle sehr tief, sowohl Freude als auch Schmerz. Neulich musste ich laut lachen, weil mich die Schönheit der Berge, die Zürich umgeben, so berührt hat.

Welche Persönlichkeit würden Sie gerne einen Tag lang sein und warum?
Ich wollte noch nie jemand anders sein als ich selbst. Wenn ich jemanden auswählen müsste, dann wäre es eine Persönlichkeit, die vollkommen anders ist als ich selbst; von dieser Erfahrung könnte ich sicher etwas lernen.

In welche Zeitepoche würden Sie gerne reisen?
Ich fände es schwierig, in einer Zeit zu leben, in der ich nicht das Recht habe zu wählen, aber trotzdem wäre es faszinierend, Kunst und Kultur im Paris der 20er-Jahre zu erleben.

Welches künstlerische Projekt in der Zukunft, das Ihnen viel bedeutet, bereiten Sie gerade vor?
Ich freue mich sehr darauf, die Ophélie in Ambroise Thomas’ Hamlet an der Pariser Oper zu singen, nicht nur, weil es wunderschöne Musik ist, sondern auch, weil es das erste Mal ist, dass ich dieselbe Figur in zwei verschiedenen Opern singe. Ophelia habe ich in Brett Deans zeitgenössischer Version von Hamlet bereits an der Met gesungen, und ich werde es sehr geniessen, mit einer vollkommen anderen Musik noch tiefer in diese Figur einzudringen.

Wie wird die Welt in 100 Jahren aussehen?
Ich bin ein optimistischer Mensch, und ich möchte gern daran glauben, dass technologische Fortschritte uns helfen werden, den Klimawandel wirksam zu bekämpfen. Ich glaube an den Fortschritt und daran, dass man für das Gute in der Welt kämpfen muss. Ausserdem glaube ich an die Kraft von Live-Musik, und ich bin guter Hoffnung, dass die Oper weiterleben wird!

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 96, Oktober 2022.
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Omer Kobiljak

Omer Kobiljak stammt aus Bosnien und studierte am Konservatorium Winterthur. In der Spielzeit 2017/18 wurde er Mitglied des Internationalen Opernstudios, seit 2019/20 gehört er zum Ensemble des Opernhauses. Zuletzt war er u.a. als Macduff in «Macbeth» und als Froh in «Das Rheingold» zu erleben.

Aus welcher Welt kommen Sie gerade?
Nicht aus den Sommerferien, sondern von den Bregenzer Festspielen, wo ich auf der Seebühne zwei Fürsten gesungen habe: Yamadori in Puccinis Madama Butterfly und Alexis in Giordanos Siberia. Es war eine schöne, aber auch turbulente Zeit: Die Butterfly-Premiere musste leider unmittelbar vor meinem Auftritt unterbrochen werden, weil über dem See ein Gewitter aufzog... An den übrigen Tagen habe ich die Zeit am Bodensee aber sehr genossen!

Auf was freuen Sie sich in der Wiederaufnahme von Nabucco?
Ich kenne die Inszenierung von Andreas Homoki bereits: In der Premierenserie 2019 habe ich darin nämlich die kleine Partie des Abdallo gesungen. Damals war ich noch Mitglied des Internationalen Opernstudios. Unterdessen gehöre ich zum Ensemble und freue mich sehr darauf, diesmal die erste Tenorpartie in dieser Oper singen zu dürfen, den Ismaele, den 2019 Benjamin Bernheim gesungen hat.

Wer ist Ismaele?
In Verdis Oper, in der es um die Gefangenschaft des hebräischen Volks in Babylon geht, steht er auf der Seite der Hebräer. Heimlich liebt er aber Fenena, die Tochter des Babylonierkönigs Nabucco, die im Lauf des Stücks zu seinem Glauben konvertiert. Ismaele wird aber auch von Abigaille geliebt, der anderen Tochter Nabuccos. Dass Ismaele ihre Liebe nicht erwidert, verletzt Abigaille schwer, setzt bei ihr Hass und Verzweiflung frei und trägt zu ihrem tragischen Schicksal bei.

Welches Bildungserlebnis hat Sie besonders geprägt?
Ein wichtiger Schritt war für mich die Möglichkeit, hier im Internationalen Opernstudio anfangen zu dürfen. Aber ohne das Studium bei Jane und David Thorner, die mir das stimmliche und vor allem auch das mentale Werkzeug dafür mitgegeben haben, wäre ich wohl nicht so weit gekommen.

Welche CD hören Sie immer wieder?
Wahrscheinlich Puccinis La bohème in der Aufnahme mit Mirella Freni und Luciano Pavarotti, die Herbert von Karajan dirigiert. Die letzte Szene zwischen Rodolfo und Mimì berührt mich in dieser Fassung immer wieder aufs Neue.

Mit welchem Künstler würden Sie gerne essen gehen, und über was würden Sie sprechen?
Da gäbe es einige... Aber ich nenne auch hier Luciano Pavarotti. Seinetwegen habe ich angefangen zu singen! Und der Gesprächsstoff – sei es die Gesangstradition, in der er steht, oder das gute Essen – würde uns sicher nicht ausgehen.

Woran merkt man, dass Sie Bosnier sind?
An meinem Namen (lacht). Ich komme aus einer musikalischen Familie aus Bosnien, hatte aber das Glück, während des Bosnienkrieges in der Schweiz aufzuwachsen.

Was müsste passieren, damit die Welt auch in 100 Jahren noch existiert?
Ich glaube, das ist eine sehr subjektive Frage. Als Sänger bin ich auf jeden Fall froh, in einem Bereich arbeiten zu dürfen, der Menschen verbindet: Musik schafft es immer wieder, Menschen mit ganz unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Ansichten zusammenzubringen.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 94, September 2022.
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Donato Renzetti

Donato Renzetti ist eine Art Lordsiegelbewahrer der italienischen Dirigiertradition. Seit vielen Jahrzehnten steht der Italiener am Pult der renommiertesten Orchester und vermittelt den Geist und das Knowhow italienischen Musiziertemperaments. Am Opernhaus Zürich dirigiert er ab dem 11. September die Wiederaufnahme von Giuseppe Verdis «Nabucco». Zu Zürich hat er neuerdings eine ganz persönliche Beziehung: Er war der Lehrer von Gianandrea Noseda, dem Generalmusikdirektor des Opernhauses. Der 72-jährige Renzetti ist ein hochgeschätzter und überaus erfolgreicher Ausbilder von Dirigiertalenten

«Dii-daa-ba-ba-ba-daa-daa…» Wenn ich mit etwas nicht gerechnet habe bei diesem Gespräch, dann damit, dass mir ein 72 Jahre alter italienischer Dirigent nach zwei Minuten den Imperial March aus Star Wars vorsingt. Aber das tut er, tausendvierhundert Kilometer entfernt von mir, in Pesaro sitzend. Dass einer wie Donato Renzetti seinen Rossini, Verdi, Puccini rauf und runter kennt, ist klar. Aber John Williams? Nun, der ist nicht so weit davon entfernt. Bis vor einer halben Stunde hat der Maestro ein Programm mit Dvořák, Gershwin und eben der Musik aus Star Wars geprobt, für ein Konzert im nahen Macerata – und bei der Gelegenheit festgestellt, dass Williams’ Thema wie das berühmte Duett aus Puccinis Manon Lescaut beginnt: «Nell’occhio tuo profondo». Das singt er auch gleich vor. Zugeschaltet ist auch Ettore Volontieri, der junge Agent des Maestro, zum Übersetzen. So kann Renzetti in seiner Muttersprache etwas weiter ausholen als auf Englisch. Ein heiteres, breites, braungebranntes Gesicht hat er, wellige weisse Haare bis fast zu den Schultern, und die entspannte Stimme eines Geniessers. Ich habe bald das Gefühl, mit ihm auf einer Piazza zu sitzen, während er mit Vergnügen die Spurensuche fortsetzt. Puccini seinerseits, tief beeindruckt von Strawinsky, habe die letzte Arie der Liù seiner Turandot aus dem Sacre du printemps geholt, «Tu, che di gel sei cinta». Man kann es in der Sacre-Partitur nachlesen: Flöten und Bratschen bei Ziffer 50. Nein, kein Plagiat, eher eine kreative Verneigung. Und dann gebe es da in Turandot noch einen Gruss an Alexander Borodins Fürst Igor, zwei Fünf-Achtel-Takte, singulär im italienischen Opernrepertoire bis dahin.
Wenn das so weiter geht, werde ich in dieser Stunde gar nicht mehr erfahren, wie Renzetti selbst zur Oper, zur Musik gekommen ist. Aber als er zu La bohème erwähnt, dass er in Karajans berühmter Produktion 1963 an der Scala mitgespielt habe, als Schlagzeuger, stutze ich. Mit dreizehn??? «Er war der jüngste Orchestermusiker in ganz Europa», wirft Ettore ein. Nun muss der Maestro noch weiter ausholen und erklären, wie es dazu kam, dass er als Siebtklässler aus der tiefsten Provinz, einem Städtchen in den Abruzzen, im Orchestergraben des Haupttempels der italienischen Oper landete. «Schlagzeugspielen war in meinem Körper von Anfang an», meint er, «in meiner Familie waren alle Schlagzeuger.» Schon sein Vater war mit der Banda grossgeworden, einem Blasorchester aus Amateuren, wie es sie in unzähligen italienischen Kleinstädten gab. Torino di Sangro, etwa auf der Höhe von Rom nahe der adriatischen Küste gelegen, hatte 3000 Einwohner, und in der Banda spielten 70 davon. «Daran sehen Sie, wie wichtig in der Provinz die Musik war, kultiviert auf populäre Weise. Wenn wir Opernthemen spielten, wurden die Gesangspartien von Trompete und Posaune übernommen. Das ist eine sehr alte Tradition im Zentrum und im Süden Italiens.» Hier also entfaltete sich Donatos Perkussionstalent in Mozartschem Tempo, hier antwortete schon der Grundschüler auf die Frage nach «il tuo futuro»: «Ich will Dirigent werden und nach New York.» Bei dem Vorhaben blieb er auch als Gymnasiast, zum Entsetzen des Vaters. Der wünschte seinem Sohn, bei allem Talent, «einen soliden Beruf, etwas in der Wirtschaft». Es war die Mutter, die Donato heimlich beim Konservatorium in Mailand anmeldete.
Schlagzeug brauchte er ja nicht mehr zu studieren, dafür Klavier, Violine, Komposition, Dirigieren. Sein erstes Dirigat ergab sich, als der Leiter eines Mailänder Sonntagsorchesters aus Amateuren, in dem Donato Renzetti als Schlagzeugprofi mitwirkte, nicht zur Probe erschien. «Sie wussten, dass ich Dirigieren studierte, also baten sie mich, einzuspringen. Daraus wurden fünf Jahre, in denen ich dort dirigierte und Erfahrungen machen konnte.» 
Unterdessen wurde er in den späten 1960ern als Schlagzeuger zunehmend gebraucht bei zeitgenössischer Musik. «Die Orchester waren darauf nicht vorbereitet, es war ein grosses Glück für mich, dauernd gefragt zu werden. Ich spielte John Cage, Iannis Xenakis, Luciano Berio… Das hat mir Spass gemacht. Ob es für die Zuhörer auch ein Spass war, da bin ich nicht so sicher.» Mit 27 Jahren hatte er sein Dirigentendebüt an einer richtigen Bühne: Rossinis Il signor Bruschino in Bologna. Bei der Gelegenheit verliebte er sich in die argentinische Sopranistin Silvia Baleani, und umgekehrt, und für immer. «Es ist auch traurig, davon zu sprechen», sagt er. «Ich habe sie vor zwei Monaten verloren, nach 45 Jahren. Und das erste, was ich nach ihrem Tod zu dirigieren hatte, war… Bruschino!»
Ich habe mir Silvia Baleanis Carmen auf YouTube schon vorher angehört, grossartig. Wie viele aus dieser Generation hat sie eine besondere, mühelose, bezwingende Wucht und Persönlichkeit, die man heute nicht oft findet. Warum eigentlich nicht? «Italien», sagt er, «hatte eine unbeschreibliche Vielfalt. Jedes Städtchen hatte ein Theater und wollte eine Oper produzieren. Es fehlten die Mittel, also gab es nur ein, zwei Tage Probe. Unglaubliche Möglichkeiten für unerfahrene Sänger, sich auf der Bühne zu präsentieren. Piero Cappuccilli erzählte mir, dass er vor seinem Debüt als Rigoletto an der Scala die Rolle schon 350 Mal in kleinen Theatern gesungen hatte. So hatte er Zeit, die Rolle zu formen.» Diesen Nährboden gebe es nicht mehr. Doch Renzetti ist nicht nostalgisch. «Leute wie ich sind Brücken von dort in die Zukunft.» In den 45 Jahren seit seinem Debüt ist ungeheuer viel passiert. Der Wunsch des Grundschülers wurde wahr. Er wurde ein international gefragter Orchesterleiter. Er kam nicht nur bis nach New York an die MET, sondern weiter, nach Dallas, Chicago, San Francisco, Buenos Aires, Tokio und alle bedeutenden Häuser.
Drei Jahre später ergriff der Mann aus den Abruzzen seinen dritten Beruf. Donato Renzetti begann, sein Dirigentenhandwerk als Lehrer weiterzugeben. Die Dreijahreskurse, die er seit 1986 in Pescara unfern seines Geburtsorts gab, zogen bald die Talentiertesten an. 1992 kam ein Konservatoriumsabsolvent zu ihm, «etwas schüchtern, sehr ernst und sehr gut vorbereitet.» Renzetti nahm ihn im Auto mit von Milano nach Pescara. «Ich spielte ihm auf der Fahrt Pop vor, musica leggiera, denn er sprach nur über klassische Musik. Er brauchte einen breiteren Horizont.» Der junge Mann, Gianandrea Noseda, der Generalmusikdirektor des Opernhauses Zürich, wurde einer seiner besten Schüler. Zum Dirigieren, sagt Renzetti, gehört nicht nur die Technik, die als «Skelett» für jeden in dem Beruf unabdingbar sei, sondern auch die Kenntnis der sozialen und politischen Bedingungen der Musik, des Kontexts, der Biografien. Ganz wichtig ist ihm, dass seine Schüler sich nicht nur mit Opern befassen, sondern auch mit dem sinfonischen Repertoire. Und mit der Vielfalt der Musiksprachen. «Ich glaube nicht an Spezialistentum. Ein Dirigent muss viele Stile kennen. Man kann nicht alles gut machen, aber alles verstehen. Und natürlich kann ein deutscher Dirigent grossartig italienische Opern dirigieren. Umgekehrt ebenso.» Womit wir bei zwei noch unerfüllten Träumen von ihm wären: Tristan und Isolde, «Tristano», wie er sagt, und Pelléas et Mélisande.
«Ich bin noch jung», sagt der 72-Jährige lachend, um dann klarzustellen: «Diese Opern kapiert man nicht als junger Mann. Man braucht Reife, die Erfahrungen des Lebens.» Aber Wagner und Debussy sind nicht die Komponisten, mit denen er am liebsten essen ginge. «Das kann nur Rossini sein», sagt er und erzählt eine Geschichte. «Rossini hat zweimal in seinem Leben geweint. Einmal, als seine Mutter starb, der er immer schrieb, während er komponierte. Das andere Mal, als er in Paris einen fantastischen Truthahn zubereitet hatte, un tacchino, und der Braten vom Boot in den Fluss fiel. Für ihn war die Küche so wichtig wie die Mutter!» Für Renzetti wäre Rossini jetzt wohl noch aus anderen Gründen ein willkommener Tafelfreund. Zum einen sitzt der Maestro ja in der Geburtsstadt des Komponisten. Und zum anderen verdankt er ihm die Liebe seines Lebens.

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 94, September 2022.
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Ein Teil der Gesellschaft

Das Opernhaus Jung ermöglicht Jugendlichen im Rahmen des Projekts «#Angels» eine Choreografie zu erarbeiten und auf der Studiobühne aufzuführen. Darunter sind auch Integrationsschüler:innen der Fachschule Viventa. Ein Gespräch mit der Klassenlehrerin Kathrin Lutterbeck

Kathrin Lutterbeck, ich war gerade bei einer Choreografie-Probe des Projekts #Angels und muss sagen, dass ich selten eine so konzentrierte Schulklasse erlebt habe. Sind deine Schüler:innen immer so diszipliniert?
Die Jugendlichen, die an diesem Projekt teilnehmen, kommen aus drei verschiedenen Integrationsklassen und sind alle freiwillig dabei. Wir zwingen niemanden. Im Vergleich zu einer regulären Schulklasse ist die Altersspanne ausserdem viel breiter: Viele sind nicht mehr in der Pubertät – oder haben nie eine gehabt. Anders als bei einer Klasse, die aus lauter Teenagern besteht, übernehmen deshalb die Älteren die Verantwortung und bringen eine andere Dynamik in die Gruppe. Disziplinarisch haben wir in unserer Schule aber auch sonst kaum Probleme.

Du bist die Lehrerin einer dieser Klassen. Auf welcher Schulstufe unterrichtest du?
Wir bieten ein 10. Schuljahr an, ein sogenanntes Berufsvorbereitungsjahr. Die Jugendlichen in unseren drei Klassen sind aber alle erst seit kurzem in der Schweiz. Davor sind sie in einem anderen Land zur Schule gegangen, einige von ihnen haben noch nie eine Schule besucht. In der Regel können sie nicht gut genug Deutsch, um sich auf eine Lehrstelle zu bewerben. Unser Ziel ist es, die Schüler:innen soweit vorzubereiten, dass sie sich in einem Jahr bei einem Lehrbetrieb vorstellen können. Das Choreografie-Projekt des Opernhauses, an dem wir bereits in der Vergangenheit mit mehreren Klassen teilgenommen haben, ist für die Schüler:innen ein grosser Gewinn, auch deshalb, weil sie in diesem Zwischenjahr lernen sollen, sich ausserhalb der Schule selbständig in Zürich zu organisieren.

Warum sind die Jugendlichen in deiner Klasse nach Zürich gekommen?
Sie sind aus ganz unterschiedlichen Gründen hier: Die einen haben seit Geburt einen Schweizer Pass, sind aber beispielsweise in Südamerika aufgewachsen und durch einen Umzug der Eltern neu in die Schweiz gekommen, wo sie nun in kurzer Zeit in unsere Sprache und Kultur hineinfinden müssen. Andere, die beispielsweise aus Syrien, Afghanistan, Eritrea oder Somalia kommen, haben eine Flucht und oft ein schreckliches Schicksal hinter sich. Die einen sind also mit dem Flugzeug direkt in die Schweiz gekommen, die anderen haben teilweise eine mehrjährige Reise hinter sich mit Erfahrungen im Gefängnis, im Flüchtlingsboot und all jenen Dingen, von denen man in den Zeitungen liest. Man kann diese Schicksale weder kurz zusammenfassen noch vergleichen. Entsprechend unterschiedlich leben die Jugendlichen hier auch: Einige wohnen bei der Familie, andere wissen gar nicht, wo ihre Familie ist oder ob es sie noch gibt.

Was bringst du persönlich für die Arbeit mit einer solchen Klasse mit?
Ich bin gelernte Primarlehrerin und habe mich schon sehr früh für die Integration engagiert. Mit 30 Jahren bin ich an die Fachschule Viventa gekommen und hatte damals das Gefühl, bereits meine Lebensstelle gefunden zu haben. Die Arbeit mit den Jugendlichen ist das, was ich am liebsten mache. Besonders fasziniert mich an der Integrationsarbeit die Vielseitigkeit. Mit Schubladendenken kommt man hier nicht weit. Jedes Schicksal ist einzigartig, und alles kommt immer anders als man denkt...

Wie würdest du die Aufgabe der Integration definieren?
Für mich geht es darum, eine Lust zu wecken, hier zu partizipieren und sich nicht zu verschliessen: Die Jugendlichen sollen das Gefühl haben, ein Teil der Gesellschaft, ein Teil von diesem Zürich zu sein. Und sie sollen eine gewisse Selbstsicherheit kriegen: Jeder hat das Recht, hier zu sein und einen Platz einzunehmen. Sie müssen auch lernen, dass sie für das, was sie hier kriegen, nicht öfter «Danke» sagen müssen als die einheimischen Jugendlichen.

Wie sieht der Schulalltag deiner Klasse aus, wenn gerade keine Choreografie- Probe ansteht?
Wir unterrichten sie in Deutsch, Allgemeinbildung, Sport, Informatik und Mathematik. In meiner Klasse habe ich einige Schüler:innen, die noch nie eine Schule besucht haben. Um sie für die Lehrstelle vorzubereiten, geht es in diesem Passerelle-Jahr darum, ihren Rucksack zu füllen, oder auch einfach mal zu sehen, was überhaupt drin ist. Sie bringen ja auch viel mit. Wir machen eigentlich eine Art Standort bestimmung. Das #Angels-Projekt kommt in dieser Phase sehr gelegen, weil es in einem choreografisch-musikalischen Erarbeitungsprozess ja auch darum geht, sich zu zeigen, seinen Platz einzunehmen, das Verhalten in einer Gruppe auszutesten, den Umgang miteinander zu lernen und vor allem auch zuzuhören. Aber die Jugendlichen dürfen sich in diesem Rahmen auch einmal ausprobieren und einbringen. Das finde ich wichtig. In der Schule verhalten sie sich manchmal fast zu angepasst.

Du hast am Anfang gesagt, dass einige der Jugendlichen «gar keine Pubertät hatten». Hat diese Angepasstheit damit zu tun?
Wenn man mit 14 Jahren in Afghanistan eine Flucht beginnt, ist das genau die Zeit der Pubertät und in diesem Fall eine Zeit, in der man von heute auf morgen auf sich selbst gestellt ist und «erwachsen» sein muss. Die Pubertät ist aber eigentlich die Phase, in der es darum geht, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden oder ihn sich zu erkämpfen. Diese Arbeit müssen wir mit unseren Schüler:innen verstärkt nachholen. Das kann auch mal persönlich und emotional werden. In meiner Klasse habe ich deutlich mehr Männer als Frauen. Viele glauben deshalb wohl, dass ich hier mit einem disziplinlosen Tohuwabohu zu kämpfen habe. Das ist aber nicht so. Niemand hier ist daran interessiert, sich Feinde zu machen.

