Leben mit einem Idioten

Oper in zwei Akten von Alfred Schnittke (1934–1998)
Libretto von Viktor Jerofejew

  • Dauer:
    ca. 1 Std. 45 Min. Keine Pause.
  • Sprache:
    In deutscher Sprache mit deutscher und englischer Übertitelung.
  • Weitere Informationen:
    Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
    Die Einführungsmatinee findet am 20 Okt 2024 statt.

Kurzgefasst

Als Strafe für mangelndes Mitleid soll der Schriftsteller «Ich» einen Idioten bei sich zuhause aufnehmen. Das scheint eine leicht zu bewältigende Aufgabe: «Ich» zieht los und sucht sich seinen Idioten aus; dabei ist er von sich selbst und seiner Bereitwilligkeit, einen «heiligen Narren» zu beherbergen, durchaus eingenommen. Der Idiot scheint sich brav in das Leben von «Ich» und seiner Frau einzufügen; nur mit dem Sprechen will es nicht klappen, ausser «Äch!» gibt er kein Wort von sich. Als dann der Idiot eines Tages plötzlich und ohne Vorwarnung zum ersten Mal auf den Teppich scheisst, beginnt eine unkontrollierbare Spirale aus Gewalt, Sex und Anarchie. 1992 wurde Alfred Schnittkes Oper Leben mit einem Idioten in Amsterdam uraufgeführt. Der titelgebende Idiot wurde schnell als eine Karikatur Lenins entschlüsselt, die absurd-groteske Geschichte als eine bitterböse Parodie auf den Alltag in der Sowjetunion. Doch schon der Komponist hat darauf hingewiesen, dass es in seiner Oper «auf keinen Fall allein um den Kommunismus» geht, sondern viel mehr noch um einen allgemeinen Zustand, in dem «das Irrationale das Rationale beherrscht». Und so wird Regisseur Kirill Serebrennikov das Stück als die dystopische, heutige Geschichte eines Ehepaares auf die Bühne bringen, für das der Idiot zum Katalysator ihrer ohnehin toxischen Beziehung wird – ein Katalysator, der die dunkelsten, destruktivsten Triebe des Menschen ebenso an die Oberfläche bringt wie die Bereitschaft zu Aggression und Gewalt. Schnittkes Musik, die Zitate aus Bachs Matthäus-Passion, die kommunistische Internationale, das Volkslied vom Birkenbäumchen, einen Tango aus den 30er-Jahren und weitere Anklänge an Chopin, Mahler, Schostakowitsch und andere in einer polystilistischen Collage-Technik miteinander verbindet, hat ein grosses Potential an Witz und Ironie, das sich mit der Philharmonia Zürich unter der Leitung von Jonathan Stockhammer entfalten wird. Susanne Elmark, Bo Skovhus sowie der Chor der Oper Zürich, der den ganzen Abend auf der Bühne steht, stellen sich den enormen Herausforderungen ihrer Partien.

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SRF

Regisseur Kirill Serebrennikow hat mit dem SRF über seine neue Produktion gesprochen.

Zum Beitrag


Gut zu wissen

Jeder hat einen inneren Idioten

Interview

Kirill, vor sechs Jahren haben wir hier am Opernhaus Zürich Mozarts Così fan tutte auf die Bühne gebracht, während du in Moskau unter Hausarrest standest. Wie ist es für dich, nun in Zürich zu sein?
Ich bin sehr glücklich darüber. Das Opernhaus ist ein tolles Haus mit wunderbaren Menschen. Ich werde die mutige Entscheidung, Così fan tutte ohne mich auf die Bühne zu bringen, nie vergessen. Es wäre sehr leicht gewesen, dieses Projekt einfach abzusagen. Aber das Risiko einzugehen, hat sich gelohnt – es ist eine sehr erfolgreiche Inszenierung geworden, die immer noch gespielt wird, zurzeit unter anderem an der Komischen Oper in Berlin. Das Opernhaus Zürich war das erste Theater, das sich auf