Es würde dem migrationskritischen Teil unserer Gesellschaft gut tun, ein paar Stunden in eurer Schule oder in einer der Choreografie-Proben zu sitzen…
Ja, die Vorbehalte sind krass. Das erleben wir ständig. Wir gehen demnächst eine Woche ins Schullager und merken, dass die Leute dort zuerst einmal Angst haben: Angst, dass unsere Jugendlichen im Coop stehlen, Angst, dass sie laut sind und pöbeln. Sobald sie aber bereit sind, hinzuschauen und diese Menschen zu erleben, merken sie, dass diese Ängste weitgehend unbegründet sind. Unsere Jugendlichen wollen niemandem Angst machen. Aber sie haben viel Energie und Empathie. Vor zwei Wochen ist ein Schüler aus der Ukraine in unsere Klasse gekommen. Er kann noch kaum Deutsch. Aber für die Schüler war es völlig selbstverständlich, sich um ihn zu kümmern und ihn aufzunehmen. Sie wissen ja aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn man nichts versteht. Gestern hat dieser Schüler seinen ersten Vortrag gehalten. Er konnte noch nicht viel sagen. Aber es haben alle wie wild applaudiert! Mit der gleichen Haltung begegnen sie auch dem Schüler, der im Rollstuhl sitzt. Er wird nicht überbehütet, aber es ist selbstverständlich, dass er überallhin mitgenommen wird. Er gehört dazu.

Das konnte ich auch in euren Proben beobachten…
Er wurde in Syrien von einem Auto angefahren. Ein Arzt hat ihn dann in die Schweiz gebracht, damit er hier bessere Behandlungsmöglichkeiten hat. Sein Kollege, der mit ihm zusammen in den Unfall verwickelt wurde, ist gestorben, er selbst hat schon viele Operationen hinter sich. Ich finde es erstaunlich, wie gut er in diesem Projekt mitmacht. Manchmal vergesse ich, dass er im Rollstuhl sitzt.

Ich gehe davon aus, dass ihr als Lehrpersonen regelmässig mit traumatischen Erfahrungen konfrontiert seid. Gehört es zu eurer Aufgabe, sie zu thematisieren und aufzuarbeiten?
Früher habe ich oft versucht, diese Erfahrungen in den Unterricht einzubeziehen. Heute ist es mir wichtiger, den Schüler:innen eine «normale» Zeit zu ermöglichen. Sie sollen nicht täglich darauf reduziert werden, wie und warum sie hierhingekommen sind und was ihnen in der Vergangenheit alles passiert ist. Sie sollen auch einmal normal sein dürfen. Das #Angels-Projekt hilft ihnen dabei, sich mit etwas Spielerischem auseinanderzusetzen, mit einer Choreografie, vergleichsweise einer «Nichtigkeit», und nicht immer mit den existenziellen Fragen, die viele von ihnen mitbringen und deswegen schlaflose Nächte haben. Es ist mir wichtig, ihnen viele positive Gefühle mitzugeben.

Warum ist die Zusammenarbeit mit dem Opernhaus für euch interessant? Ist das die Kultur, die Jugendliche mit Migrationshintergrund benötigen?
Einmal die Möglichkeit zu haben, auf einer Bühne des Opernhauses zu stehen und die Erfahrung zu machen, dass Leute kommen, um ihre Aufführung zu sehen, das erschliesst den Jugendlichen aus unseren Klassen auf jeden Fall einen Bereich, mit dem sie sonst nie in Kontakt gekommen wären. Es geht uns in der Integration ja darum, dass sie sich auf verschiedenen Ebenen in der Stadt zu bewegen lernen und nicht nur in ihrer Community. Dass diese Produktion einen so hohen Stellenwert hat und dass die Schüler:innen professionell mit Bühne, Kostüm, Licht, Musik und viel Organisation umgeben werden, das ist für ihr Selbstbewusstsein viel wert. Es geht um die Erfahrung, etwas zu leisten und dann dafür gefeiert zu werden. Aber sie müssen dabei auch lernen, durchzuhalten. Irgendwann kommt bei vielen der Moment, in dem sie sich denken: Das ist mir jetzt doch alles zu viel. Oder sie können sich am Morgen nicht motivieren, zur Probe zu gehen. Für diejenigen, die gerade volljährig geworden sind und jetzt alleine in Zürich leben, ist das zuweilen eine richtige Herausforderung.

Teil des #Angels-Projekts ist es auch, dass ihr mit der Klasse eine Ballett-Vorstellung am Opernhaus anschaut. Wie hat den Jugendlichen der Ballettabend Angels’ Atlas gefallen?
Tosender Applaus! Ich glaube, die Aufführung hat ihnen sehr gut gefallen. Die drei Choreografien von Crystal Pite und Marco Goecke haben aber auch Unsicherheiten ausgelöst und Fragen aufgeworfen. In Angels’ Atlas geht es ja auf emotionale Weise um Erfahrungen des Todes und des Jenseits, das andere Stück von Crystal Pite, Emergence, kann mit seiner Organisation von insektenartigen Schwärmen auch leicht als militärisch aufgefasst werden. Aber allein die athletischen Körper der Tänzer:innen machen auf Jugendliche in diesem Alter natürlich grossen Eindruck. Ausserdem wurden wir von der Tanzpädagogin Bettina Holzhausen sehr gut vorbereitet und haben richtig tolle Plätze gekriegt. Wir wurden nicht irgendwo in der hintersten Reihe parkiert. Die Schüler:innen wissen, wie teuer diese Plätze normalerweise sind, und sie schätzen das sehr.

Bringt sie das nicht wieder in die Lage, besonders dankbar sein zu müssen?
Nein, dieses Gefühl versuche ich ihnen nicht zu geben. Ich sage ihnen: Nehmt das Angebot an und geniesst es. Wahrscheinlich werdet ihr nie mehr auf über 100 Franken teuren Plätzen im Opernhaus sitzen. Die Schüler:innen wollen natürlich schön angezogen zu so einem Abend gehen. Einzelne haben sich in der Vergangenheit deshalb auch in Unkosten gestürzt. Das versuchen wir seither zu vermeiden. Ich selbst habe während der Vorstellung den Stress, zu kontrollieren, dass sie nicht zu viel am Handy hängen; aber Bettina Holzhausen sagt, der unkontrollierte Umgang mit dem Handy sei nicht nur bei den jungen Zuschauer:innen ein Problem... Der organisatorische Aufwand für dieses Projekt ist für uns Lehrpersonen manchmal sehr gross. Zuweilen frage ich mich, warum wir wieder zugesagt haben. Aber wenn die Jugendlichen es am Ende geschafft haben und unter grossem Jubel bei der Aufführung auf der Studiobühne stehen, dann weiss ich, dass es sich gelohnt hat!

Das Gespräch führte Fabio Dietsche
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 93, Juni 2022.
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Louise Alder

Louise Alder singt die Susanna in der Zürcher Neuproduktion von «Le nozze di Figaro». Sie war Ensemblemitglied an der Oper Frankfurt, wo sie u.a. Susanna, Pamina, Musetta, Despina und Sophie («Werther») sang. Sie trat ausserdem an Häusern wie der Wiener Staatsoper (ebenfalls als Susanna), der Bayerischen Staatsoper und am Teatro Real Madrid auf.

Eine Eigenschaft gibt es, die auch jenseits der Bühne die meisten Sängerinnen und Sänger von Opern verbindet. Sie können unheimlich schnell umschalten, sich ohne Anlauf ganz auf eine Situation einlassen, offen reagierend auf alles, was da kommen mag. Auch wenn es die Fragen eines Journalisten sind, der jetzt eigentlich nicht so in den Plan passt, jetzt, da das Flugzeug aus London verspätet landete und die Bühnenprobe in 45 Minuten beginnt. Louise Alder nimmt in der Zürcher Opernkantine so entspannt Platz, als wäre es ihr freier Nachmittag. Kaum hat sie einen Becher Kaffee vor sich stehen, sprechen wir erstmal über eine Zofe aus dem 18. Jahrhundert, als hätten wir alle Zeit der Welt dafür.

Wie kommt es überhaupt, dass diese Susanna im Figaro uns interessieren kann, eine Subalterne in einer längst Geschichte gewordenen feudalen Gesellschaft? Louise Alder, die diese Rolle bislang in vier verschiedenen Produktionen sang, verweist keineswegs gleich auf Mozarts Musik. «Sein Librettist Da Ponte», meint sie, «war sehr clever, wie er die Story anlegte. Das war ein Skandal zu der Zeit, Diener als zentraler Teil der Handlung. Ich wuchs natürlich nicht mit Dienern auf, ich komme andererseits auch nicht aus einer Familie von Dienern. Aber ich verstehe die Schwierigkeiten in ihrem Leben. Das ist näher an uns als Händels Götter und Könige, und niemand wird in einen Bären verwandelt.» Sie lacht.

Es macht ihr Spass «to inhabit the role, diese Rolle zu bewohnen». Denn bei allem, was sich von einer Produktion zur andern ändere, «her spirit never changes. Sie ist stark und positiv, gerissen, clever. Sie hat die Fäden in der Hand. Und sie fühlt sehr viel.» Was allerdings sie fühlt, das sei sehr abhängig vom Ensemble, nicht nur vom Stück und von der Regie. «Der Graf des einen Sängers ist anders als ein anderer, darauf reagiere ich.» Spannend findet sie es auch, beim Leben mit einer Rolle über Jahre hin zu merken, wie sie selbst sich entwickelt, «je besser du das Stück kennst, desto besser kannst du es spielen». Lebenserfahrung brauche man auch, um in eine Rolle zu finden. Dass sie selbst Angst und Schmerz kenne – wovon ihr helles, offenes Gesicht jetzt keine Spur verrät –, helfe ihr für die Pamina in der Zauberflöte, «sonst ist es schwer, das zu machen. Ich bin ja ganz froh, dass meine Mutter mich nie aufgefordert hat, jemanden zu töten, so wie die Königin der Nacht das tut.»

Ganz besonders nicht diese Mutter. Die Geigerin Susan Carpenter-­Jacobs hat das auf historischen Instrumenten spielende Orchestra of the Age of Enlightenment in eben dem Jahr 1986 mitbegründet, in dessen November ihre Tochter zur Welt kam. Und als im Sommer 1989 die Proben zum Figaro in Glyndebourne begannen, mit dem 34­jährigen Simon Rattle am Pult, war die Zweijährige dabei. «Es war eins der ersten Stücke, die ich je hörte. Meine ganze Kindheit lang wurde ich da mit hingenommen, deswegen ist Mozart bei mir wirklich im Blut.» Eine Garantie für eine Musikerlaufbahn sei das keineswegs. «Die Kinder der Kollegen meiner Eltern, meine Freunde, haben sich sehr unterschiedlich entschieden. Einige wollten unbedingt Musik machen, andere konnten sich gar nichts Schlimmeres vorstellen.» Sie selbst brauchte eine Weile, «um Oper nicht als etwas zu sehen, wo meine Eltern mich hinschleppten».

Als Teenager begann sich Louise für die Stories, Inszenierungen, Sänger:innen des Musiktheaters zu interessieren, «und im Kopf hatte ich einen Traum vom Singen, ganz sicher. Aber ich wusste nicht, wie das gehen sollte. Mein Vater singt im Extrachor von Covent Garden, er ist kein Solist». Von früh an spielte sie Geige und Oboe, «aber direkt auf ein Music College wollten meine Eltern mich nach der Schule nicht gehen lassen. Sie wollten eine breitere Ausbildung, also studierte ich Musikwissenschaft in Edinburgh.» Und da gab es eine sehr gute Gesanglehrerin, die sie auf die Bahn brachte. Und auch gleich auf die Unibühne, wo Louise ihre Liebe zum Musical und ihr Tanztalent auslebte. Aber ihr Interesse an Oper überwog und führte sie ans Royal College of Music nach London. «Ich war gesangstechnisch überhaupt keine Naturbegabung», meint sie, «und musste wirklich arbeiten, um meinen Weg zu finden.» Sie schwärmt von den Lehrerinnen, die ihr dabei halfen. «Patricia MacMahon hat mir klargemacht, dass ich ohne guten Werkzeugkasten nicht weit kommen würde. Mein Musikverständnis war weit über meiner Technik, und bei ihr begann ich Freude am Verlangsamen zu finden, Schritt für Schritt die Löcher auszufüllen. Und Dinah Harris konnte mir genau sagen, was physiologisch in mir vorgeht, ich wollte das so gut kennen, wie ich die Geige kenne. Sie half mir, den Kehlkopf zu entspannen. Es ging darum, die natürliche Brustresonanz, die ich beim Sprechen habe, in meine Singstimme zu inkorporieren, damit es wirklich wie ich klingt: Das ist Louise, das ist ihr Klang! Was wir Sänger tun, ist unnatürlich, aber es sollte so natürlich klingen wie möglich.»

Für kurz unterbricht uns der Kantinenlautsprecher. «In wenigen Minuten beginnt das Vorsingen auf der Bühne. Good evening ladies and gentlemen…» Das kennt Louise auch, acht Jahre ist es jetzt her. «Nach drei Jahren am Royal College of Music nahm ich an einem Wettbewerb teil, den ich nicht gewann. Aber Bernd Loebe hörte mich da, und ich durfte bei ihm in Frankfurt vorsingen.» Es wurden fünf Jahre im Ensemble der Frankfurter Oper daraus, «mein Gehirn stand in Flammen! Immer mehrere Produktionen gleichzeitig, manche alt, manche neu. Diese Erfahrung hätte ich im United Kingdom nie machen können, es gibt da kein Ensemblesystem. Und ich fühlte mich als Teil einer grossen Familie.»

Es wundert sie ein bisschen, dass nicht viel mehr britische Sänger:innen auf dem Kontinent auftreten. «Es gibt im UK nur sechs grössere Opernhäuser, das reicht nicht! Zudem werden die darstellenden Künste in meiner Heimat nicht als etwas Wichtiges gesehen, das wurde während der Pandemie sehr deutlich. Aber sie kämpfen. Und sie kämpfen gut!» Alle kreativen Leute auf den britischen Inseln, sagt sie, fühlen sich europäisch. «Wir spielen europäische Musik! Der Gedanke, dass Menschen das als Teil ihrer Identität nicht mehr wollten, war uns vollkommen fremd. Der Brexit hat das UK entzweit. Wir haben das Gefühl, dass es kein Vereintes Königreich mehr ist.» Was fand sie schlimmer, Brexit oder Lockdown? Louise lacht, aber bitter. «Die Pandemie hat die Folgen des Brexit maskiert. Wer den für eine gute Idee hielt, kann jetzt nicht klar erkennen, dass es keine gute Idee war, denn die Pandemie war schlimm für alle, besonders für alle Freelancer, mit Geldsorgen und Identitätskrisen.» Sie selbst hat in der auftrittslosen Zeit social media als Kommunikationsmittel entdeckt. «Das richtete mich auf! Es waren 140 junge Sängerinnen und Sänger aus 25 Nationen, denen ich Feedbacks geben konnte. Ich wäre im Himmel gewesen, wenn es schon während meines Studiums die Möglichkeit gegeben hätte, Tipps von Leuten at the top of their game zu bekommen!»

Auf der Höhe des Spiels ist sie nun selbst, die wenig später, noch mit dicken Sportschuhen und schon mit Zofenschürze, dem Grafen gegenübersteht, dritter Akt, erste Szene. Susanna lässt ihn auf ein Date hoffen, das ist Teil ihres Plans, sie lügt also. Oder? Es fasziniert sofort, wie Louise Alder und Daniel Okulitch die Ambivalenzen offenlegen, die da vom Klavier kommen und aus den Gesangslinien. Eine kleine Handbewegung, ein kurzer Blick, ein Ton, den sie von ihm übernimmt… Ja, der Conte ist ein egomaner Macho, aber seine Sehnsucht ist tief. Ja, Susanna spielt mit ihm, aber ungefährlich ist das Spiel nicht. Daran wird nun gefeilt. Heikle Intimität, feine Komik, ein Labor der Emotionen, Hochspannung, die sich zwischendurch in Probenspässen entlädt. Mit Mozart würde sie gern einen trinken gehen, hat Louise gesagt, die so alt ist wie der Komponist, als er starb. «Er kannte das Leben, und wie. Das Leben muss zu seiner Zeit auf eine Weise hart gewesen sein, die wir nicht ergründen können. Und er hatte einen Sinn für dreckige Witze. Das mag ich sehr.»

Text von Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 93, Juni 2022.
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Morgan Pearse

Morgan Pearse gibt mit dem Figaro in Mozarts «Le nozze di Figaro» sein Hausdebüt in Zürich. Er wurde in Australien geboren und studierte an der Royal College of Music International Opera School in London.

Aus welcher Welt kommen Sie gerade?
Aus dem Kosmos von Georg Friedrich Händel, in den ich in San Francisco und Deutschland eingetaucht war, bevor ich für Figaro nach Zürich kam.

Wie lange begleitet Mozart Sie schon durch Ihr Sängerleben?
Die erste Partie, die ich gelernt habe, war Sarastro an der High School. Figaro war dann die erste Rolle, die ich nach Abschluss meiner Ausbildung überhaupt auf einer Bühne gesungen habe, allerdings der in Rossinis Il barbiere in Siviglia. Er begleitet mich also schon während meiner gesamten Laufbahn.

Was macht einen guten Figaro aus?
Ich finde, er muss Verletzlichkeit zeigen, besonders in der Eifersuchts-Arie des vierten Aktes. Figaro sucht immer Lösungen für die auftauchenden Probleme, aber er befürchtet, dass alles vergeblich ist, weil er glaubt, dass seine Susanna lieber den Grafen will. Das stürzt ihn in eine Eifersuchtsspirale.

Woran merkt man, dass Sie als gebürtiger Australier in London zu Hause sind?
Auf jeden Fall an meiner Vorliebe für eine gute Tasse Kaffee am Morgen! Manche mögen sagen, dass ein «Flat White» eine australische Sucht ist, ich sage nur: Er ist köstlich!

Welche Bildungserfahrung hat Sie besonders geprägt?
Ich hatte das grosse Glück, in der High School von Musik umgeben zu sein. Das ist leider nicht normal für Kinder in Australien. Bei uns war mehr als ein Drittel der Schule im Chorprogramm. Ich war jedes Mal beseelt, wenn wir Bach gesungen haben.

Welches Buch würden Sie am liebsten nie aus der Hand legen?
Vor allem während der Pandemie habe ich wieder angefangen, viel zu lesen, vor allem Sachliteratur. Aber ein Buch, das ich andauernd benutze, ist das neue Kochbuch meines Freundes Alan, in dem es viele Gerichte gibt, die man einfach in einem Topf kochen kann. Perfekt, wenn man nicht zu Hause ist und viele Proben hat.

Welche CD hören Sie immer wieder?
Schon so lange ich denken kann, bin ich ein Fan von Händel, vor allem, weil er mit einfachen Harmonien so grosse Emotionen erzeugen kann. Ich liebe die Figur der Rodelinda und höre mir Dorothea Röschmann in dieser Rolle immer wieder an. Wunderschön!

Welchen nutzlosen Gegenstand in Ihrer Wohnung lieben Sie am meisten?
Ich hatte diese etwas zwanghafte Angewohnheit, Duschhauben aus Hotelzimmern mit nach Hause zu nehmen, ohne zu wissen, was ich eigentlich mit ihnen anfangen soll. Während der Pandemie haben mein Partner und ich, wie viele auch, angefangen, Sauerteigbrot zu backen. Und es war praktisch, die Hauben zum Abdecken des Brotes während der Gärung zu verwenden. Also waren sie doch nicht ganz so nutzlos.

Sie schmeissen eine Party für Mozart. Was gibt es zu trinken und zu essen? Und über was reden Sie mit ihm, bevor er betrunken ist?
Ich würde natürlich darauf bestehen, selbst für das Catering zu sorgen. Vielleicht ein australisches BBQ? Dazu grosse Mengen von kräftigem australischen Shiraz. Im Gespräch müssten wir ein für alle Mal die Salieri-Gifttod-Debatte aus der Welt schaffen. Dass Salieri Mozart vergiftet hat, ist ja Unsinn, aber immer noch eine unausrottbare Legende.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 93, Juni 2022.
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Hanna-Elisabeth Müller

Hanna-Elisabeth Müller sang am Opernhaus Zürich zuletzt Ilia in Mozarts «Idomeneo». Ihren internationalen Durchbruch erlebte sie 2014 als Zdenka in Strauss’ «Arabella» bei den Salzburger Osterfestspielen. Sie war Ensemblemitglied an der Bayerischen Staatsoper und singt als Gast an grossen Bühnen wie der New Yorker Met oder der Wiener Staatsoper Rollen wie Donna Anna, Susanna und Elettra («Idomeneo»).

An einem Vormittag mitten in der Spielzeit kann man sich auf der Piazza della Scala in Mailand kaum vorstellen, was für ein Trubel hier am grossen Abend des Jahres herrscht, zum berühmten Saisonstart im Dezember, ein Ritual mit Demonstranten und Zaungästen, Polizei zu Pferd und zu Fuss, mit Prominenz und Paparazzi. Selbst der Abend von gestern scheint schon wieder weit weg zu sein, eine Vorstellung von Don Giovanni, in der Regie von Robert Carsen. Die Scala steht fast bescheiden im Licht eines bewölkten Frühlingsvormittags, und im Café Il Foyer gleich nebenan findet man leicht einen freien Tisch. Der jungen Frau, die sich da niederlässt, sieht man nicht an, dass sie gestern Abend eine der anspruchsvollsten, abgründigsten Partien für lyrischen Sopran gesungen hat, verkörpert in einer faszinierenden Mischung aus Verwirrung und Entschlossenheit, die Stimme glühend und silbern zugleich. Hanna-Elisabeth Müller wirkt so frisch, als hätte sie eine Reihe erholsamer Tage in Mailand hinter sich – dabei steht sie als Donna Anna jeden zweiten Abend auf der Bühne des vielleicht berühmtesten Opernhauses der Welt. Sie lebt hier nur für diese Figur, die sie zum allerersten Mal vor fünf Jahren sang, ebenfalls an der Scala. Hat sich seitdem ihre Anna verändert?

«Ich habe gerade in den letzten Tagen daran gedacht», meint sie. «Meine Anna ist jetzt viel stärker vom ersten Moment an. Früher war ich viel vorsichtiger, wahrscheinlich auch wegen des Rollendebüts, die Rolle muss ja auf der Bühne erst ersungen werden. Ich dachte früher, sie sei vom Gemüt her viel zarter, das glaube ich gar nicht mehr. ‹Or sai chi l’onore… jetzt weisst du, wer mich entehren wollte›, das ist fast bedrohlich. Sie ist nicht hysterisch, sie ist ausser sich. Sie kann auch nicht erkennen, dass Don Ottavio ihr eigentlich Halt geben könnte. Menschen in Extremsituationen können auch ausbrechen.» So etwas umzusetzen ist an der Scala eine besondere Herausforderung. «Das Publikum hier weiss, was ein guter Don Giovanni ist. Ein grosser Prozentsatz kann den Abend mitsingen. Die kennen noch fünf andere Donna Annas und vergleichen auch alle, und zwar radikal, das finde ich nicht verkehrt. Wenn die einen gut finden, darf man sich freuen.»

Ist es ein weiter Weg von Donna Anna zu Arabella, der Titelheldin in Strauss’ später Oper, die sie im Mai in Zürich zum ersten Mal singen wird? Zu einem wohlerzogenen, fast harmlosen Mädchen? «Harmlos, das glaube ich nicht. Eher gezeichnet von dem Leben, in dem sie sich da befindet.» Hanna kennt die Oper bestens aus der Perspektive von Zdenka, Arabellas Schwester – in dieser Rolle wurde sie vor acht Jahren in Salzburg mit einem Schlag bekannt. «Der erste Blick, den man auf Arabella hat, zeigt tatsächlich ein verwöhntes Mädchen, dem man auferlegt hat, mit einer guten Heirat die Familie zu retten. Wenn man das nur liest, wirkt es so unbekümmert, unbelastet. Aber wenn man ein bisschen am Lack kratzt, zeigt sich, der Druck auf sie ist immens. Das Geld der Eltern reicht schon seit fünfzehn Jahren nicht, im Hintergrund gibt es Kriegsgeschehen, eher eine düstere Zeit. Und dass sie in einem Hotel leben – ich kann mir vorstellen, dass es die letzte Etage oben ist, wo mal die Dienstmädchenzimmer waren.» Und sie ist sich gar nicht so sicher, ob uns eine Situation historisch wirklich schon entrückt ist, in der Eltern die Ehe planen wie im Wien der 1860er von Arabella. «Arrangierte Ehen gibt es heute viel mehr, als man es mitbekommt, nur nicht so offen, gerade in betuchten Familien. Töchter werden auf bestimmte Schulen der Elite geschickt und sollen da bitte auch ihren Ehemann kennenlernen, oder sie gehen schon als Kinder Golf spielen, damit sie sich in einem gewissen Kreis befinden und nicht im Sportverein mit der Dorfjugend, die abends ein Bier trinken geht. Die sind dann halt im Golfclub und essen Clubsandwich.» Sie lacht und greift zum Schokocroissant neben ihrem Capuccino.

Doch wie nah oder fern uns gesellschaftliche Verhältnisse in den Opern der letzten vier Jahrhunderte sein mögen, «die Gefühle und Emotionen bleiben immer gleich, sie werden nur anders gelebt und erlebt. Alles, was vertont wurde, ist noch mal viel ehrlicher, weil es durch die Musik verstärkt wird. Man kann nur Kniefälle machen vor diesen begnadeten Komponisten. Wie es möglich ist, dass man eine Emotion erkennt, ohne den Text zu lesen!» In ihrer neuen Partie bewegt sie Arabellas Monolog «Mein Elemer…» besonders, nicht nur wegen der widersprüchlichen, ungewissen Gefühle darin. «Den Text hat Hofmannsthal kurz vor seinem Tod noch hinzugefügt, und das hatte Strauss sicherlich im Kopf, als er ihn vertonte. Da ist eine Schwere drin und etwas Bedrückendes. Ich höre da auch viele Parallelen zu den Vier Letzten Liedern.» Parallelen interessieren Hanna-Elisabeth Müller sowieso, Querverbindungen, «Gruppierungen», wie sie sagt. Darum hat sie vor fünf Jahren für ihre erste CD als Liedsängerin Werke von Richard Strauss, Arnold Schönberg und Alban Berg zusammengestellt unter dem Titel, den Bergs aussergewöhnliche, frühe Rilke-Vertonung von 1907 trägt: Traumgekrönt. «In welchem Feld diese Komponisten sich zur gleichen Zeit bewegen konnten, das ging stilistisch so weit auseinander und doch mit so vielen Überschneidungen – da wollte ich Parallelen ziehen. Ich finde es auch schön, wenn man im Konzert als Hörer von so einem Konzept wachgehalten wird.» Es ist eines der spannendsten Liederalben der letzten Jahre – und absolut kein Mainstream. «Es war einfach klar, dass es dieses Programm sein muss! Ich dachte, wenn ich eine CD aufnehme, dann so oder gar nicht.»

Was den Mainstream betrifft, die Orientierung an dem, was den breitesten Erfolg hat – sie versteht Leute, die «auf Nummer sicher» gehen, «das ist auch eine Art zu leben und nicht verwerflich! Je mehr man gegen Erwartungen angeht oder sie einfach nicht annimmt, desto verletzlicher ist man. Es ist anstrengender in jeder Hinsicht. Ich kann auch bei Künstlern nachvollziehen, dass man nicht rausfallen will. Aber es muss auch möglich sein, eine Interpretation oder ein Programm zu machen, womit man völlig danebenliegen könnte. Sonst wäre die Kunst ja langweilig!» Und Sänger sollten unverwechselbar sein: «Im besten Fall weiss man beim Blindhören nach zehn Sekunden, wer es ist!» Hat es früher mehr Unverwechselbare gegeben in der Welt der Sängerinnen und Sänger? «Vielleicht. Aber vor fünfzig Jahren war Oper sehr glamourös und die Sänger waren als Stars unterwegs, fast arrogant. Ich würde immer Menschen einladen wollen, mitnehmen, da abholen, wo sie gerade ihren Kopf haben.» Nirgendwo freilich sei solche Nähe möglich wie beim Liederabend. «Da kann ich fast flüstern! Ich versuche es auch auf einer Bühne wie hier, aber das ist ein anderes Flüstern, eine andere Stimmansprache, mit so einem Riesenorchester.»

Dass sie überhaupt mal auf der Opernbühne stehen würde, hat sie übrigens noch mit 24 Jahren nicht gedacht, und nach dem Abitur sah sie sich noch als künftige Zahnmedizinerin. «Es ist ein schöner Beruf. Alle, die hingehen, finden es schrecklich, und danach sind sie erleichtert, glücklich, und haben keine Schmerzen mehr. Und es ist auch ein ästhetischer Beruf!» Aber da war ihre Chorleiterin und Gesangslehrerin, die ihr vorschlug, sie könne doch mal ein paar Aufnahmeprüfungen für ein Gesangsstudium machen, «nur damit wir wissen, wie der Stand der Dinge ist. Und dann haben mir die Vorbereitungen und die Prüfungen soviel Spass gemacht, dass ich mich dafür entschied.» Aber noch lange nicht für die Oper, «ich wollte Konzertsängerin werden!» Als sie dann aber von der Mannheimer Hochschule ins Opernstudio der Bayerischen Staatsoper kam, ging alles ganz schnell… und am schnellsten der Weg über die Maximilianstrasse, in unverhoffte Nähe zu einer der Grössten ihres Fachs. «Ich brauchte unbedingt einen Friseurtermin, und in der Maske sagten sie mir, geh doch rüber zu Pauli! Da hat mich ein älterer Herr frisiert, der fing an zu erzählen, bis ich sagte, ich hab’ gleich Probe. Ach, eine Sängerin, sagte er, und dass er so gern an die Lucia denkt. Lucia Popp, die hat er immer frisiert!» Sie ist jahrelang seine Kundin geblieben.

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 92, April 2022.
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Chelsea Zurflüh

Chelsea Zurflüh studierte Gesang an der Luzerner Musikhochschule sowie an der Hochschule der Künste Bern am Schweizer Opernstudio Biel. Am Konzert Theater Bern hat sie Adele («Die Fledermaus») gesungen. Am Opernhaus Zürich war sie zuletzt als Zaida («Il turco in Italia») zu hören. In «Il mondo della luna» singt sie Clarice.

Aus welcher Welt kommen Sie gerade?
Heute hatte ich einen freien Tag und habe ausnahmsweise mal keine Musik gemacht. Ich bin bei meiner Familie in Pieterlen, das ist in der Nähe von Biel, und habe hier gemeinsam mit meinem Bruder das Badezimmer im Elternhaus renoviert. Es ist eine gute Abwechslung, sich handwerklich zu betätigen und dann das Ergebnis zu sehen! Seit ich in Zürich lebe, komme ich gerne immer wieder hierhin zurück.

Auf was freuen Sie sich in der Haydn-Oper Il mondo della luna besonders?
Das ist meine erste Opernproduktion, in der ich ausschliesslich mit meinen Kolleginnen und Kollegen des Opernstudios auf der Bühne stehe. Mit ihnen macht diese Arbeit viel Spass! Es ist aber auch eine wirkliche Herausforderung, Szene und Musik stimmig, logisch und präzise zusammenzubringen. Ich freue mich besonders darüber, diesen ganzen Prozess vom ersten Probentag über die erste Probe im richtigen Kostüm, bis zur Premiere erleben zu dürfen.

Wer ist Clarice?
Clarice ist eine der drei weiblichen Partien in Haydns Il mondo della luna. Wir haben gerade in den Proben herausgefunden, oder nehmen es zumindest an, dass sie die jüngere Tochter von Bonafede ist. Der Vater will Clarice und ihre Schwester Flaminia möglichst reich verheiraten, hat bisher aber keine Männer gefunden, die sich dafür eignen. Clarice stellt sich stärker als ihre Schwester gegen den Vater und will sich von ihm befreien. Das zeigt sich in unserer Inszenierung auch an dem strengen, braven Kostüm, in dem ich zunächst stecke. Aus diesen Zwängen will Clarice ausbrechen.

Welches Bildungserlebnis hat Sie besonders geprägt?
Ein besonders wichtiges und schönes Erlebnis war für mich das Bachelor-­Projekt an der Luzerner Hochschule. Zusammen mit einer Kollegin habe ich entschieden, Webers Freischütz auf die Bühne zu bringen. Im Rahmen eines Bachelor­-Projekts war das ein sehr aufwändiges Vorhaben: Wir haben Spenden eingeholt, die Oper eingerichtet, Sänger und Orchester zusammengebracht, die Aufführungen in Luzern, Biel und St. Gallen organisiert und schliesslich noch Ännchen und Agathe gesungen! Am Ende waren wir selber erstaunt, dass wir das alles gestemmt haben.

Welches Buch würden Sie niemals aus der Hand geben?
Ich lese gerade Circe von Madeline Miller, ein Buch, das mir sehr gut gefällt. Es dreht sich um die mythologische Figur der Kirke, die ich unlängst in der Familienoper Die Odyssee auch am Opernhaus verkörpert habe.

Welche CD hören Sie immer wieder?
Das erste Mozart­-Album von Regula Mühlemann. Sie hat in Luzern bei Barbara Locher studiert, wie ich. Ihre Stimme fasziniert mich jedesmal aufs Neue.

Mit wem würden Sie gerne einmal essen gehen?
Mit der amerikanischen Sopranistin Lisette Oropesa, deren Stimme ich eben falls sehr bewundere. Vielleicht er­gibt sich diese Chance ja, wenn sie im Mai hier Lucia di Lammermoor singt...

Woran merkt man, dass Sie Schweizerin sind?
Ich bin nicht immer pünktlich, aber ordentlich!

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 92, April 2022.
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Der Krieg betrifft auch uns

Alina Shevchenko ist Pianistin und stammt aus der Ukraine, Ilya Altukhov ist Bassist und kommt aus Russland. Beide sind zurzeit Mitglieder im Internationalen Opernstudio. Sie erzählen, was der Krieg für sie persönlich bedeutet und warum sie es trotz allem wichtig finden, miteinander im Gespräch zu bleiben.

Alina, wo genau kommst du her?
Alina: Ich bin in der Nähe von Donezk geboren und aufgewachsen und habe auch dort studiert. Als 2014 der Krieg begann, war ich gezwungen, mein Studium in Lwiw fortzusetzen. Meine Mutter ist in Donezk geblieben. Sie ist jetzt immer noch dort. Ich spreche jeden Tag mit ihr, und mein grösster Wunsch ist, dass sie mit meinen Grosseltern hierher kommt. Aber meine Grosseltern sind alt und weigern sich, die Ukraine zu verlassen.

Wie geht es deinen Verwandten jetzt?
Alina: Sie sind zutiefst schockiert und voller Angst. Der erste Schock kam 2014, als wir zum ersten Mal in die Luftschutzkeller mussten. Der schlimmste Moment damals war, als ich mich entschieden hatte, nach Lwiw zu gehen und mit dem Bus – wir hatten sehr mutige Busfahrer – trotz der Bombardierungen durch die Stadt fuhr. Es war nicht klar, ob ich meine Mutter jemals wiedersehen würde. Ich konnte dann zwar meine Mutter einige Male besuchen, aber es war nicht so einfach, in die besetzten Gebiete zu gelangen. 2018 wurde ich an der Grenze angehalten und verhört, in Anwesenheit von zwei Soldaten mit Maschinengewehren. Ich wurde gefragt, warum ich nach Donezk fahre; mein Telefon wurde durchsucht. Irgend­ wann hat man mir dann geglaubt, dass ich Musikerin bin und meine Eltern besuche. Nach diesem Vorfall bin ich nie mehr dorthin gefahren. Ich habe nun kein Zuhause mehr. Nach zwei Jahren Studium in Polen bin ich seit September hier im Opernstudio. Es war oft nicht einfach für mich, wenn alle an Weihnachten nach Hause fuhren und ich allein zurückblieb. Jetzt ist es noch viel schlimmer geworden, weil nicht nur meine Heimatstadt unter Beschuss ist, sondern die ganze Ukraine.

Ilya, woher kommst du?
Ilya: Ich komme aus Komsomolsk am Amur im fernen Osten. Ich nenne es das reale Russland. Die Menschen leben dort ganz anders als in Moskau oder St. Petersburg. Meine Sehnsucht nach meiner Heimat ist sehr gross. Eine Zeit lang habe ich im Musikensemble des Innenministeriums gearbeitet – dort wurden vor allem Volkslieder gesungen. Später bin ich nach Moskau gezogen und habe dort meine Frau kennengelernt; im Juli letzten Jahres haben wir geheiratet. Einen Monat nach der Hochzeit fing ich hier im Opernstudio an. Für uns ist es sehr schwer im Moment. Ich würde meine Frau sehr gern hierherholen, sie ist krank und braucht regelmässig Medikamente, und ich befürchte, dass sie diese Medikamente wegen der Sanktionen in Russland bald nicht mehr bekommen wird.

Wie stehst du zum Krieg?
Ilya: Dieser Krieg ist grauenhaft. Da, wo ich herkomme, wurde natürlich der Jahrestag des Sieges über Nazideutschland – des Sieges im «Grossen Vaterländischen Krieg» – gross gefeiert, wie im restlichen Russland auch. Aber nie haben die Veteranen von ihren Heldentaten im Krieg berichtet, sondern es wurde vom Krieg immer als von etwas gesprochen, das sehr grausam ist, ein Albtraum, und sich auf keinen Fall wiederholen darf. Deshalb war ich genauso schockiert wie Alina, als ich vom Angriff Russlands auf die Ukraine erfahren habe. Ich verstehe nicht, wozu dieser Krieg gut sein soll – und wie wir damit weiterleben sollen. Die Folgen dieses Angriffskriegs werden wir alle noch sehr lange spüren. Die angebliche Feindseligkeit der Ukrainerinnen und Ukrainer gegenüber der russischstämmigen Bevölkerung, die in der Ukraine lebt, die von der russischen Propaganda verbreitet wird – die mag es früher hier und da gegeben haben, aber jetzt wird Russland erst recht und verständlicherweise für lange Zeit der Feind der Ukraine sein.

Alina, wie hast du das Verhältnis von Russland und der Ukraine vor dem Krieg empfunden?
Alina: Wir waren im Grunde schon lange Opfer der russischen Propaganda. Die Ukraine wollte unabhängig sein, und dazu gehörte auch die Pflege der ukrainischen Sprache und Kultur. Vor einiger Zeit ist dazu ein Gesetz in Kraft getreten, das im russischen Fernsehen als «Unterdrückung der russischen Sprache» kommentiert wurde. Dabei war es historisch gesehen viel häufiger umgekehrt – zur Zeit der Sowjetunion war es die ukrainische Sprache, die unterdrückt wurde, und ukrainische Kulturschaffende durften in ihrer Sprache nicht schreiben. Es gab grosse Umsiedlungsprojekte: Ukrainer wurden gezwungen, in den fernen Osten zu ziehen, und in der Ukraine wurden Russen angesiedelt. Heute ist die Ukraine eine Demokratie, wir haben Meinungsfreiheit – davon kann man in Russland nur träumen.
Ilya: Ja, das stimmt. Ich überlege mir oft, was ich wie ausdrücke. Es ist gefährlich geworden, etwas gegen die Mächtigen zu sagen. Für mich ist es geradezu absurd, wenn unabhängige Berichterstattung verboten wird mit dem Hinweis, es handle sich bei den entsprechenden Medien um ausländische Agenten. Wir kehren in die Stalinzeit zurück. Und nur die vollkommen Furchtlosen wagen es noch, gegen den Krieg auf die Strasse zu gehen.

Hast du auch hier in Zürich Angst, deine Meinung zu sagen?
Ilya: Wenn man in Russland erfährt, was ich denke und hier auch öffentlich sage, werde ich dort als Extremist gelten. Ich werde versuchen, in der nächsten Zeit nicht nach Russland zurückzukehren. Die Menschen in Russland gehen nicht in wirklich grosser Zahl auf die Strasse, weil sie wissen, was passiert, wenn sie festgenommen werden: Sie werden geschlagen und auf grausame Weise erniedrigt. Wer in einem russischen Gefängnis landet, gilt nicht mehr als Mensch und wird misshandelt. Und niemand wird je dafür bestraft.

Der ukrainische Regisseur Andrej Sholdak hat dazu aufgerufen, sofort jegliche Zusammenarbeit mit Vertretern russischer Kultur zu stoppen. Alina, ist es für dich in Ordnung, weiterhin mit Russen zusammenzuarbeiten?
Alina: Darüber habe ich lange nachgedacht. Ich glaube, wir sollten die Zusammenarbeit mit denjenigen Russinnen und Russen fortsetzen, die sich offen dazu bekennen, dass es sich um einen Angriffskrieg handelt, nicht um irgendeine Spezialoperation, und die sich für den Frieden aussprechen und dafür, dass Russland seine Soldaten aus der Ukraine abzieht. Indem wir die Beziehungen nicht ganz abreissen lassen, ermutigen wir hoffentlich andere dazu, ihre verständliche Angst zu überwinden und sich gegen den Krieg auszusprechen. Ich bin überzeugt davon, dass das dazu beitragen kann, den Krieg schneller zu beenden.

Im grossen Spendenkonzert des Opernhauses, bei dem ihr beide gemeinsam aufgetreten seid, war der bewegendste Moment für mich, als Ilya gesagt hat: «In meinen Adern fliesst russisches, ukrainisches, weissrussisches und kasachisches Blut. Wir dürfen einander nicht umbringen!»
Alina: Für mich war es sehr berührend, dass Ilya ein ukrainisches Lied gesungen hat. Ich fand das sehr mutig von ihm.
Ilya: Ich könnte tatsächlich Probleme bekommen deswegen. Meine Familie ist in Russland; sie unterstützt Putin. Auch meine Frau ist in Russland, sie ist gegen den Krieg. Um sie habe ich Angst.

Alina, kannst du deine Familie momentan irgendwie unterstützen?
Alina: Nein, es ist leider nicht möglich, ihnen Geld zu schicken. Ich kann hier protestieren, Benefizkonzerte geben. Aber zu den Menschen in den besetzen Gebieten kommt momentan überhaupt keine Hilfe. Trotzdem werde ich weitere Konzerte geben und weiter auf die Strasse gehen.

Das Gespräch führte Beate Breidenbach
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 91, April 2022.
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Peter Rundel

Peter Rundel wurde in Friedrichshafen geboren und war Geiger im Frankfurter Ensemble Modern, das auf zeitgenössische Musik spezialisiert ist, bevor er Dirigent wurde. Ein Experte für Neues ist er bis heute: Es gibt nicht viele Dirigenten, die so viele Opernpartituren zur Uraufführung gebracht haben wie er.

Immer wieder ein Crescendo und Decrescendo, Rasseln und Rappeln von Rädern auf schmalspurigen Schienen und Weichen, Signaltöne dazu, voller Varianten. An dieser Ecke des Sechseläutenplatzes kreuzen und bündeln sich gleich fünf Tramlinien, so dass wir gleichsam im Klang des Transits sitzen, draussen vor der Brasserie. Das passt bei einem Musiker, der so viel unterwegs ist wie Peter Rundel, der in seinem Leben mehr als einmal das Gleis wechselte und dem nur ein Gleis sowieso zu wenig wäre. Der vor zwei Tagen noch in Porto war, um dort, wo er auch lebt, sein Ensemble für neue Musik zu leiten, und heute mit der Philharmonia Zürich zum ersten Mal die Partitur von Stefan Wirths Oper Girl with a Pearl Earring erkundet hat.

Und der noch Geiger war, als wir uns, im vorigen Jahrhundert, knapp verpassten. Peter Rundel verliess die Musikhochschule Hannover gerade, als ich dort zu studieren anfing. Da hatte er allerdings schon einen weiten Weg vom Bodensee bis nach New York hinter sich. Hannover war die letzte Station, «ehe ich ins Ensemble Modern reingerutscht bin, und das hat meinen weiteren Lebensweg bestimmt.» Er blinzelt in die Spätnachmittagssonne, energisch, gespannt, nicht ungeduldig, obwohl in den dicken Partituren auf dem Schemel neben ihm noch viel Probenarbeit wartet, auch gleich nach unserem Treffen.

Rundel gilt als einer der besten Dirigenten für neue Musik. Aber die war es gar nicht, die ihn als 25-Jährigen zum jungen Ensemble Modern brachte, sondern dessen Arbeitsweise. «Ich wollte alles, nur nicht ins Orchester», sagt er. «Das Orchester als sozialer Körper hat mich damals geängstigt mit den hierarchischen Strukturen. Kammermusik als Arbeitsweise war mein Ideal, und das habe ich beim Ensemble Modern in einer Form verwirklicht gefunden, die ich mir nicht erträumt hätte, in höchstem Masse freundschaftlich, professionell, engagiert. Viele dort waren wie ich Greenhorns, mit dem Anspruch, dieses Gebiet der neuen Musik nach und nach zu erobern. Dann gleich mit tollen Dirigenten, interessanten Komponisten zusammenzuarbeiten, das war so kreativ!» Es weitete den Horizont so, dass er sich um die Dreissig herum fragte: «War’s das jetzt?» Er lacht. «Ich war quasi etabliert als Geiger und fühlte mich richtig wohl, auch mit der Musik, aber ich begann parallel, ein Dirigierstudium anzufangen. Ich bin ein Späteinsteiger, was das betrifft, und es wäre an meinen mangelnden Klavierkenntnissen fast gescheitert. Aber ich habe mich immer schon wahnsinnig gern mit Partituren beschäftigt.» Das geht auf eine keineswegs luxuriöse Kindheit zurück, auf seinen Vater, einen Bauernsohn am Bodensee, der sich selbst und seinen vier Kindern das Blockflötenspiel beibrachte «und mit einem autodidaktischen System, das etwas krude war, aber unheimlich effektiv, das Lesen von Musik. Das war ganz schnell da.»

Da setzte auch Rundels erster und wichtigster Dirigierlehrer an, Michael Gielen. «Das Dirigierhandwerk hat ihn überhaupt nicht interessiert. Was wir da gemacht haben, war Analyse. Wir sassen stundenlang über Partituren von Mozart, Schumann, Brahms. Seine Überzeugung war: ‹Wenn ihr nicht wisst, wie das gemacht ist, braucht ihr gar nicht erst den Taktstock zu heben.›» Zugleich hat ihn Gielen als Vollblutmusiker beeindruckt. «Der hat sich ans Klavier gesetzt, La bohème gespielt, alle Partien gesungen und, während er spielte, auch noch die Handlung erklärt!» Die Schlagtechnik, «der Umgang mit dem Körper, das Dirigieren von Charakteren», das nahm Rundel dann von Peter Eötvös mit, dem nächsten Lehrer. Inzwischen gibt er es selbst lehrend weiter. «Auf dem Streichinstrument gibt es ja unendlich viele Artikulationen von legato bis staccatissimo. Genauso wandelbar sollte ein Schlag sein.» Wie wandelbar, das werde ich später bei der Orchesterprobe an der Kreuzstrasse erleben, auch wenn das noch ein frühes Stadium der Stückerkundung ist. Wie Rundel, sitzend, den ganzen schmalen Körper unter Spannung hat und diese Spannung in kleine, genaue, federnde Gesten umsetzt, bei denen es eben nicht egal ist, ob eine Hand nach innen gebogen wird oder einen knappen Kreis nach aussen beschreibt. Klingt die Partitur von Stefan Wirth denn so, wie er sie sich vorgestellt hat beim Lesen? «Ich habe so viel Erfahrung angehäuft! Es gibt ein ständiges Lernen durch die Praxis. Man stellt sich etwas vor, korrigiert das an der Realität, und das entwickelt sich immer weiter, sodass ich jetzt nicht wahnsinnig überrascht war. Aber natürlich gibt es Überraschungen, etwa dass Dinge schöner und interessanter klingen, als man sie sich vorgestellt hat.» Wirth habe sich inspirieren lassen von der Idee der Farben, des Malens, der Schichtungen. «Er arbeitet viel mit Klangflächen, die sich in den grossen Tuttistellen überlagern, aber er denkt auch ganz stark polyrhythmisch. Ob das jetzt Glocken sind oder pizzicati – es gibt rhythmische Schichten, die in verschiedenen Tempi gleichzeitig ablaufen, vielleicht ein Bild für die vergehende Zeit. Und alles, was die Sänger singen, ist ganz nah am Sprachduktus komponiert… ja, man kann an Janáček denken.»

Wie die Philharmonia Zürich und andere Orchester heute an neue Partituren herangehen, das sei nicht zu vergleichen mit den Jahren seiner Anfänge als Dirigent. «Was mir da zum Teil für ein Wind entgegenwehte, auch in sehr guten Orchestern! Mittlerweile hat man Orchestermusiker, die versierter und offener sind. Nicht alle lieben die neue Musik, das erwarte ich auch gar nicht, aber es gibt einen gemeinsamen Nenner, und die Philharmonia hier in Zürich hat schon viel Erfahrung mit den avanciertesten Spieltechniken.»

Und Peter Rundel seinerseits hat mit Opern, auch denen des Repertoires, weit mehr Erfahrung, als unter das Etikett «Neue-Musik-Dirigent» passt. Er liebt das Genre zutiefst, «wegen der Spontanität, die das Operngewerbe hat. Da kann immer alles passieren, dieses Risiko liebe ich unendlich, die Fragilität, die das hat. Die Gefährdet- heit eines Sängers, der sich auf die Bühne stellt und ohne Noten und mit einer Stimme einen Charakter verkörpert, mit all dem, was es impliziert, auch das Scheitern. Dem Moment ausgeliefert, nichts, was festgehalten werden kann. Der Moment und die Vergänglichkeit, daher kommen diese Energie und diese Magie. Manchmal ist es ein Wunder.» Vielleicht werden solche Wunder in diesen Tagen besonders gebraucht, in einer bedrohlichen Zeit. Schon einmal hat Peter Rundel erlebt, wie die Arbeit an einer Oper mit dem Weltgeschehen zusammenfiel, im September 2001, als er an der Deutschen Oper Berlin mit dem Regisseur Peter Konwitschny zusammen Luigi Nonos Intolleranza probte. «Nine eleven passierte währenddessen. Das hat die Arbeit tatsächlich verändert, wie jetzt ja auch. Wir haben gerade in Porto, in der Casa da Música, die Oper Kassandra von Michael Jarrell im Konzert gespielt – als wir das programmierten, haben wir uns nicht ausmalen können, dass das so eine unglaubliche Präsenz und Aktualität entwickelt, aufgrund dieses Krieges.»

Die Sonne ist hinter den Höhen östlich des Sees verschwunden und in den paar Minuten bis zum Aufbruch erzählt Peter Rundel noch von der geheimnisvollen Geige, die sein Vater besass, ihrer traurigen Geschichte und ihrer Anziehungskraft. Vier Jahre musste er warten, bis seine Hände gross genug für sie waren (für eine Kindergeige fehlte das Geld), dann ging alles so schnell, dass er mit fünfzehn Jahren Schule und Elternhaus verliess, um in Köln Geige zu studieren, «die richtig harte Schule.» Mit achtzehn stellte er alles in Frage, brach alles ab, wollte Schauspieler werden, schlug sich in New York durch. «Dann wurde mir aber doch immer klarer, dass die Musik zu stark ist.» Er lacht. «Ich war ziemlich freigeistig unterwegs.» Das ist er eigentlich immer noch. Nur, dass er nichts mehr abbricht. Ausser beim Proben wie in Takt 440, wo die Kontrabässe im Violinschlüssel spielen…

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 91, April 2022.
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Laura Aikin

Laura Aikin ist Amerikanerin. Ihre künstlerische Laufbahn begann sie als Mitglied des Ensembles der Staatsoper Berlin. Mit Partien wie Lulu, der Königin der Nacht und Zerbinetta gastierte sie an allen bedeutenden Opernbühnen und ­-festivals. In «Girl with a Pearl Earring» singt sie Catharina Vermeer.

Aus welcher Welt kommen Sie gerade?
Ich komme gerade aus Köln, wo ich in Zimmermanns Soldaten zum ersten Mal die Gräfin gesungen hätte. Am zweiten Tag wurde die Produktion aber «aus Angst vor möglichen Komplikationen mit Corona» abgesagt, und bereits am Tag danach stand ein Ersatzprogramm mit einer kleineren Besetzung fest. Sehr suspekt... Ich hoffe, dass wir möglichst bald wieder aus dieser Schiene herausfinden!

Auf was freuen Sie sich in Girl with a Pearl Earring besonders?
Ich freue mich gerade sehr auf die erste Probe mit dem Orchester. Das ist bei neuen Stücken immer extrem spannend, und bei Stefan Wirths Oper ganz besonders: Neben Griet spielt das Orchester darin quasi die zweite Hauptfigur.

Wer ist Catharina Vermeer?
In dieser Oper ist sie ist eine Frau, die nicht besonders begabt, aber mit einem Genie verheiratet ist. Sie hat mit Jan Vermeer 15 Kinder und scheint sich sehr über dieses Muttersein zu definieren, wohl auch um die Ehe am Leben zu halten und ihre Position an der Seite von Vermeer zu sichern. Catharina kriegt mit, wie die Dienstmädchen von den mächtigen Männern, die bei Vermeer ein- und ausgehen, sexuell belästigt werden. Gegenüber dem neuen Dienstmädchen Griet ist sie aber selber misstrauisch, und als sie erfährt, dass Vermeer sie mit ihren Perlenohrringen gemalt hat, verliert sie darüber die Fassung.

Welches Bildungserlebnis hat Sie besonders geprägt?
Der entscheidende Moment für meine Karriere war eine Operngala in Berlin. Ich habe damals bei Reri Grist in München studiert, die mich für dieses Konzert vorsingen liess. Georg Quander, der das Konzert organisierte, hat mich gehört und wurde kurz darauf Intendant der Berliner Staatsoper. Einen besseren Moment hätte ich für das Vorsingen nicht treffen können... Das hat mir die wichtigen Türen geöffnet.

Welches Buch würden Sie niemals aus der Hand geben?
Die Schirmer-Anthologie der Koloratur-Arien. Das ist zwar ein Notenbuch, aber eines, aus dem ich ständig unterrichte.

Welche CD hören Sie immer wieder?
Das ist eine Aufnahme von Ravels Tombeau du Couperin, dirigiert von Pierre Boulez. Sie erinnert mich an meinen ersten Auftritt in der Carnegie Hall in New York, wo ich Pli selon pli gesungen habe. Ich weiss noch, wie Boulez mich fragte, ob ich nicht ein bisschen bei der Probe zuhören möchte, und da hat er dann dieses Stück von Ravel dirigiert. Diesen Moment habe ich in besonders schöner Erinnerung.

Welchen überflüssigen Gegenstand in Ihrer Wohnung lieben Sie am meisten?
Meine zwei Hunde und die Katze! Für jemand, der viel reist, ist das echt eine Herausforderung. Aber ich liebe sie!

Welche Persönlichkeit würden Sie gerne einen Tag lang sein und warum?
Ich habe einen irrsinnigen Respekt vor Michelle Obama, wie sie ihr Leben organisiert und trotz ihrer Position eine unglaubliche Ruhe ausstrahlt! Oder Anja Silja, mit der ich oft zusammengearbeitet habe und gut befreundet bin: Sie hat so lange auf der Bühne gestanden. Eine so lange Karriere würde ich mir selber auch wünschen!

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 91, April 2022.
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Zu Rossini kehre ich immer wieder zurück

In Zürich steht Cecilia Bartoli erneut als «Italienerin in Algier» auf der Bühne in einer Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier, die 2018 in Salzburg Premiere hatte. Im Gespräch erklärt die Mezzosopranistin, warum das Rossini-Fieber bei ihr nie abklingt.

Cecilia Bartoli, erinnern Sie sich an Ihr erstes Erlebnis mit Rossinis Musik?
Natürlich! Ich war noch ein junges Mädchen, als ich zum ersten Mal in der römischen Provinz in einer Aufführung von Il barbiere di Siviglia sass und wenig Ahnung von Oper hatte. Es war aus heutiger Sicht betrachtet bestimmt eine mittelmässige Aufführung, aber ich war hin und weg von dieser verrückten Musik, den halsbrecherischen Koloraturen, dem Rossinischen Crescendo, das sich wie ein Sturm aufbaut und wieder in sich zusammensinkt. Meine wichtigsten Debüts als blutjunge Sängerin habe ich an grossen Opernhäusern mit Rossini gegeben, meine ersten erfolgreichen CDs waren seiner Musik gewidmet. Am Opernhaus Zürich war die Rosina im Barbiere di Siviglia eine meiner ersten Rollen: im März 1989, nur einen Monat nach meinem Zürcher Debüt als Cherubino in Le nozze di Figaro!

Das Jahr 2022 steht für Sie ganz im Zeichen Rossinis: In Zürich sind Sie als Isabella in Rossinis frühem Dramma giocoso L’italiana in Algeri auf der Bühne zu erleben, bei den Salzburger Pfingstfestspielen als Rosina in einer Neuinszenierung von Il barbiere in Siviglia, und an der Wiener Staatsoper werden Sie mit La Cenerentola und Il turco in Italia und einer Rossini­Gala gastieren. Warum dieses Rossini­Fieber?
Rossini ist einer der treuesten Freunde meiner mittlerweile über 30 Jahre dauernden Karriere. Immer wieder kehre ich zu ihm zurück, einmal eher kurz, dann wieder intensiver. Mich diesem Künstler, der wie wenige andere als Musiker, Intendant, Mäzen und Förderer von Talenten die Musikkultur des 19. Jahrhunderts beeinflusste, aus neuen Richtungen anzunähern, begeistert und bereichert mich! Sehr ausführlich mit ihm beschäftigt hatte ich mich bei den Salzburger Pfingstfestspielen 2018: Sie waren Rossinis Todesjahr 1868 gewidmet und zeigten auf, dass kurz vor seinem Tod Komponisten wie Tschaikowski, Grieg oder Wagner Schlüsselwerke schrieben. Ganz andere wichtige Erkenntnisse für mich als Musikerin eröffneten sich im Rahmen meiner Beschäftigung mit den Kastraten. Für Rossini blieb die Kunst der Kastraten ja die einzig wahre Gesangstechnik. Und der Komponist, den er am meisten verehrte, war übrigens Mozart. Rossinis Repertoire ist immens, und es macht mir grossen Spass, neue Rollen für mich zu entdecken, in die ich inzwischen hineingewachsen bin. Wunderbare Opern wie Otello, die im 20. Jahrhundert kaum mehr in den etablierten Opernhäusern aufgeführt wurden, stehen in zwischen wieder regelmässig auf Spielplänen, und ich bin stolz, dass wir auch in Zürich eine hervorragende Aufführung dieses hochinteressanten Werks realisieren konnten, vor dem selbst Verdi noch grossen Respekt hatte. Abgesehen davon, dass die unbändige Energie und der überbordende Geist von Rossinis Musik meinem Charakter sehr nahe sind, ist auch meine Stimme für seine Werke ideal geeignet – er schrieb ja sehr viele Hauptrollen für Sängerinnen mit einem eher dunklen Timbre, mit einer grossen Flexibilität und Leichtigkeit, einer Lust am Verzieren und Improvisieren, also was man heute als Mezzosopran bezeichnen würde, auch wenn es damals kein solches Stimmfach gab.

Was fasziniert Sie am meisten an der Figur Rossini?
Bei Rossini finden wir einfach alles. Natürlich ein unglaublich komisches Element, das assoziieren die meisten mit ihm, aber auch das Tragische, wie in Otello. Selbst die Angelina in La Cenerentola hat unglaublich traurige und berührende Momente, daher liebe ich sie so sehr. Interessant wäre es, die verschiedenen Gattungen von Rossinis komischen Opern zu untersuchen, es gibt bei ihm ja Farcen, Komödien, das «dramma giocoso» wie La Cenerentola oder die «opera buffa» wie L’italiana in Algeri oder den Barbiere. Rossini war unglaublich umsichtig und klug. Er wusste, wann die Zeit gekommen war, sich vom Komponieren zurückzuziehen, und baute sich eine zweite einflussreiche Karriere auf. Er war sich immer sehr bewusst, wem er seinen Aufstieg zu verdanken hatte. Der Sängerfamilie García, welche seinen Ruhm ganz entscheidend in Europa, Amerika und Russland verbreitet hatte, blieb er zeitlebens in grosser Dankbarkeit und Freundschaft verbunden, davon zeugen unter anderem schriftliche Dokumente.

In Rossinis L’italiana in Algeri ist Isabella, die weibliche Hauptfigur, auf der Suche nach ihrem verschollenen Geliebten Lindoro. Sie landet in Algier, wo sie auf den Bey Mustafà trifft, der gerade eine neue Frau sucht. Wie würden Sie die Isabella charakterisieren?
Isabella ist verglichen mit anderen Opernheldinnen der Zeit eine ausgesprochen emanzipierte Figur. Sie hat es faustdick hinter den Ohren, ist keine Märchenfigur, sondern eine lebenserfahrene, eigenständige Frau. Nur schon die Tatsache, dass sie reist, zeigt, wie neugierig, offen und lernbegierig sie ist. Sie hat Spass am Leben und kann sich schnell an neue Situationen anpassen. Isabella weiss genau, wie sie ihre Reize zu ihrem Vorteil einsetzen kann, und weckt nicht nur das Begehren von Mustafà, sondern auch von ihrem Begleiter Taddeo – ja, eigentlich wickelt sie sämtliche Männer in diesem Stück um den Finger. Ihr Leitspruch ist: «Wer sich zum Schaf macht, den fressen die Wölfe!» Kampflos aufzugeben, ist für sie keine Option. Das versucht sie auch Mustafàs Gattin Elvira zu vermitteln, mit der sie sich rasch anfreundet und verbündet, ja fast therapeutisch auf sie einwirkt. Sie wird ein Vorbild für Elvira, die sich an Isabella orientiert und deren Verhalten sich im Verlauf der Oper sehr verändert. Wie kann es gelingen, mit Humor und Cleverness eingefahrene Handlungs- und Denkmuster zu durchbrechen? Dafür steht Isabella. Sie denkt ausserdem pragmatisch und findet immer etwas Positives. Wenn Taddeo im Duett mit Isabella im ersten Akt seine Sorgen bezüglich des Bey äussert, entgegnet sie ihm, er solle nicht daran denken: «Sarà quel che sarà» – «Es kommt, wie es kommt.» Und wer weiss, vielleicht hätte der Mustafà wirklich Chancen bei ihr ? Warum kein Bey? Wenn sie ihm allerdings zum ersten Mal begegnet, ist sie doch etwas enttäuscht: «Oh! che muso!» Was für ein Gesicht… Da hatte sie sich offensichtlich mehr erwartet.

Welches sind die stimmlichen Herausforderungen dieser Rolle?
Die Sängerin der Uraufführung, Marietta Marcolini, war ja eine echte Altistin… Die Partie bewegt sich tatsächlich weitgehend im Tonumfang eines Alts. Doch muss man sich dabei immer Charme und Sinnlichkeit bewahren, ohne allzu männlich zu klingen und zu einem Arsace oder Tancredi zu werden! Isabella trägt definitiv keinen Bart… In den Koloraturen werden dann allerdings immer wieder sehr hohe Noten gefordert, in der Arie «Pensa alla patria» zum Beispiel bis zum hohen h – wie Cenerentola hat Isabella ihre grosse Arie ja erst gegen Ende der Oper. In rein vokaler Hinsicht benötigt man also eine grosse Flexibilität. Vor allem aber erfordert die Rolle eine echte Sing-Schauspielerin. Eng mit dem Spiel verbunden ist natürlich auch die Art und Weise, wie man die Worte artikuliert und färbt, vor allem in den Rezitativen. Rossini erfordert generell Sauberkeit und Präzision. Wenn man mit dem geforderten Tempo mithalten will, darf man die Stimme weder verdunkeln noch künstlich schwerer machen, um Kraft oder Volumen zu gewinnen.

Sie haben die Rolle der Isabella relativ spät in Ihr Repertoire aufgenommen. Warum?
Ich glaube nicht, dass die Isabella sehr jung ist; sie hat Lebenserfahrung, sonst könnte sie diesen unterschiedlichen Männern nicht auf der Nase herumtanzen. Daher finde ich, dass auch die Darstellerin eine gewisse Erfahrung braucht, um dies überzeugend zu realisieren. Es sind Schnelligkeit und Schlagfertigkeit gefragt, aber auch ein riesiges Spektrum an schauspielerischen und sängerischen Nuancen, damit die Rolle vielschichtig und farbig bleibt. Komödie ist ja immer das Schwerste. Und dann braucht es noch die technische Erfahrung, um mit den erwähnten vokalen Anforderungen fertig zu werden.

Eine Frage zu Rossinis Finali: Im berühmten ersten Finale der Italiana, wenn die allgemeine Verwirrung am grössten ist, singen die Figuren nur noch sinnlose Wortsilben, din­din, crà­crà, bum­bum – der komplette Kontrollverlust… Auch in Rossinis Cenerentola oder im Barbiere gibt es diese Momente, wo alles plötzlich Kopf steht. Wie ergeht es Ihnen jeweils dabei?
Diese Verrücktheit ist ja ein zentrales Merkmal von Rossinis Theaterkunst – in diesen Momenten landen wir quasi im absurden Theater! Grundsätzlich ist ein solches Element als «cliff hanger» vor der Pause oder zum Beispiel in gewissen Finali Mozarts zwar schon angelegt, aber Rossini treibt die Verwirrung im wörtlichen Sinne ad absurdum, und das macht ihn einmalig. Dazu ein Rossinisches Crescendo, welches im leisestmöglichen Pianissimo anfangen muss, dann spürt man die wahre Wucht von Rossinis Musik und seinen Theatergeist. Für diese Momente kann ich mich unendlich begeistern – als Zuhörerin wie auf der Bühne, es macht einfach unglaublichen Spass!

Mit Moshe Leiser und Patrice Caurier haben Sie viele Rossini­Opern auf die Bühne gebracht, am Opernhaus Zürich Le Comte Ory oder Otello. Warum sind die beiden die richtigen Regisseure für Rossini?
Moshe Leiser und Patrice Caurier inszenieren Musik UND Text, bzw. den Text aus dem Geist der Musik und den szenischen Gestus ebenfalls aus der Musik. Sie nehmen das Stück ernst und inszenieren stets aus der Partitur. Szenisch haben sie eine endlose Fantasie. Und eine grosse Prise Selbstironie. In komischen Werken scheuen sie sich nicht vor Elementen der Farce – in dieser Italiana-Inszenierung zum Beispiel vermeiden sie tatsächlich kein Klischee. Aber es ist alles mit solcher Präzision, rasendem Tempo und endlosem Humor gemacht, dass sich das Stück als eine an eine Farce grenzende Komödie auf aller- höchstem Niveau entpuppt.

Sie arbeiten seit vielen Jahren eng mit La Scintilla zusammen. Warum ist es Ihnen so wichtig, dass Rossini in den Klangfarben eines Originalklang­ Ensembles erklingt? Rossini hat seine Musik für das damalige Instrumentarium geschrieben, diesen Klang hatte er immer im Ohr. Das dürfen wir nie vergessen. Da die Balance zwischen den Instrumentengruppen – zum Beispiel zwischen Streichern und Holzbläsern – im Originalklangorchester ganz anders ist als im modernen, kommen hier die Klangfarben und Nuancen in der Instrumentierung wieder zur Geltung. Man merkt, dass Rossini die Orchesterbegleitung tatsächlich sehr fein gestaltet hat. Und natürlich auch die Dynamik. Mit einem solchen Orchester kann man das Rossini- Crescendo wirklich im Pianississimo beginnen, wie es sich gehört. So können auch die Sängerinnen und Sänger entsprechend agieren. Im Grunde kann man diese Musik nur auf historischen Instrumenten spielen. Und mit keinem zu grossen Orchester – Rossini ist kein Verismo!

Das Gespräch führte Kathrin Brunner
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 90, Februar 2022.
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Neue Ideen in der Stunde Null

Eigentlich wollte der Regisseur David Marton die Oper «L’Olimpiade» von Giovanni Battista Pergolesi inszenieren, ein legendäres Meisterwerk des neapolitanischen Barock. Aber dann kam die Coronakrise, und alles wurde anders: Der Regisseur hat einen Dokumentarfilm über alte Menschen gedreht und in Beziehung zu Pergolesis Arien gesetzt. Das Ergebnis ist ein zutiefst emotionales Bühnenkunstwerk aus Live-Gesang, intimer filmischer Beobachtung und Erzählungen von gelebtem Leben

David, dein Pergolesi-Projekt L’Olimpiade, das am 12. März endlich seine Premiere erlebt, hat eine abenteuerliche Entstehungsgeschichte. Durch die Corona-Pandemie hat es sich künstlerisch völlig verändert. Was genau ist da passiert?
Ursprünglich hatte mich das Opernhaus Zürich engagiert, um die Barockoper L’Olimpiade von Giovanni Battista Pergolesi zu inszenieren. Die Besetzung war engagiert, das Bühnenbild entworfen. Aber dann kam im Januar 2020 die Coronakrise und hat unsere ursprünglichen Pläne völlig über den Haufen geworfen. Wir mussten mitten im ersten, harten Lockdown entscheiden, wie es mit unserem Pergolesi-Projekt weitergeht. Ich war in Budapest, eingesperrt wie fast alle. Die Zeit stand still, und meine künstlerischen Projekte stürzten wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Mir kam es plötzlich absurd vor, alte Inszenierungskonzepte unter strengen Corona-Einschränkungen irgendwie halbgut umzusetzen. Meine Strategie war eher: Lass alle ursprünglichen Pläne fahren und schaue, was passiert. Vielleicht entstehen ja aus dieser Null-Situation neue Ideen, denen ich zu einem anderen Zeitpunkt gar nicht folgen würde.

Und welche Ideen sind dir gekommen?
Ich habe, während ich in meiner Wohnung in Budapest festsass, Bildmaterial im Internet gesucht und es mit Arien von Pergolesi zusammengeschnitten. Der Effekt war faszinierend. Pergolesis Arien sind unglaublich lebendig, kraftvoll, emotional, und sie laden die Bilder mit ihrer Emotionalität auf. Am stärksten ist dieses Phänomen, wenn die Bilder einen Kontrast zur Musik bilden und mit Langsamkeit und Detailbeobachtung operieren.

Du hast mit Nahaufnahmen von Gesichtern experimentiert, wie es einst Ingmar Bergman in seinem berühmten Film Persona getan hat.
Ja, aber mit Ingmar Bergman möchte ich meine Arbeit nicht vergleichen. Persona ist einer der bedeutendsten Filme der Filmgeschichte und Bergman generell berühmt dafür, wie nahe man Menschen mit der Kamera kommen kann. Aber es stimmt, ich habe auch Bergman-Szenen mit Pergolesi-Arien zusammengeschnitten und fand es sehr spannend, wie die Musik kleinste Regungen der Mimik oder das Licht in den Augen plötzlich anders erscheinen lässt und Tiefenschichten des Gesichtsausdrucks offenlegt. Diese Tiefenschichten sind in Bildern von Menschen ja vorhanden. Man muss sie nur herausholen. Man muss sie erblicken.

Die Experimente haben dich auf den Gedanken gebracht, die Pergolesi- Oper als Filmprojekt zu realisieren, da szenische Proben nur mit Abstand und Maske möglich waren.
Den Impuls, szenische Aktion durch Film zu ersetzen, hatten gerade im Schauspielbereich in der damaligen Corona-Situation ja viele. Mir ging es allerdings sehr konkret um die Wechselwirkungen von Bildern und Musik. Dieses Thema treibt mich schon seit Beginn meiner Theaterlaufbahn um: Dass man über die Verwendung von Musik nicht nur im Sinne von Narration nachdenkt. Dass man Bildfolgen und Szenen ähnlich rhythmisieren kann wie Musik. Dass Musik in der Oper nicht immer eine Geschichte transportieren muss, sondern Bilder und Musik auf einer anderen Ebene zusammenkommen und diese sich gegenseitig bespiegeln.

Als du das Opernhaus dann mit dem Wunsch konfrontiert hast, einen Dokumentarfilm über alte Menschen zu drehen und den mit den Pergolesi- Arien zu verbinden, waren wir sehr überrascht, denn der Inhalt der Oper und die alten Menschen haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Ausserdem waren die Altersheime im Sommer und Herbst 2020, als du drehen wolltest, wegen der Infektionsgefahr noch streng abgeschottet.
Ich wollte, dass das Projekt etwas mit der Zeit zu tun hat, in der wir uns befinden. Und die Situation der alten Menschen während der Pandemie hat mich sehr beschäftigt: Wie verletzlich sie sind, wie sie von ihren Angehörigen zwangsweise getrennt wurden, obwohl ihr Leben ja auch schon ohne Corona von grosser Einsamkeit geprägt war. Ich dachte: Ältere Menschen bilden einen wesentlichen Teil des Opern-Publikums, die wegen Corona nun nicht mehr ins Theater gehen können. Wie wäre es daher, wenn wir zu ihnen gingen, ihnen Musik vorspielten und zuhören würden? So ist die Idee entstanden, einen Dokumentarfilm über alte Menschen zu drehen. Ich habe dann spontan die österreichische Filmemacherin und Kamerafrau Sonja Aufderklamm als Partnerin für das Projekt gewinnen können, gemeinsam haben wir den Film dann realisiert. Sonja war genau die richtige für das Vorhaben. Sie hat einen künstlerischen Blick für die Komposition von Filmbildern und ein sensibles Auge für Menschen. Im Sommer, als grenzüberschreitende Reisen wieder möglich waren, sind wir nach Zürich gekommen, haben tatsächlich alte Menschen getroffen, mit ihnen geredet und drei Wochen lang gedreht. Es war ein grosser Glücksfall, dass uns trotz der strengen Schutzmassnahmen die Türen geöffnet wurden – von einem Altersheim in Rümlang in der Nähe des Zürcher Flughafens, aber auch von anderen alten Menschen, die uns in ihre Wohnungen und in ihr Leben gelassen haben.

Was habt ihr bei dieser Dokumentarfilm-Recherche zum Thema gemacht?
Wir haben den Menschen Pergolesi vorgespielt und dann ganz offen geschaut, wohin uns die Musik bei den Gesprächen und den Filmaufnahmen führt. Ich hatte zwar Ideen im Kopf, was ich fragen wollte, aber die Gesprächsthemen ergaben sich fast von selbst.

Haben sie mit dem Inhalt der Oper zu tun? Das L’Olimpiade-Libretto von Metastasio handelt ja, raffiniert verschachtelt, von Menschen, die auf der Suche nach einer selbstbestimmten Existenz sind, die gegen die strengen Gesetze ihrer Väter aufbegehren, die vom Schicksal an fremde Orte versprengt wurden und auf der Suche nach ihrer Familie und ihrer eigenen Identität sind.
Das Libretto und seine Handlung haben wir nicht thematisiert, alleine die Musik war unser Ausgangspunkt. Aber interessant war, dass wir in den Gesprächen doch bei ähnlichen Motiven gelandet sind – strenge Väter, Schicksalsschläge, familiäre Zwänge. Das sind Themen, die einem offenbar am Herzen liegen, wenn man ein langes Leben im Rücken hat. Ich fand die Parallelen zu Motiven des Operninhalts mitunter verblüffend, gerade weil wir sie nicht bewusst angesteuert hatten.

Die Handlung der Oper wird also weder durch die Musik noch durch Film, Bühne und Szene erzählt?
Nein. Wir haben alle Rezitative, in denen in einer Barockoper ja die Handlung transportiert wird, gestrichen. Der Abend besteht musikalisch aus einer Abfolge von Arien und kurzen Gesprächssequenzen anstelle der Rezitative.

Sind Arien nicht immer an ein Handlungsmoment, an eine Situation oder ein szenisches Gegenüber gebunden?
Ich glaube nicht, dass das Erzählen von Geschichten immer die Hauptaufgabe von Oper ist, insbesondere nicht im Barockzeitalter. Emotionen, die in der Musik zum Ausdruck kommen, können von der Handlung, an die sie geknüpft sind, auch eher zugedeckt werden. Narration kann die Perspektive auf die Musik verengen. Das gilt natürlich nicht generell, vor allem nicht für den gesamten Bogen der Operngeschichte. Aber für mich ist das ein wichtiger Ansatz, dem ich nachgehe. Ich finde, es wird in der Wahrnehmung von Musik zu viel Aufmerksamkeit auf ihre Begründbarkeit durch Kontext gelegt und weniger darauf, dass ihr immer auch etwas zutiefst Intuitives und Unerklärbares innewohnt. Das kommt womöglich ohne Handlung viel besser zum Vorschein. Bei unseren Gesprächen sagte eine Dame nach dem Hören einer Arie: Der Komponist wisse auch nicht, warum er das komponiert habe, er habe es aber auf jeden Fall geschrieben, damit wir es in uns aufnehmen können. Das fand ich in seiner Schlichtheit einen schönen Satz, weil er das Unerklärliche an Musik in Worte fasst.

Wenn es der Inhalt der Oper nicht ist, worin besteht dann die Verbindung zwischen der Musik und den Filmaufnahmen alter Menschen?
Im emotionalen Bezug dieser beiden scheinbar weit voneinander entfernten Kunstformen. Ich kann ein Beispiel geben: Wenn ein Mensch mit 90 Jahren sich vom Stuhl erhebt, ist das ein ungeheurer Kraftaufwand. Und in der Verbindung mit der Musik wird der als solcher erfahrbar. Was wir normalerweise bloss als Moment der Unsicherheit und Fragilität wahrnehmen, wirkt durch die Musik wie eine Heldentat. Das ist in meiner Wahrnehmung viel stärker, als wenn ich auf der Bühne eine Heldentat mit Sängern spielen lassen würde. Wenn man über alte Menschen spricht, redet man gerne über ihre Gebrechlichkeit und die Mühen, die ihnen der Lebensalltag bereitet. Oder umgekehrt: Wir staunen, wie fit sie noch sind, wenn sie etwa im hohen Alter noch Fahrrad fahren. Aber die Wahrheit ist für mich etwas Anderes: Wir sind immer die gleichen Menschen, nur in unterschiedlichen Körpern, erst in jungen, später in alten. Ich wollte mit Hilfe von Pergolesis unglaublich vitaler Musik zeigen, dass die Menschen eigentlich gar nicht alt sind, sondern lediglich gealterte junge Menschen.

Und was geben umgekehrt die Dokumentarfilmaufnahmen der Musik?
Die Bilder verändern unsere Wahrnehmung der Musik. Wir hören die Arien anders. Ein Kameraschwenk verändert die Aufmerksamkeitsführung, ein ruhig und lang stehendes Bild schafft ein anderes Zeitempfinden für die Musik. Wie und wodurch sich die menschliche Wahrnehmung verändert, ist grundsätzlich ein Thema, das mich sehr beschäftigt. Wie man durch das Leben gehend plötzlich angeregt durch einen scheinbar unbedeutenden Augenblick einen anderen Blick kriegt. Ich denke, das kennt jeder von uns, dass man durch einen einzigen Anblick auf einmal beispielsweise eine ganze Stadt anders sieht. Das sind erhellende Momente. Eine andere Wahrnehmung zu schaffen, das wünsche ich mir auch für die Kunstform Oper, die so sehr traditionsverhaftet ist. Es soll am besten alles so sein, wie es gewesen ist. Dabei ist doch gerade die Operngeschichte voll von Künstlern, die sich radikal abgesetzt haben vom Althergebrachten, um neue Perspektiven zu schaffen. Trotz des höfischen Prunks und dem repräsentativen Gebaren war die Oper immer eine erstaunlich unruhige Kunstgattung. Sie hat sich in ihrer Geschichte nie lange zu einer dauerhaften Form verfestigt, war ständig in einem Stadium des Umbruchs. Es ging den Komponisten immer darum: Wie weit kann ich gehen, wie kann ich die Form erneuern? Wir Regisseure versuchen diese Dynamik auf einer Interpretationsebene fortzuführen und die Werke immer wieder neu zu erzählen, was natürlich viel schwieriger ist, weil wir nicht wirklich Neues schaffen, sondern das Gegebene immer neu zu erzählen versuchen.

Wie muss man sich die theatralische Situation grundsätzlich vorstellen, wenn Pergolesis Arien mit den Dokumentarfilmaufnahmen zusammenkommen? Nimmt der Abend dann eher den Charakter einer Kinovorführung an?
Das würde ich so nicht sagen, aber das Opernhaus wird in dieser Produktion schon zu einem anderen Theaterraum. Man muss es als Zuschauer annehmen, in die Oper zu gehen und diese in unserem Ansatz aus einer völlig veränderten Perspektive zu erfahren. Man könnte den Abend auch als eine Art Oratorium begreifen. Das Zürcher Orchestra La Scintilla wird live im Orchestergraben spielen. Es gibt grossartige Solistinnen und Solisten, die die Arien singen. Es gibt ein Bühnenbild, das unser ursprüngliches Bühnenkonzept in einem wegen Corona nicht zu Ende gebauten Zustand zeigt. Ich mag das Unfertige daran. Mir fehlt nichts, obwohl vieles fehlt. Oper erscheint darin wie eine ferne Erinnerung, wie ein Traum, wie eine Hoffnung, aber gerade nicht als Realität.

Die Premiere der Produktion sollte im November 2020 über die Bühne gehen. Aber auch das hat die Corona- Pandemie verhindert. Wie war die Situation damals?
Wir haben geprobt und auf die Premiere hingearbeitet. Ottavio Dantone, unser Dirigent und musikalischer Partner, und alle Sängerinnen und Sänger waren da und total offen für das, was wir vorhatten. Auch das Haus hat uns wahnsinnig unterstützt. Ich glaube, ich habe noch nie so viel Energie in eine Produktion gelegt, weil alles künstlerisch so neu und spannend war und unglaublich viel Freude gemacht hat. Sonja und ich haben Nachdrehs gemacht und nachts wie im Rausch editiert und geschnitten, um das Material am nächsten Morgen für die Proben fertig zu haben. Und als die allerletzten Files aus der Farbkorrektur kamen und tatsächlich alles fertig war, lasen wir bereits auf den Nachrichtenportalen, dass der nächste Lockdown verhängt wird. Eine interne Generalprobe hat noch stattgefunden, die Premiere dann nicht mehr.

Wie ging es dir damit?
Für mich war das der absolute Tiefpunkt der gesamten Coronazeit, weil die Entstehung des Projekts für mich der absolute Höhepunkt war. Es war wie ein K.O.-Schlag. Ich habe lange gebraucht, um mich davon zu erholen. Ich bin noch einen Monat in Zürich in der Theater- wohnung geblieben, weil ich es einfach nicht geschafft habe, abzureisen. Auch meine Folgeprojekte wurden abgesagt. Ich war wie gelähmt.

Hast du daran geglaubt, dass das Projekt irgendwann doch noch auf die Bühne kommt?
Nein.

Es gab keinen Funken Restoptimismus?
Ich habe bis heute aufgehört, an irgendetwas zu glauben, solange es nicht tatsächlich stattfindet. Im Moment sieht es sehr danach aus, dass unser Pergolesi- Projekt am 12. März Premiere haben wird, aber hundertprozentig glaube ich es erst, wenn es passiert ist.

Was hat sich seit der abgesagten Premiere im November 2020 in Bezug auf die Produktion verändert?
Im Leben der alten Menschen, die im Film vorkommen, hat sich einiges verändert – und nicht zum Guten. Zwei Mitwirkende sind inzwischen verstorben. Es macht mich sehr traurig, dass sie die Aufführung nicht mehr sehen können, obwohl sie so viel von sich gegeben haben. Ich bin gerade im Kontakt mit dem Altenheim, das wir besucht haben, und einer der Mitwirkenden hat mir eine sehr persönliche Mail geschrieben, in der er beklagt, dass das Leben in dem Altenheim seit damals noch viel stiller geworden ist. Als wir gedreht haben, gab es noch einen gewissen Humor im Umgang mit der Situation und Lust zu kommunizieren. In der Mail klingt es nun so, als hätten die vergangenen anderthalb Jahre einfach nur an den Kräften gezehrt. Insofern zeigt unser Film noch eine belebtere Form der Wirklichkeit.

Hat die Produktion Auswirkungen auf deine zukünftige künstlerische Arbeit?
Sie hat meinen Blick auf Oper und Musiktheater völlig verändert. Die Form der filmisch-dokumentarischen Arbeit mit Musik, die wir hier in Zürich entwickelt haben, ist für mich ein Weg, den ich unbedingt weitergehen will. Ich tue im Moment nichts anderes, als dem zu folgen. Ich habe inzwischen auch an einer reinen Filmversion des Pergolesi- Projekts gearbeitet, die ich veröffentlichen werde. Die Zürcher Arbeit ist eine wichtige Weichenstellung für mich, aber vielleicht auch allgemein dafür, dass man die Verbindung von Oper und gesellschaftlicher Wirklichkeit ganz anders denken kann als in der herkömmlichen Form von Inszenierungen.

Das Gespräch führte Claus Spahn
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 90, Februar 2022.
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Nahuel Di Pierro

Herzzerreissender Tangogesang dringt aus der Probebühne. Edgardo Rocha, Tenor aus Uruguay, hat sich auf den Flügel gestützt. Nahuel Di Pierro, Bass aus Argentinien, greift machtvoll in die Tasten. Auch so kann man sich für eine Rossini-Probe aufwärmen.

Nach und nach kommen die anderen dazu. Applaus, auf den ein Hündchen im Korb mit hellem Kläffen antwortet. «Das war das südamerikanische Klischee», sagt Jan Philipp Gloger, der Regisseur, «jetzt kommt das deutsche.» Und er schmettert, sich selbst begleitend, Udo Jürgens’ «Hymne an die Zukunft» aus dem fernen Jahre 1985. Nach schmelzender Leidenschaft das strenge Pathos im Viervierteltakt. «Das wird jetzt aber nicht gepostet», sagt Gloger. «Nur für meine Mutter!», sagt Nahuel Di Pierro grinsend.

Nahuel ist ein jungenhafter Typ, trotz Bart, witzig, offen – und nachdenklicher, als man auf Anhieb vermuten würde. Die Klischees, mit denen sie da Spass haben, führen ja mitten hinein in Rossinis Il turco in Italia, und sie beschäftigen den Sänger auch in unserem Gespräch. «Seit Rossinis Zeit», meint er, «hat sich unglücklicherweise gar nicht viel geändert, was die Angst vor Fremden angeht und die Neigung, alles einzusortieren. Und noch immer sehen sich die Europäer im Zentrum der Welt! Kürzlich fragte mich eine Kollegin, wo ich herkomme. Ich sagte, ich wurde geboren in Buenos Aires, Argentina. Sie sagte: ‹Oh, das ist exotisch!› Das hat mich etwas geschockt.» Was ihn erst recht motiviert, den überaus klischeefernen «Türken» dieser Produktion zu singen, den Selim.

Dessen musikalische Herkunft interessiert den 35-jährigen aber nicht minder. «In der Uraufführung hat Filippo Galli ihn gesungen. Er hatte als Tenor begonnen, dann griff eine Krankheit seine Kehle an, und er sang für ein paar Jahre nicht. Danach stellte er fest, seine Stimme war tiefer geworden, aber er hatte noch immer die Agilität für Koloraturen. Rossini war sehr beeindruckt, da Galli auch ein sehr guter Schauspieler war, er konnte dramatische und komische Rollen, er war berühmt dafür! Am Ende seines Leben hat er am Pariser Conservatoire Schauspiel für Sänger unterrichtet.» Diesem Galli, sagt er, verdanken wir einige sehr bewegliche Basspartien bei Rossini und eine ganze Epoche in der Evolution der Opernbässe, die Nahuel mir mal schnell von Händel über Mozart und Donizetti bis Verdi skizziert, «ich forsche gern nach solchen Sachen.» Auch er begann, wie Galli, als Tenor, «aber schon als Kind.» Wie das? «Ich wollte unbedingt Tenor werden mit sieben Jahren und imitierte das!» Er lacht. Vorbilder hörte er genug im gewaltigen Teatro Colón seiner Geburtsstadt Buenos Aires, wo er im Kinderchor der Oper sang. Sohn eines Steuerberaters und einer Kosmetikerin, hatte er die Klassik für sich im Radio und als Soundtrack in Bugs Bunny entdeckt, die Eltern besorgten ihm Kassetten und CDs. Er bekam Klavierunterricht, und im Kinderchor auf der Bühne erlebte er den wunderbaren Schock fürs Leben: «3'500 Leute sassen und standen da und atmeten. Da war dieses grosse Monster, das Opernhaus, nicht unheimlich, es war einfach dieses riesige Wesen, und ich verstand: Ja, das ist der richtige Platz!» Ein anderer Schock folgte, als Nahuel dreizehn war: Stimmbruch über Nacht. «Auf einmal sprach ich tief und hatte eine Bassstimme. Ich konnte das nicht akzeptieren und sagte, ich singe nicht mehr. Ich fand mich in dieser Stimme nicht.»

Er versuchte sich als Bassgitarrist einer Rockband, im Schauspielunterricht, als Autor für das Schülertheater. «Ich wollte ein dramatisches, ernstes Stück schreiben. Als wir es aufführten, war es sehr komisch, und ich bekam einen Preis für die beste Komödie! Aber jetzt komme ich darauf zurück. Ich habe Libretti für zwei Kurzopern geschrieben, für einen argentinischen Komponisten, der wie ich in Paris lebt, Tomás Bordalejo. Wir bewarben uns bei der Eötvös Foundation in Budapest, und unser Stück wurde ausgewählt.» Le phallus magique heisst es und zeigt einen Gott Eros, der alt und schwach geworden ist, mithin menschlich. «Natürlich bin ich jetzt fokussiert auf meine Sängerkarriere und setze die fort», meint Nahuel, «aber die anderen Teile meiner Persönlichkeit möchten auch entwickelt werden. Demnächst werde ich auch inszenieren …» Aber wie fand er damals zurück zur Oper? «Die Frage habe ich mir noch nie gestellt... Ich hatte weiterhin Klavierunterricht, ich war sechzehn, und meine Lehrerin sagte, sing doch mal was für mich. Nein, ich singe nicht mehr. Ach, bitte, irgendwas! Also habe ich etwas Langsames gesungen. Sie fand, ich sollte Unterricht nehmen. Das tat ich, zuerst bei Tota de Igarzabal, einer grossen Mezzosopranistin, dann sechs oder sieben Jahre lang beim Bariton Ricardo Yost. Dank Tota und Ricardo verstand ich meine Stimme wieder. Auf gewisse Weise erlebte ich wieder dieses Kinderglück beim Singen. Ich versuche, das zu bewahren. Wenn Singen ein Beruf wird, mit allem Stress, vergessen wir leicht, dass wir das tun, weil wir es mögen. Es muss mit Glück verbunden sein.»

Auf seinem Weg zum Profi hat auch die jüngere argentinische Geschichte eine Rolle gespielt. Nahuel gehört zur ersten Generation, die nach der Diktatur gross wurde, aber auch zu jenem Mittelstand, den die Wirtschaftskrise um 2000 frontal erwischte. «Ich erinnere mich, wie mein Vater das Auto und das Büro verkaufte.» Und nach der Krise, als Nahuel in der Opernschule des Teatro Colón anfing und bald schon in kleinen Rollen debütierte, fehlte dem Haus das Geld für Gastsolisten aus dem Ausland. «Das Gute daran war: Die argentinischen Sänger und Regisseure hatten eine Menge Arbeit. Wir haben Death in Venice fast in komplett argentinischer Besetzung gemacht, bis auf Nigel Robson in der Titelrolle, und auch Rameaus Les Indes galantes», sagt Nahuel lachend. Doch 2006 wurde das Haus für Renovierungsarbeiten geschlossen, für die so lange das Geld fehlte, dass die Freelancer sich neu orientierten. «Das war die Zeit, als ich beschloss, Argentinien zu verlassen und in Europa Arbeit zu suchen.» Er fand sie bald an besten Adressen, etwa als Masetto in der legendären Pariser Don Giovanni-Inszenierung von Michael Haneke. Es ist seine Lieblingsoper, aber selbst hier, findet er, darf man in den Text eingreifen. «Wenn ein Sänger sagt, ich werde mein Schwert ergreifen, und das Wort geht gegen die ganze Konzeption, können wir das austauschen. Die Premieren des Don Giovanni mit Mozart in Wien und Prag, das waren auch zwei verschiedene Opern! Ich meine nicht, dass man den Sinn eines Stückes ändern soll, aber wir müssen zur Gesellschaft von heute sprechen, es muss zeitgenössisch sein … nein, das ist schon wieder eine Regel. Ich mag keine Regeln. Es kann sonstwas sein!» Er lacht, aber das Thema lässt ihn nicht los. «Oper muss mehr zur Gesellschaft sprechen. Es geht nicht um Smartphones und social media, das ist wie das Schwert in einer Mozartoper, das wird verschwinden. Es geht um den Bezug zum Menschsein heute. Um Angst vor Immigration zum Beispiel.»

Wie erlebt er Europa, von Argentinien aus gesehen? «Die Entfernungen sind klein, alle Länder sind einander so nah, das ist gut. Aber ich nehme auch starken Nationalismus wahr, jedes Land fürchtet um seine Identität. Das finde ich seltsam. Ich liebe die argentinischen Tangos, meine Grossmutter hat mich damit in den Schlaf gesungen. Und ich werde für meine Kollegen hier argentinisch kochen. Aber deswegen bin ich doch nicht einfach nur Argentinier!» So wenig, wie er auf der Bühne einfach nur «Türke» ist, der verdächtige Neue von nebenan. Wenn er sich mit dem bulligen Don Geronio streitet, der in ihm nur den Eindringling sieht, funkelt er vor Spiellust, ist immer auf dem Sprung zur Ironie, von Rossinis Witz beflügelt, und verwandelt Aggression in Eleganz. Die Stimme aber, dieser sanft glänzende, schlanke, biegsame Bass, die Stimme, die längst ganz die seine ist – wenn er die fokussiert, hört man sehr gut, dass hier einer seinen Stolz hat, einen ganz persönlichen, und genau weiss, was er will.


Text von Volker Hagedorn.
Foto von Alvaro Yanez.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 68, April 2019.
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Ich bin doch nur Marco

In seinem Stück «Almost Blue» verarbeitet Marco Goecke seinen Abschied vom Stuttgarter Ballett. Inzwischen leitet er das Ballett am Staatstheater Hannover und wurde zum «Choreografen des Jahres» gekürt. Ein Gespräch über schmerzliche Abschiede und neue Horizonte aus dem Jahr 2021.

Marco, schon zum zweiten Mal nach 2015 bist du von der Zeitschrift «tanz» als «Choreograf des Jahres» ausgezeichnet worden. Was bedeutet dir diese Ehrung?
Als ich jung war. Waren solche Auszeichnungen noch aufregender. Man macht so einen Beruf ja nicht, wenn man kein Echo auf seine Arbeit bekommen möchte. Es wäre gelogen, wenn man behauptet, dass man nicht auch Achtung haben und die eigene Arbeit goutiert sehen möchte. Dass die Kritiker, die diese Auszeichnung vergeben, von der Qualität der letzten Arbeiten überzeugt waren, freut mich natürlich. Das Gefühl, bei solchen Sachen leer auszugehen, war für mich früher immer mit einer unheimlichen Enttäuschung verbunden. Heute ist das zum Glück nicht mehr so. Aber ich erinnere mich, dass ich am Beginn meiner Karriere manchmal noch um Mitternacht zur Tankstelle gefahren bin, um in der druckfrischen Zeitung meine Premierenkritik zu lesen. Jemand Berühmtes und Hochdekoriertes hat mir mal gesagt, man müsse bei Preisen genau hinschauen, wer sie einem verleiht und aufpassen, dass das nicht Leute sind, die sich durch dich selber feiern und denen deine Arbeit absolut nichts bedeutet. Wenn so eine Auszeichnung als Ergebnis einer Kritikerumfrage zustande kommt, ist das hoffentlich etwas anderes.

Wie ist dein Verhältnis zur Kritik heute? Wahrscheinlich fährst du nachts nicht mehr zur Tankstelle…
Nein. Die Fähigkeit, Tanz professionell und kompetent zu beurteilen, hat abgenommen. Es gibt immer weniger seriöse Journalisten, und im Grunde kann heute jeder in seinem Blog seine Meinung in die Welt hinausposaunen. Vielleicht hat uns die Pandemie auch gelehrt, etwas entspannter damit umzugehen. In der Welt geschehen genug schreckliche Dinge, über die es sich aufzuregen lohnt. Da müssen wir uns wirklich nicht noch Hasstiraden um die Ohren hauen. Viele Kritikerinnen und Kritiker waren in den letzten Monaten, glaube ich, froh, wenn überhaupt etwas stattgefunden hat. Etwas, wovon sie auch selber leben! Ich bin nicht für das Empfinden anderer Menschen und deren Geschmack verantwortlich. Natürlich wird es immer Leute geben, die mit meiner Arbeit nichts anfangen können. Ich sehe aber zum Glück auch, wie viele sie erreicht.

Das Ballett Zürich tanzt in seinem neuen Ballettabend deine Choreografie Almost Blue. Das war 2018 dein letztes Stück als Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts. Eine Position, die du 13 Jahre innehattest. Wie hat sich das in dem Stück niedergeschlagen?
Almost Blue ist die Antwort auf das unfreiwillige Ende meiner Stuttgarter Zeit, nachdem mein Vertrag als Hauschoreograf nicht verlängert wurde. Inzwischen habe ich zum Glück bereits wieder dort gearbeitet und ein neues Stück für das Stuttgarter Ballett kreiert. Die Zeit damals war jedoch nicht einfach, weil ein wichtiger Abschnitt meines Lebens von heute auf morgen zu Ende war. Abgelehnt zu werden und das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass jemand deine Kunst nicht mehr haben will, ist eine tragische Erfahrung. Der Titel Almost Blue bezieht sich eigentlich auf einen berühmten Song von Chet Baker. «Beinahe traurig», so habe ich mir das übersetzt. Das hat meine damalige Stimmung ziemlich gut beschrieben. Ich war natürlich traurig, vor allem aber war ich wütend und verletzt. Umso schöner, dass sich alles, was bei einer Trennung so bitter zurückbleibt, inzwischen aufgelöst hat…

Du sprichst von Trauer und Wut in Almost Blue. Reflektieren deine Stücke generell die Umstände ihrer Entstehung?
Meine Choreografien sind nie am Reissbrett entworfen oder von langer Hand vorbereitet. Selbst wenn ich ein Handlungsballett choreografiere, nährt sich das von der Zeit, durch die ich gerade gehe, nährt sich durch jeden einzelnen Tag. Im Theater, wo es für viele der beteiligten Gewerke um Sicherheiten und verlässliche Fakten geht, ist das oft eine schwierige Situation. Auch für die Tänzerinnen und Tänzer, die mit mir arbeiten. Die fragen gelegentlich schon mal: Kommt da jetzt noch was? Mein Leben könnte vielleicht einfacher sein, wenn ich mich langfristiger auf meine Stücke vorbereiten würde, aber das ist nicht meine Art zu arbeiten. Manchmal jammere ich, dass ich zu viel arbeite. Aber gestern Abend hatte ich genau den anderen Gedanken. Da habe ich mich gefragt: Habe ich eigentlich jemals gearbeitet? Oder ist das einfach Teil des Lebens?

Bei unseren letzten gemeinsamen Arbeiten hier in Zürich hatte ich immer das Gefühl, dass es neben dem Augenblick vor allem die Menschen sind, die dich umgeben und bestimmte Dinge in dir freisetzen…
Was ich mir abends im Bett als etwas Magisches vorstelle, hat meist nur wenig mit der Arbeitsrealität des nächsten Tages zu tun. Der Weg zur Magie ist meist alles andere als magisch. Es gibt Tänzer, bei denen du in der Probe denkst, wie unkoordiniert und fürchterlich das gerade aussieht. Aber wenn dann der Vorhang aufgeht, ist es genau das Richtige! Es ist toll, dass dieses Choreografieren bis zum letzten Moment so ein Element der Überraschung birgt. Wenn ich diesen Gedanken wirklich zu Ende führe, würde ich fast sagen: Nach der Premiere kann das für mich verschwinden, das Zeug… Diese wenigen Minuten der Premiere, in denen sich die ganze Energie entlädt, haben etwas Rauschhaftes. Bei der zweiten Vorstellung ist das für mich dann eigentlich schon gegessen…

Ist die Wiederaufnahme eines deiner Stücke durch eine andere Compagnie für dich dann nicht eine völlig anachronistische Geschichte?
Mit neuen Menschen an einem anderen Ort kommt da doch wieder ein kreatives Element hinein, weil das Stück für die Tänzer neu ist. Dennoch muss ich mich jedes Mal unheimlich disziplinieren, um nicht frustriert mit mir selber zu sein. Manchmal ist es ein Kampf, alte Stücke wiederzusehen, weil man sich sofort auf die Dinge fokussiert, die man verpasst hat oder die nicht stimmen. Da muss ich dann die Augen zukneifen und denken: Okay, das gehört jetzt den Tänzerinnen und Tänzern, die es neu machen. Ich hoffe, dass ich mit dem Alter gnädiger mit mir selbst werde. Die Sucht richtet sich immer auf das nächste Stück. Aber oft bin ich auch überrascht, wenn ein neuer Tänzer in einem älteren Stück Gefühle für sich entdeckt, die dann auch mir etwas bedeuten.

In Almost Blue verwendest du Musik von Antony and the Johnsons und der amerikanischen Soul-Legende Etta James. Der erste Teil mit der geradezu süchtig machenden Stimme von Antony Hegarty hat einen sehr elegischen Charakter, der Gesang verbindet sich auf magische Weise mit deinem choreografischen Material. Mit Etta James bekommt das Ganze so einen Zug nach vorn, und man spürt eine Aufbruchsstimmung…
Das ist dann ja wie ein Stück im Stück. Da wollte ich nochmal Luft holen, auf die Pauke hauen und den ganzen Dreck von oben runter schütten auf alle. Da ist schon ein bisschen Trotz und Wut und Kraft drin.

Am Anfang fallen sogar ein paar Schüsse, und der Körper eines Solisten ist am Schluss blutrot verschmiert…
Du siehst, dass ich da ziemlich «aggro» drauf war…

Ein besonderer Moment ereignet sich am Beginn des letzten Drittels, wenn ein Tänzer allein auf der Bühne verbleibt und dann die Bühne, nach hinten gehend, verlässt. Da empfinde ich diesen Moment des Abschieds sehr präsent, auch in dieser unnachahmlichen Verschiebung des Oberkörpers. Rückenansichten der Tänzerinnen und Tänzer, aber auch die Choreografie des Rückens waren in deinen frühen Arbeiten ein wichtiges Thema. Woher kommt das?
Ich bin immer wieder überrascht, wie sensibel der Rücken ist und was da alles an physiologischen Prozessen nötig ist, um überhaupt zu gehen oder zu fühlen. Schon sehr früh habe ich Rücken-Zeichnungen von Picasso gesehen, die ich unheimlich erotisch fand. Meine Mutter hat zu Hause immer noch einen Rückenkratzer. Das ist schon eine wahnsinnig sensible Gegend, und ich staune auch immer wieder, wie viele gesundheitliche Leiden primär mit dem Rücken zusammenhängen. In meinen ersten Stücken hatten die Rückenansichten aber noch einen anderen Grund. Da habe ich die Tänzer umgedreht, weil ich noch so schüchtern war. Ich wollte einfach nicht, dass sie mich beim Tanzen ansehen.

Aber das ist anders geworden in den jüngeren Stücken… Da erlebt man Tänzerpersönlichkeiten, die sehr auf einen zukommen und mit dem Blick sogar gelegentlich provozieren. In Almost Blue finden sich aber noch andere charakteristische Goecke-Elemente wie die Flatterarme oder das fahrige Abtasten und Klopfen auf Torso und Gliedmassen. Die Oberkörper sind aber oft nicht mehr nackt, sondern mit T-Shirts und langen Handschuhen bedeckt…
Auch das war sicher ein Wutreflex, dass ich die freien Oberkörper und Arme, die so etwas wie mein Markenzeichen waren, dem Blick entzogen habe…

Nach 24 Minuten prasselt plötzlich Erde auf die Bühne!
Eigentlich hatte ich Lust, den Dreck aus sämtlichen Ritzen des Stuttgarter Theaters herauszukratzen, was natürlich nicht möglich war. So ist es nun eine Mischung aus Sand und Erde. Ich wollte einfach, dass der ganze Dreck von oben nach unten fällt, auf alle drauf…

Dieser Dreck ist dann aber auch der Boden, auf dem wieder Tanz stattfindet. Der Tanz hinterlässt Abdrücke, wirbelt Staub auf, verwischt die Spuren… ein schönes Bild für Abschied und die Endlichkeit von Tanz.
Es bleiben hoffentlich ein paar Spuren. Aber ich wollte auch Dreck hinterlassen, den man danach noch wegräumen muss. Er war das Ventil für meine Traurigkeit.

Wie schaust du jetzt mit dem Abstand von drei Jahren auf die Stuttgarter Zeit?
Wie schon gesagt, bin inzwischen wieder öfter in Stuttgart, auch durch meine Verbindung zu Gauthier Dance. Rückblickend weiss ich natürlich, wie wichtig Abschiede im Leben sind, aber es hat mir trotzdem zugesetzt, diese Stadt zu verlassen. Ich bin mit 29 nach Stuttgart gekommen, um dann mit 46 wegzugehen. Das war eine wichtige Zeit und der Grundstein für alles, was ich heute bin. Dass ich meine Wohnungstür in Stuttgart nach so vielen Jahren wirklich zugemacht habe und von dort weggegangen bin, ist bis heute noch nicht richtig bei mir angekommen.

Vielleicht hat dir aber auch eine innere Stimme gesagt: Mach was Neues! Seit 2018 bist du Chef des Balletts am Staatstheater Hannover. Wie geht es dir in dieser neuen Rolle?
Sicher ist das erst einmal eine sehr privilegierte Position. Als problematisch empfinde ich, dass sich das Verhältnis zu den Tänzerinnen und Tänzern verändert. Wenn ich irgendwo gastiere, ist das wie eine Affäre. Am Tag nach der Premiere setze ich mich in den Zug, und das Verliebtsein ist vorbei. Mit einer eigenen Compagnie ist es mit diesem Verliebtsein etwas anderes, weil man für eine viel längere Zeit zusammengeschweisst ist. In den Gesprächen bemerke ich, wie viel meine Arbeit und ich als Person den Tänzerinnen und Tänzern bedeuten. Das hat mich am Anfang ganz schön erschlagen, weil man sich natürlich sorgt, ob man das alles überhaupt jemals zurückgeben kann. Man trägt da eine grosse emotionale Verantwortung.

Verschwindet der Choreograf jetzt manchmal hinter dem Ballettdirektor?
Das Ballett Hannover hat 29 Mitglieder. Das ist nicht riesig, aber auch nicht so klein. Es ist genau die Grösse, wo man den Leuten noch nahe ist und die Tänzerinnen und Tänzer nicht in der Anonymität verschwinden. Ich bin in der glücklichen Situation, dass mir mein stellvertretender Direktor viele administrative Dinge abnimmt. Aber er sagt mir auch oft: Die Leute wollen dich haben! Sie wollen dich sehen, den «Direktor»! Das klingt immer so, als wäre ich Heinz Erhardt in den Sechziger Jahren mit Schreibtisch und Aktentasche… Wir sind ja gerade in einer Zeit, wo diese ganzen Begriffe zerfallen. Man will nicht mehr den grossen Urtypen des Intendanten, der alles bestimmt. Und Direktor ist auch so ein altes Wort…

Hast du ein besseres?
«Ballettchef» gefällt mir besser… aber so sehe ich mich eigentlich auch nicht. Gestern Abend bin ich ins Bett gegangen mit dem Gedanken: Bloss nicht erwachsen werden! Bloss nicht mit so einer Position aufhören zu spielen. Aber es ist heute auch so, dass man kaum noch verrückt spielen kann, weil man Gefahr läuft, jemand könne daran Anstoss nehmen. Nur jemanden in den Arm zu nehmen, kann schon falsch verstanden werden… Wenn ich heute in einen Ballettsaal komme, bemerke ich manchmal so eine Barriere aus Respekt und Bewunderung. Das hat sicher mit dem Erfolg und dem Älterwerden zu tun. Dann denke ich: Mensch, ich bin doch nur Marco, der für euch ein Stück machen will. Aber das geht nicht mehr so wie früher. Zum Glück gibt es manchmal noch so etwas wie den Liebhaber, wo ich mich dann doch freue, dass das gelungen ist.

Der Liebhaber, dein Ballett nach dem Buch von Marguerite Duras, war während der Pandemie als Stream aus Hannover zu sehen – mit unglaublicher Resonanz. Überhaupt hat Corona deiner Kreativität keinen Abbruch getan…
Obwohl ich in Bezug auf Krankheiten eher ängstlich bin, habe ich manchmal total vergessen, was da gerade los war. Nach drei Monaten zu Hause habe ich ge- dacht: Existiere ich eigentlich, wenn ich nicht arbeite? In diesen Konflikt gerate ich jeden Sommer, aber im Lockdown ist mir noch einmal sehr bewusst geworden, was Arbeit für ein Geschenk ist. Als dann der Anruf von Eric Gauthier kam, ob ich nicht einen Abend bei ihm in Stuttgart machen wolle, habe ich ganz schnell meine Taschen gepackt! In dieser armen Zeit ein Stück kreieren zu dürfen, war ein grosses Geschenk! Für eine Weile konnte ich die Pandemie vergessen. Dennoch: Es bleibt die Erkenntnis, dass das, was wir machen, gesellschaftlich und politisch gesehen, überhaupt keine Rolle spielt. In den grossen Diskussionen ging es in erster Linie um Fussball, vielleicht noch um ein paar Konzerte. Aber zum Tanz hat nie- mand was gesagt. Bitter!

Das Streaming von Ballett- und Opernproduktionen hat durch die Pandemie eine neue, ganz ungeahnte Bedeutung erlangt. Das Ballett Hannover war da sehr aktiv. Haben diese gestreamten Produktionen eine Zukunft, oder waren sie mehr ein Gebot der Stunde?
Ich hätte dieses Echo früher nicht für möglich gehalten. Nach der Premiere von The Big Crying am Nederlands Dans Theater habe ich bis spät in die Nacht Nachrichten aus aller Welt bekommen. Da schrieben Leute aus Wellington und waren begeistert! Viele meinten, sie seien emotional total in die Aufführung hingezogen worden und hätten völlig vergessen, nicht live dabei gewesen zu sein. Offenbar vermag Tanz also auch in diesem Format zu berühren.

Du hast von der «Sucht» nach dem nächsten Stück gesprochen. Was wird das sein?
Gerade freue ich mich auf ein neues Stück für das Ballett der Wiener Staatsoper, aber im Grunde ist der Ort gar nicht so wichtig. Wie mein Hund Gustav Witterung aufzunehmen, die Chance zu spüren, etwas Neues und Schönes zu machen, das gibt mir viel Energie. Doch irgendwie wünsche ich mir auch, dass alles noch ein bisschen so bleibt, wie es ist. Dass ich gesund bin, die Mutter noch lebt, der Hund noch eine Weile da ist… Das sind Gedanken, die ich mit Zwanzig, Dreissig, auch mit Vierzig noch nicht hatte. Und dann erinnere ich mich an «Junge Choreografen» in Stuttgart. Wie damals auf der Treppe zu sitzen und zu warten, dass ein Studio frei wird, um mit ein paar Tänzern zu arbeiten. Mit den Leuten zu quatschen, eine zu rauchen. Das suche ich immer noch. Es war die aufregendste Zeit…

Das Gespräch führte Michael Küster.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 85, Oktober 2021.
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Umtost von kosmischen Winden

Das Ballett Zürich eröffnete die Saison 2021/22 mit einer aufsehenerregenden Produktion – der europäischen Erstaufführung von Crystal Pites neuem Stück «Angels’ Atlas», das als Koproduktion mit dem Kanadischen Nationalballett entstanden ist. Die Choreografin wagt darin nicht weniger als eine Vermessung des Himmels und des Menschseins in Tanzform. Dorion Weickmann hat mit der Ausnahmekünstlerin gesprochen und beleuchtet in ihrem Porträt ästhetische, persönliche und politische Aspekte ihrer Arbeit.

Es war einmal ein kleines Mädchen, das oft in den Himmel schaute und sich vom Kosmos und seinen Gestirnen erzählen liess. Manchmal verspürte es dabei einen schwindelerregenden Kitzel. Dann fuhr der Blitz der Erkenntnis in seinen Körper – ein Gefühl, als falle es durch Raum und Zeit. Diese Augenblicke haben das Mädchen beflügelt. Haben es später angespornt, nach den grössten Rätseln zu greifen. Ist nicht jedes Menschenkind klein «im Angesicht der unbeantwortbaren Fragen über Liebe, Tod und die Unendlichkeit»? So steht es in Crystal Pites Notizen zu Angels’ Atlas.

Sacht sinkt ein Nebelrelief hernieder, eine galaktische Wolke, aus der stalaktitenartige Gebilde dem Erdboden entgegenwachsen. So spitz, dass sie die Menschen, die da dicht beieinander kauern, aufzuspiessen drohen. Eine Fata Morgana? Das Himmlische Jerusalem, jenes postapokalyptische Paradies, dessen Kerzenkranz in Kirchenräumen die Zukunft verheisst? Noch liegen die Leiber gefangen im Staub. Als das Licht sie berührt, fährt ferner Atem in sie hinein. Schenkt ihnen Kraft, sich aufzurichten. Auszuschreiten. Fortzugehen. Und doch lösen sich längst nicht alle. Aus dem Dunkel erklingt Engelsgesang. Er hält sie fest. Fest auf der Erde.

Ein Spätsommertag, über Vancouver hängt seit Wochen schon eine Hitzeglocke. Die Wälder brennen. Die Menschen stöhnen und flüchten tief ins Innere ihrer Häuser. Crystal Pite sitzt an ihrem Schreibtisch, die Zoom-Kamera läuft. Über den Atlantik hinweg spricht sie von ihrer Arbeit, der Pandemie, von den Fragen, die uns alle umtreiben: Wie soll, wie kann es weitergehen mit der Welt, mit dem Planeten, den wir sehenden Auges ruinieren? In ihrem Rücken steht eine Tür weit offen, dahinter brütet die Wärme, bohrt sich in Terrassenplatten, Gartenbank und Geländer. In die flimmernde Luft hinein überlegt Pite, was Angels’ Atlas bedeutet: «Engel stehen für das, was wir nicht wissen. Der Atlas für das, was wir wissen. Und das Stück für die Grenze dazwischen.» Das Limit also, das wir gerade permanent überschreiten – in Richtung Abgrund.

Angels’ Atlas, von Crystal Pite vor zwei Jahren fürs Kanadische Nationalballett entworfen und jetzt nach Zürich übernommen, ist ein Wunderwerk an Präzision, gekreuzt mit den Launen des Zufalls. Dramaturgie und Choreografie sind minuziös ausgestaltet. Aber die Lichtarchitektur, die das Geschehen überwölbt, ist ein aleatorisches Spiel. Der Lichtdesigner Tom Visser und Jay Gower Taylor, Pites Bühnenbildner und Lebenspartner, haben die Mechanik über Jahre hinweg ersonnen. Bis sie zum Ausgangspunkt des tänzerischen Grenzgangs wurde, den Pite 2019 unternahm. Und zwar im Zustand totaler Erschöpfung, wie sie freimütig erzählt. Was kein Wunder ist: In zwanzig Jahren hat sie über fünfzig Werke in Szene gesetzt, das Arbeitspensum ist enorm. Seinerzeit kam sie zudem gerade aus einer Mammutproduktion an der Pariser Oper: Body and Soul tastet die Topografie der menschlichen Existenz zwischen Ich und Wir, Körper und Seele ab. Es ist fast eine Art Vorläufer für die Himmelsvermessung, der freilich nichts über die Strapazen verrät, die solche Kreationsprozesse mit sich bringen. Selbst wenn sie Krisen und Konflikte anspricht, fliegt Crystal Pites Stimme hell und klar über den Ozean. Sie ist zugewandt, aufmerksam, offen. Das Aussergewöhnliche ihrer Person spiegelt sich auch im Resonanzraum ihrer Kunst, die nahbar ist, einfühlsam, phantasievoll und kommunikativ. Die Kanadierin ist sichtlich und hörbar verbunden mit dem, was sie tut. Mit den Menschen, die ihr begegnen, den Tänzern, für die sie choreografiert und die stets von ihr schwärmen: «authentisch», «hierarchiefrei», «empathisch», «inspirierend», «hochkreativ und null arrogant». Prädikate wie diese haften ihr an, sind fast schon ein Markenzeichen. Ein Qualitätssiegel, das ihre Werke beglaubigen. Weil sie berühren, vom allerersten Moment. Weil sie beim Zusehen längst verstummte Saiten zum Klingen bringen: Staunen, Mitgefühl, Erkenntnis. Crystal Pites Thema ist die Condition humaine und ihre metaphysische Verankerung. Jenseits aller materiellen, aller dramatischen Aspekte werden ihre szenischen Geflechte von transzendenten Fäden zusammengehalten. Die Choreografie orientiert sich an horizontalen Prinzipien, die geistige Matrix wurzelt in der Vertikale. Kosmische Winde, irdische Fragen – so gesehen ist Angels’ Atlas ein Manifest, das Crystal Pites Ästhetik idealtypisch ausformuliert: Alles ist mit allem verbunden, nichts geschieht ohne Sinn und Hintersinn. Ein Blick auf den musikalischen Anfang genügt. Pjotr Tschaikowski steht für das Ballett, seine Kompositionen sind die Signatur der Klassiker schlechthin. Der Cherubim-Hymnus, den er 1878 schrieb, ist das geistliche Gegenstück: eine Ode auf die Herrlichkeit des Himmels, das Jenseits. Das freilich nur erblickt, wer die sterbliche Hülle verlassen, das Instrument des Tanzes abgelegt hat. Wenn Pite Angels’ Atlas mit Tschaikowskis Sakralchor eröffnet, knüpft sie das tänzerische Traditionsband neu – und anders: Innigkeit statt Spitzenschuhglamour. Gleichzeitig findet ein Akt der Einschreibung statt: Auf den Flügeln der Musik gleitet der vergängliche Körper hinüber in die Ewigkeit. Wer Angels’ Atlas betrachtet und Tschaikowski lauscht, wird im Strom der Gedanken vielleicht noch ein anderes Ufer erreichen, nah gelegen und fern zugleich: Charles Ives’ The Unanswered Question, jene 1908 veröffentlichte Komposition, die wieder und wieder eine einzige Frage in den Klangraum wirft und ohne Antwort bleibt. Kein Geringerer als der choreografische Titan George Balanchine hat Charles Ives’ elegisches Klangmonument 1954 ins Tänzerische verlängert, unter Beibehaltung der Nichtkorrespondenz. Auch Angels’ Atlas stellt die Frage nach dem Schicksal des Menschen, dem Wesen der Menschlichkeit. Aber anders als Balanchine baut Pite sphärische Brücken zwischen Diesseits und Jenseits. Sie denkt Welten zusammen, statt sie auseinanderzudividieren.

Dieses Talent zieht sich durch Crystal Pites Biografie wie durch ihr Schaffen. Seinen Anfang nimmt beides in Terrace, British Columbia. Ein Städtchen mit rund 12’000 Einwohnern, das von der Holzindustrie lebt, aber für Familie Pite – Vater, Mutter, Tochter und Söhne – bald zu klein ist. Nächste Station ist Victoria, wo Crystal Tanzunterricht nimmt und schon bald beginnt, für andere Kinder zu choreografieren. 1988 startet sie in die Profikarriere als Tänzerin am Ballet BC (für British Columbia), zwei Jahre später hebt sie dort ihr erstes Bühnenwerk aus der Taufe. Zudem begegnet sie dem Choreografen, der sie künstlerisch wie kein anderer prägt: Mit der Extremetüde In The Middle, Somewhat Elevated hebt die junge Tänzerin ab in den Orbit von William Forsythe. Mitte der 1990er-Jahre wechselt sie zu seiner Truppe nach Frankfurt am Main. Was handwerkliches Können betrifft, weist ihr der Amerikaner den Weg. Gleichwohl schlägt sie stilistisch eine andere Richtung ein: Wo Forsythe mit lässiger Eleganz das postmoderne Ballettzepter schwingt, emanzipiert sich Pite und arbeitet mit allen Schattierungen der Tanzpalette. Ihre Schöpfungen sind poetisch und politisch. Sie pulsieren organisch, betören mit dichten Tanztexturen und bringen jedes Corps de ballet zurück zu seiner eigentlichen Bestimmung: gemeinsamer Herzschlag, kollektive Atmung.

Noch als Geheimtipp gehandelt, kehrt Pite 2001 nach Kanada zurück und gründet in Vancouver ihre eigene Kompanie «Kidd Pivot» – bis heute Labor ihrer kreativen Ideen. Alljährlich bringt sie eine Neuproduktion heraus, zwei Jahre Vorlauf sind durchaus üblich. Anders verhält es sich im Theaterbetrieb, den sie von Toronto über London bis Zürich inzwischen in- und auswendig kennt – samt Privilegien und Problemen: Die Produktionsbedingungen sind gut, die Probenzeiten kurz, und ein Riesenensemble zu dirigieren, erfordert anderes Geschick und Gespür als für die Handvoll Tänzer, die bei «Kidd Pivot» unter Vertrag sind. Indes hat gerade die überschaubare Grösse des eigenen Teams ein Pionierprojekt begünstigt, das der Choreografin wie ihrem Co-Direktor Eric Beauchesne enorm am Herzen lag: «Kidd Pivot» reist und arbeitet klimaneutral und behauptet sich damit als Vorreiter im internationalen Tourneegeschäft. Was zur Überzeugung einer Künstlerin passt, die Tanz als Universalie begreift – als Stoff, aus dem sich Gesellschaftspanoramen ebenso modellieren lassen wie intime Beziehungsdramen. Als Werkzeug, das Wirtschaftskomplexe erhellen und Weltliteratur übersetzen kann. Exemplarisch für Pites politische Ader steht ihre preisgekrönte, mit dem Royal Ballet London entwickelte Flüchtlingsparabel Flight Pattern (2017) – eine surrealistische und deshalb nur umso wahrhaftigere Reflexion über globale Migration und Menschen, die schutzsuchend über Meere und Kontinente treiben. Auch Betroffenheit (2015) verhandelt eine Tragödie von antiken Ausmassen: den Tod der Tochter, den Co-Autor Jonathon Young erlitten hat. Nie kippt das Trauma ins Pathetische, die Erinnerung in Verklärung. Stattdessen agiert Young inmitten der Tänzerschar von «Kidd Pivot», den grotesken Platzhaltern seiner widerstreitenden Traueraffekte. 2016 entwarf der Schauspieler auch die Sprachpartitur für The Statement, das am Nederlands Dans Theater herauskam. Der Text steuert ein Tänzer-Quartett im Krisenmodus, das die Ursache eines kapitalen Betriebsfehlers aufzudecken sucht – Inquisitionstribunal im Konzernvorstand. Ebenfalls im Tandem haben Young und Pite zuletzt Gogols Revisor (2019) in ein schillerndes Tanzspektakel verwandelt. Dann schlug Corona zu, und die gerade in Amsterdam gastierende Compagnie musste heimreisen, statt Europa zu beglücken. Das war im März 2020. Seitdem hat die Choreografin kein Studio betreten, keine Proben abgehalten, keine Reise angetreten. Bis in den Spätsommer 2021 sass sie in Vancouver fest, mit Mann und zehnjährigem Sohn, der immerhin noch zur Schule gehen und Freunde treffen konnte. War es Vorsehung, war es Zufall – für 2020 hatte Crystal Pite ohnehin ein Sabbatical geplant: Durchatmen, Tempo rausnehmen und den jahrelangen Dauerlauf von Termin zu Termin, von Ort zu Ort, Theater zu Theater unterbrechen. Sie wollte Zeit haben für das Kind, und für neue Projekte. Stattdessen rollte die Pandemie heran: sämtliche Aktivitäten eingefroren, alle physischen Kontakte ausgehebelt. Ein Umstieg auf Digitalformate kam nicht infrage: Ausgeschlossen, so mit Tänzern zu arbeiten! Zumindest für eine wie sie. Pites Kunst lebt von Achtsamkeit, Wahrnehmung, Austausch, von Anwesenheit mit allen Sinnen und ohne Kamerafilter dazwischen. Die Auszeit hat viele Fragen aufgeworfen, hat sie mit dem eigenen Selbst- und Weltverständnis konfrontiert: «What can I bring to the conversation?»: Was ist ihre Rolle als Künstlerin? Jedenfalls nicht, in Aktivismus zu verfallen. Den katastrophischen Zeitläuften setzt sie die Macht der Bilder, der Schönheit wie des Schreckens entgegen: «Die beste Möglichkeit, Menschen zu erreichen, ist, gute Kunst zu machen.»

Unmerklich schiebt sich der Nebelschleier himmelwärts. Eine Theaterewigkeit lang hat er die Menschen begleitet – Liebende, Sterbende, Trauernde, Tröstende, Zweifelnde. Das Leben, es bleibt ein Geheimnis. Magnum Mysterium, das über der Szene schwebt und die Reprisen des Anfangs begleitet: weltumarmende Ports de bras, gedrehte Arabesques. Die letzten Sekunden gehören Mann und Frau. Da ist nichts Trennendes mehr. Nur tiefe Ruhe. Überirdische Vollkommenheit. Das kleine Mädchen, das so gern in die Sterne schaute, pflückt sie heute vom Tanzhimmel. Von der Bühne funkeln und strahlen sie dann in die Herzen der Menschen hinein, die ihren Glanz nicht wieder vergessen. Kein Märchen, sondern die reine Wahrheit über Crystal Pite und ihre Werke. Worte reichen nicht hin, um den Zauber einzufangen.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 85, Oktober 2021.
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Emma Ryott

Emma Ryott stammt aus England. Sie arbeitete für das English National Ballett und die Royal Shakespeare Company. Heute ist sie international als Kostüm- und Bühnenbildnerin tätig. Eine enge Zusammenarbeit in den Bereichen Ballett und Oper verbindet sie seit 2003 mit Christian Spuck. Auch für seine Inszenierung «Monteverdi» kreiert sie die Kostüme. Ein Text aus dem Jahr 2022.

Wenn Emma Ryott im Kino sitzt, schaltet sich ihr Extraauge ein. So, wie sie es mit der Hand andeutet, sitzt es, natürlich unsichtbar, links an der Schläfe und speichert nützliche Eindrücke für ihren Job, an den die Kostümbildnerin dann eigentlich nicht denkt. «Ich gehe ja ins Kino, um hineingezogen zu werden, to get involved!», sagt sie. Aber die Elster in ihr, wie sie sie nennt, schläft nie, «hmmm, this could be interesting…», und trägt alles ins Nest, die Kinobilder und noch viel mehr, «Sachen aus dem Internet, Zeitungsartikel, und was man in irgendeinem Fenster sieht, Magazine, Modemagazine, auch alte Kollektionen, es gibt Designer, die ich sehr mag, Jean Paul Gaultier, Alexander McQueen…» Das alles fliesst ein in den inneren Fundus und verwandelt sich irgendwann in Stoff und Farbe, Rüschen und Rüstungen, in das, was Schauspieler, Sängerinnen, Tänzer auf der Bühne tragen. Während wir in der Zürcher Opernkantine zusammensitzen, werden in den Werkstätten ein paar Meter weiter silberne Applikationen auf schwarze Gewänder gestickt, einfachere Kleider hängen schon reihenweise auf Bügeln, «250 Kostüme, alles in allem», sagt Emma. Nicht, weil so viele Tänzerinnen und Sänger auf der Bühne wären in Monteverdi, dem neuen Ballett von Christian Spuck – aber es gibt zwei Besetzungen, und jede und jeder darin wird immer wieder mal etwas anderes tragen.

Emma Ryott selbst trägt dezentes Beige. «Als Kostümdesignerin laufe ich neutraler herum als die Leute, die ich kostümiere. Ich muss nicht die grosse Präsenz haben. Manche ja, aber ich nicht. Ich bin keine Performerin und will auch keine sein.» Ihr kann die grosse Präsenz genügen, die ihre Arbeit international und besonders im Œuvre des Choreografen Christian Spuck geniesst, mit dem sie seit achtzehn Jahren zusammenarbeitet. Über Monteverdi sprachen die beiden zuerst vor einem Jahr in Moskau, wo Emma für seine Choreografie Orlando das Bolschoi Ballett einkleidete. «Die Musik war dabei noch gar nicht so wichtig, wie sie am Schluss sein wird. Wir sprachen über Atmosphäre mehr als über alles andere. Später dann über Farben, über die basic colour world. Wir wollen diesmal viel mehr Farbe nach so vielen monochromen und disziplinierten Paletten. Wir wollen mehr Freiheit, und wir wollen die Geschichte über Farben erzählen.» Der Haken ist nur, dass es keine Geschichte gibt, auch wenn Monteverdis Combattimento eines der aufregendsten Liebesdramen der Musik ist. Zusammen mit anderen Werken wird ein abstraktes Ballett daraus, «und das ist schwer hinzukriegen, nicht ohne Kopfzerbrechen!»

Trick ist es, eben doch eine Geschichte zu erzählen, mit den Kostümen. Vom story telling mag sie nicht lassen, seit sie mit zwölf, dreizehn Jahren von Shakespeares Henry V. überwältigt war, in Stratford-­upon­-Avon. «Das war ein Schulausflug», sagt sie, «ich fand die Ausstattung unbeschreiblich. Ich dachte, das möchte ich auch können, so etwas entwerfen!» Und so studierte sie, jüngste von drei Töchtern einer Lehrerin und eines Werbefachmanns, Theaterdesign in Nottingham. Dann wurde sie Kostümbildnerin beim English National Ballett. Es folgten dreizehn Jahre bei der Royal Shakespeare Company, zuletzt als Kostümchefin, schliesslich machte sie sich auch mit der Oper vertraut und wurde selbstständig.

«Ich musste meine eigene Stimme finden», meint sie. Das gelang ihr auf dem Kontinent. «Es gibt hier mehr Möglichkeiten, es ist ein wunderbares Theatersystem auf eurer Seite vom Teich, aus historischen Gründen. In England ist der Respekt vor dem gesprochenen Wort gross, aber weniger der vor den visuellen Künsten, überhaupt werden die Künste nicht als Teil des Stoffs des Lebens gesehen, eher als Spezialität.» «The fabric of life» ist eine passende Metapher bei einer Frau, die Stoffe über alles liebt. «Kostüme entwerfen ist wie mit Stoffen malen, sie haben eine Sprache. Alle Kleider haben eine Sprache, auch das, was Sie jetzt tragen. Das ist unbewusst. Sie merken es nicht mal!»

Sie lacht, und ich wage nicht zu fragen, was wohl kleine blaue Knöpfe an einem weissen Hemd über mich erzählen könnten. Aber – welche Sprachen sieht sie denn in den Strassen der Städte, in denen sie unterwegs ist? «Hier in Zürich sind die Leute gut angezogen in die französische Richtung, sie wollen gut aussehen, schick oder casual, aber auf Nummer sicher. In London sieht man viel extremere Dinge, das mag ich. Sehr eklektisch, bunt, spannungsgeladen. Sie wollen etwas sagen. Hier bin ich! Natürlich nicht alle…» Der Wechsel der Moden über die Jahre ist ihr neulich an eigenen Entwürfen von 2006 aufgefallen, «die Art des Zuschnitts, wirklich seltsam. Schultern sehr gross, Taille sehr klein. Das habe ich gemacht? Das war fast ein Schock, jedenfalls sehr überraschend.»

Die Suche nach der neuen Kleidersprache von Monteverdi war mit den ersten Gesprächen über die Farbpalette natürlich nicht zu Ende. «Ich sammelte Bilder, und wir trafen uns, um zu gucken, worauf wir wie reagieren, was wir mögen. Dann kam ich mit der Kostümabteilung zusammen, erzählte die Ideen, machte Zeichnungen, und wir kreierten eine Art Kollektion. Die können hier wirklich alles. Sie schufen grosse Kostüme, prunkvoll, extravagant, historisch orientiert am 17. Jahrhundert, aber wir fanden, es ist nicht die richtige Richtung. Man muss das vereinfachen, um die Essenz des Stückes zu treffen.»

Wie der Bühnenbildner Rufus Didwiszus, mit dem sie auch diesmal zusammenarbeitet, kennt Emma die Krise auf halbem Weg, «den Punkt, an dem man sich fragt: Was tun wir, wo soll das hingehen? Ist alles, was ich mache, schrecklich? Hat es Sinn? Spricht es zum Publikum?» Dann müsse man einen Schritt zurücktreten: «Okay, schauen wir uns das mal an.» Ja, schauen wir uns das an. Es gibt immer noch weisse Halskrausen, aber so elegant, leicht, reduziert, dass man fast beim Bauhaus ist. Hemden wurden genäht, deren Textur entfernt an Kettenhemden denken lässt – aber nicht explizit. Und alles wirkt schlank.

«Die Bewegungsgeschwindigkeit der Tänzerinnen und Tänzer hat selbst eine Stimme, man darf da nicht zuviel drauftun, am wenigsten bei einem abstrakten Ballett.» Zugleich sind da, gar nicht abstrakt, die Persönlichkeiten. «Christian wählt für bestimmte Bewegungen bestimmte Tänzer aus, das versteht man erst, wenn man eine Weile mit der Compagnie zusammen war. Und das kann ich unterstützen. Ein Kostüm hilft auch, die Rolle und sich selbst zu entdecken, es kann ihnen den kleinen Schubs geben, von dem sie gar nicht wussten, dass sie ihn brauchten.»

Das ist eine schöne Beschreibung für das, was Theater auch mit den Menschen machen kann, die es besuchen. Einmal nahm Emma ihren vierjährigen Sohn mit nach Stratford­upon-­Avon, den Ort ihrer Erweckung, es gab Wie es euch gefällt. «Er war vollkommen gebannt vom Schnee auf der Bühne. ‹How come it’s snowing on stage, mum?›» Das habe er, nun erwachsen, längst vergessen, aber nicht, dass da etwas Wunderbares geschah. Voriges Jahr hat sie für ein kleines Sommerfestival in Oxfordshire Wagners Rheingold ausgestattet. «Es gab Vorstellungen für Schülerinnen und Schüler, und es war auf Deutsch! Natürlich gab’s auch ein bisschen unruhiges Füssescharren. Mit elf, zwölf kann man nicht alles interessant finden. Aber sie waren hingerissen, sie waren mitten drin!»

Für Emmas eigenen Weg war übrigens nicht nur der Schulausflug zu Shakespeare bedeutsam, sondern auch das BBC­-Fernsehen am Samstag. «Da gab es die frühen Hollywoodfilme, schwarzweiss, die habe ich mit meinen Schwestern angeschaut. Seitdem ist Edith Head mein Vorbild.» Die Frau, die Kostüme für Bette Davis, Audrey Hepburn, Ginger Rogers, Elizabeth Taylor, für Fred Astaire, Cary Grant entwarf. «Sie war eine Meisterin, absolut unglaublich!» Emmas Extraauge, das war schon früh aktiv.


Ein Text von Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 88, Januar 2022.
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Für mich ist Blanche ein grosses Mysterium

Mit Blanche hat Francis Poulenc einen faszinierend rätselhaften Charakter als Hauptfigur seiner Oper «Dialogues des Carmélites» geschaffen. Olga Kulchynska versucht ihn für die Zürcher Produktion zu ergründen.

Olga, wir sprechen noch vor der ersten szenischen Probe über deine Rolle. Wie ergeht es dir in deinen Vorbereitungen mit Blanche?
Als ich das Libretto las, ergaben sich für mich so viele Fragen an das Stück und an Blanche! Wenn ich an einer Rolle arbeite, suche ich die Charakterzüge einer Figur auch immer in mir selbst. Doch in diesem Fall war das anders. Für mich ist Blanche ein grosses Mysterium und emotional noch nicht richtig greifbar. Bis jetzt empfinde ich sie als eine völlig wahnsinnige, verrückte Person. Noch immer suche ich die richtige psychologische Diagnose für sie, vielleicht ist sie bipolar. Auch musikalisch gesehen ist diese Rolle voller Kontraste. Manchmal ist Blanche sehr ruhig, fast apathisch, manchmal ist sie völlig überdreht, ja hysterisch. Ihr Ausser-Atem-Sein, ihre Zartheit und Ängstlichkeit sind deutlich in der Komposition verankert. Aber generell ist die Figur für mich zum jetzigen Zeitpunkt noch eine Gestalt aus dem 18. Jahrhundert.

Hast du dich mit den historischen Quellen der Geschichte beschäftigt und die Novelle Die Letzte am Schafott von Gertrud von Le Fort, die die Basis für das Schauspiel von Georges Bernanos und der Oper von Poulenc war, gelesen?
Ja. Und ich habe nachgeforscht, wer diese Karmeliterinnen sind. Dieser Orden existiert heute ja noch immer. Ich habe mir diesbezüglich einige Dokumentarfilme angesehen: Der Karmeliterorden ist ein sehr verschlossener Orden, dem man sich kaum nähern kann. In den Interviews dieser BBC-Dokumentation ist mir aufgefallen, dass die Nonnen wie Blanche sprechen: geradezu wolkig und voller Ekstase und Verklärung. Sie benutzen grosse Begriffe wie «Opfer» oder «Leid» – aber ehrlich gesagt: Ich verstehe nicht, was sie damit meinen.

Hast du dennoch einige Seiten in Blanche entdeckt, die etwas mit dir zu tun haben?
Das Einzige, was ich bei Blanche nachvollziehen kann und das ja jeder kennt, ist das Gefühl der Angst. Doch auch da sind Blanches Ängste wiederum so umfassend: Sie hat Angst vor dem Tod, Angst vor dem Leben, Angst vor der Gesellschaft ... Ich persönlich habe vor allem Angst vor der Zukunft. Angst vor dem Tod – nein, das habe ich nicht.

Darf ich dich fragen: Bist du selbst religiös?
Ja, sehr. Ich bin in einer traditionellen, religiös-orthodoxen Familie aufgewachsen, aber in den letzten zwei Jahren habe ich mich eher der protestantischen Kirche zugewandt. All diese katholischen Traditionen, diese Rituale, diese Ergebenheit und Hingabe, die sind eigentlich sehr weit weg von mir.

Wir führen unser Gespräch via Zoom, denn du bist wegen einer Covid-Infektion noch in Isolation. Hat diese Isolation etwas mit dir und deiner Sicht auf Blanche gemacht?
Ich glaube nicht. Ich bin sowieso eine introvertierte Person und mag es eigentlich sehr, isoliert zu sein. Ich brauche es nicht, mich mit vielen Menschen zu umgeben. Ich kann sehr gut lange alleine sein und leide dabei auch nicht.

Blanche ist ja auch eine sehr isolierte Figur...
Blanche hat Angst vor Menschen. Sie versucht, in ihrem richtigen Leben vor ihren Ängsten zu flüchten, und geht in den Karmeliterorden. Aber natürlich findet sie auch da nicht das, wonach sie wirklich sucht. Alles ist problematisch in ihrem Leben, ihre Familie, die Gesellschaft, sogar der Orden. Egal, wo man bei ihr auch gräbt, es öffnen sich immer Abgründe. Am Ende der Oper bringt sie es dann auf den Punkt: Sie sagt, sie sei in die Angst hineingeboren, sie habe darin gelebt und lebe noch immer darin. Einen wichtigen Teil ihres Wesens macht sicher ihr Glaube aus. Sie verändert sich am Ende der Oper nicht aufgrund ihrer inneren Verfassung, ihrer Instinkte, aufgrund der Umstände oder wegen ihrer Beziehung zu den Nonnen, sondern weil ihr Glaube wächst.

Wenn Blanche in den Tod geht, ist das für dich etwas Positives, im Sinne einer Erlösung, oder doch etwas Negatives?
Für Blanche ist es sicher eine Erlösung und ein sichtbares Zeichen ihres Glaubens. Viele Gläubige finden darin ihren Frieden. Sie betrachten das Leben ja nur als einen Korridor, einen Übergang zum nächsten Leben, das viel besser ist. Alle Nonnen im Stück wissen das und warten auf diese Erlösung. Natürlich haben sie auch Angst davor zu sterben, zumal auf diese schreckliche Art. Andererseits aber scheinen sie zu wissen, dass ein anderes, viel besseres Leben auf sie wartet. Ich persönlich finde diese Idee des Martyriums natürlich schwierig.

Blanche ist ohne Mutter aufgewachsen. Sucht sie vielleicht auch das mütterliche Element im Kloster, in der Verkörperung der Schwestern?
Vielleicht sucht sie im Konvent tatsächlich eine Art Mutterwärme und Zärtlichkeit. Aber sie bekommt sie nicht. Mir fällt auf, dass Blanche in all den Begegnungen und den Gesprächen mit den Schwestern im Kloster immer eine Opferposition einnimmt. Man kennt das ja von Menschen, die zuhause missbraucht oder geschlagen wurden. Anders verhält sie sich hingegen in Bezug auf Constance: Mit ihr ist sie sehr hart, manchmal fast übergriffig.

Dann gibt es diese merkwürdige, beinahe inzestuöse Beziehung zu ihrem Bruder. Er nennt sie zum Beispiel «mein Häschen»...
Im letzten Dialog mit ihrem Bruder sagt sie einen merkwürdigen Satz: Sein Mitleid und seine Zärtlichkeit würden sie zerreissen, sie aber verlange nichts weiter als Respekt. Auch ihre Familie hatte immer dieses Mitleid mit ihr. Sie aber möchte als Person ernstgenommen werden, nicht als Objekt. Ihr familiärer Hintergrund ist von grosser Bedeutung. Ihre Mutter starb, als sie geboren wurde. Vermutlich fühlt sie für diesen Tod auch eine gewisse Schuld.

Hast du dich vorab mit Poulenc beschäftigt? Kanntest du seine Musik schon?
Ich habe ein paar seiner Lieder gesungen und ich habe einige Artikel von ihm gelesen. Er hat eine Art Anleitung geschrieben, wie seine Lieder zu singen seien. Poulenc sagt, dass das Wichtigste der Text sei, dass man den Text analysieren und die bedeutsamsten Wörter herausfinden müsse. In Bezug auf die Partie der Blanche ist das aber gar nicht so einfach. Manchmal sind die musikalischen Höhepunkte an Stellen, an denen die Worte gerade unbedeutend zu sein scheinen, manchmal ist es umgekehrt. Text und Musik streben in ihrer Bedeutung oft auseinander. Und das macht es schwer, sich die Partie zu merken. Poulenc macht stellenweise auch völlig überraschende Dinge. Er unterbricht eine Melodie inmitten eines Satzes und führt sie dann auf eine völlig andere Weise weiter.

Als Francis Poulenc die Rolle der Blanche schrieb, hatte er eine ganz bestimmte Sängerin im Kopf: Denise Duval, mit der er oft zusammengearbeitet hat. Sie hat dann auch die Pariser Erstaufführung des Werks gesungen. Was ist das Spezifische am Gesang der Blanche?
Die Rolle ist wirklich ganz anders als alles, was ich bis jetzt gesungen habe. Die Partie ist eher ein Sprechen mit Melodie als ein wirklicher Gesang, eine Art Sprechgesang. Der Gesang wirkt auf mich typisch französisch und sollte auch so interpretiert werden. Wenn man französische Sängerinnen französische Werke des 20. Jahrhunderts singen hört, singen sie in der Mittellage oft gar nicht so laut und mit wenig Vibrato. Sie lassen der Stimme insgesamt wenig Raum. Für mich wird es eine Herausforderung sein, so zu singen. Ich muss hier sehr an meinem Stil arbeiten. Man sollte wie eine Liedsängerin singen, aber das Orchester ist gross besetzt und laut. Wie bringt man das miteinander in Einklang? Wir werden das in den Proben ausprobieren.

Das Gespräch führte Kathrin Brunner
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 89, Februar 2022.
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Jede Faser des Körpers nutzen

Quinn Kelsey war bereits 2013 der Zürcher Rigoletto. Im Opernchor von Hawaii hat er seine Karriere begonnen. Dramaturgin Kathrin Brunner hat den erfolgreichen Bariton vor der Premiere im Januar 2013 getroffen.

Dieser Artikel erschien im Januar 2013.

Es ist schon ein wenig seltsam, dass Quinn Kelsey im nasskalten Zürcher Dezember-Wetter eine dunkle Sonnenbrille trägt. Auf dem Kopf hat er einen schwarzen Hut, wie man ihn von den Blues-Brothers kennt, Stöpsel zum Musikhören im Ohr und unter dem Mantel leuchtet ein T-Shirt der Hardrock-Band Van Halen. Die beiden Dackel, die er besitzt, hat er allerdings nicht mit nach Zürich gebracht. Quinn Kelsey ist spät dran für das Interview und erklärt, er habe Musik mit schnellen Rhythmen gehört, um sich zu beeilen. Dennoch ist er ist die Ruhe selbst – ein Hüne von 1.90 Meter, der viele Gegensätze in sich vereint. «I like things that are different», bricht es im Laufe des Gesprächs einmal aus ihm heraus.

Auf den ersten Blick mag es exotisch anmuten, dass ein Hawaiianer in der europäischen Kunstform Oper Weltkarriere macht. Aber so abwegig ist das nicht: «Die traditionelle Kultur der pazifischen Inseln wie Hawaii, Tahiti, Samoa oder Tonga bis Neuseeland ist primär eine orale Kultur», sagt Kelsey. «Die hawaiianische Sprache hat keine eigene Schrift ausgebildet. Alles basiert auf mündlicher Überlieferung. Daher ist das Singen für uns etwas sehr Natürliches. Es stimmt, dass man auf internationalen Opernbühnen kaum Sänger aus Hawaii antrifft, aber ich habe viele wunderbare Naturstimmen in meiner Heimat gehört; das Talent wäre durchaus da.» Quinn Kelsey wuchs in einem musikalischen Elternhaus auf. Seine Mutter, eine Sopranistin, gab eine Opernkarriere zugunsten der Familie auf, leitete aber jahrelang einen Kirchenchor und den Chor an Quinns High School. Um Noten lesen zu lernen, begann Quinn auf Wunsch seiner Mutter zunächst Trompete zu spielen. Als seine Eltern später gemeinsam im Chor des Hawaii Opera Theater sangen, steckten sie ihn und seine Schwester mit ihrer Begeisterung an. So kam es, dass der 13-jährige Quinn noch vor seinem Stimmbruch und ganz ohne professionelle Stimmbildung in Verdis Aida im Priesterchor mitsang. Es sei seine erste Erfahrung mit der Gattung Oper überhaupt gewesen und sie habe ihn voll und ganz erfüllt – nicht zuletzt, da auf der Bühne die ganze Familie vereint war. «Singen war für mich von Anfang an ein ‹family thing›.» Zwei Jahre später wurde er offiziell in den Opernchor aufgenommen und sang als Solist regelmässig in der Kirche, wo er sich in sehr kurzer Zeit ein grosses Repertoire aneignen musste – «eine hervorragende Schule». Der Zufall wollte es, dass das Hawaii Opera Theater gerade zu dem Zeitpunkt ein kleines Opernstudio für junge Sänger gründete, als Quinn vor der Berufswahl stand; er war einer der ersten, der an diesem Pilotprojekt teilnehmen durfte. Die Leitung des Opernstudios organisierte Meisterkurse und lud wichtige Persönlichkeiten ein. Darunter war auch Richard Pearlman vom Merola Opera Program in San Francisco, einer amerikanischen Talentschmiede, aus der viele berühmte Opernstars wie Anna Netrebko oder Thomas Hampson hervorgegangen sind. Pearlman wurde auf den jungen Künstler aufmerksam und lud ihn nach San Francisco ein. Das war 2002.

Als Künstler wirklich gereift sei er aber ein Jahr später am Lyric Opera Center for American Artists in Chicago. Hier wurde ihm neben den üblichen Fächern wie Stimmbildung oder Italienisch auch Schauspielerei und die Kunst der Körperbeherrschung beigebracht – für einen Sängerdarsteller wie Quinn Kelsey von zentraler Bedeutung: «Ich finde es wichtig, dass man sich als Sänger von Kopf bis Fuss seines eigenen Körpers bewusst ist. Du musst jede einzelne Faser deines Körpers zu nutzen wissen, um einen Charakter glaubhaft auf der Bühne darzustellen. Ich liebe es, mir für jede Figur spezifische körperliche Ausdrucksformen auszudenken – ein Rigoletto muss sich ganz anders auf der Bühne bewegen als ein Valentin in Gounods Faust oder ein Padre Germont in La traviata

Nach seiner Ausbildung am Lyric Center gastierte Quinn Kelsey bald an den grossen amerikanischen Häusern, darunter 2010 an der New Yorker Met als Schaunard in Puccinis La Bohème. Regelmässig singt er an der San Francisco Opera, wo er erst kürzlich gemeinsam mit Ferruccio Furlanetto in Verdis Attila auf der Bühne stand. Und der ältere Kollege Furlanetto schwärmte: «Seit den Zeiten Cappuccillis und Brusons habe ich keinen typischen Verdi-Bariton mehr gehört, – ein Stimmfach, das sich durch ein geschmeidiges, nobles Timbre auszeichnet. Kelsey hat genau die richtige Farbe dafür und verfügt über eine wunderbare Technik.» Seit knapp zwei Jahren ist man auch in Europa auf den hawaiianischen Bariton aufmerksam geworden – Kelsey gab seinen Einstand als Amonasroin Aida in Bregenz und wie ein Lauffeuer macht sein Name seither die Runde durch die Besetzungsbüros der wichtigsten europäischen Opernhäuser. Quinn Kelsey ist auf Jahre ausgebucht. In Zürich bereitet er sein Hausdebüt als Rigoletto in der Regie von Tatjana Gürbaca vor. Kelsey gefällt die Arbeit mit ihr: «Es wird keinesfalls eine traditionelle Produktion werden, aber alles, was sie verlangt, macht für mich Sinn, und sie erzählt die Geschichte so sensibel. Ihre überschäumende, positive Energie steckt das ganze Sängerteam an.»

Zweimal hat Kelsey den Rigoletto bisher gesungen, 2011 in Oslo und in Toronto. 2006 hat er die Rolle jedoch bereits in Chicago als Cover einstudiert. Damals habe er die Partie zwar singen können, aber es sei noch mit grosser Anstrengung verbunden gewesen. Fünf Jahre später habe sich das schon ganz anders angefühlt, Körper und Stimme seien in der Zwischenzeit gereift. «Rigoletto ist eine der Baritonrollen, bei der ein Sänger wissen muss, wann es Zeit dafür ist. Wenn du zu früh damit anfängst, kann es längerfristig gesehen deiner Karriere schaden. Man muss genau wissen, wie man sich die riesige Partie einteilt, damit man auch am Ende noch Energie hat und frisch ist.» Hier spricht Quinn Kelsey ein Problem an: «Eine Schwierigkeit in unserem Metier ist ja, dass man als Opernsänger eigentlich nur durch Erfahrung lernen kann. Oper ist keine Kunst, die man sich durch das Lesen eines Buches aneignet. Aber natürlich braucht man auch die richtigen Ratgeber.» Die amerikanische Mezzolegende Marilyn Horne war eine solche Mentorin. «An ihr liebe ich, wie sie den Charakter einer Figur nur durch die Stimme transportierte und so viele Emotionen in die Stimme legte», sagt Kelsey. «Man musste ihr Gesicht nicht sehen, konnte nur die Augen schliessen und wusste, was sie fühlte.» Kelsey begegnete der grossen Mezzosopranistin, als er noch auf Hawaii war: «Die Insel ist ein guter Stopp für Reisende von Nordamerika nach Asien – und umgekehrt. Daher kamen immer viele Sänger nach Hawaii, gaben am Freitag mit dem Sinfonieorchester ein Konzert, am Sonntag eine Matinee, und dazwischen war genügend Zeit für einen Meisterkurs.» Auffallend viele Sängerinnen beeinflussten Quinn Kelseys gesanglichen Werdegang, neben Marilyn Horne zählen dazu weitere grosse Namen wie Denise Graves oder Renata Scotto, auch Dolora Zajick gehört dazu.

Die Gesangsstunde mit ihr sei die anstrengendste Lektion seines Lebens gewesen. Dreissig Minuten lang musste er mit weit geöffnetem Unterkiefer eine Arie aus I Puritani singen. «Ich war so hundemüde. Als ich jedoch am nächsten Tag am Klavier einige Einsingübungen machte, bemerkte ich plötzlich, dass ich immer höher singen konnte… Fis… G… Gis… A… Ich dachte: Oh my god! Dolora Zajick habe ich es zu verdanken, dass ich im oberen Register diese Töne habe, die mir auch in einer Partie wie Rigoletto zugute kommen.»

Wer Kelsey beim Proben beobachtet, hat das Gefühl, dass hier einer mit traumwandlerischer Sicherheit auf einer Welle reitet. Fragen der Gesangstechnik scheinen dann in weite Ferne gerückt, Gesten und Bewegungen fliessen organisch ineinander. Jeder einzelne Gesichtsnerv spiegelt Verdis musikalische Expressivität. Sekundenschnell verwandelt er sich in den sadistischen Spassmacher, den überbesorgten Vater und den verbitterten Ankläger – wie ein Lavastrom bricht das hassgetränkte «Cortigiani, vil razza dannata» aus ihm heraus. Am Schluss bleiben Gebrochenheit und unendliche Traurigkeit – Quinn Kelsey scheint dann auch ohne Schminke um Jahre gealtert.


Text von Kathrin Brunner.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 05, Januar 2013.
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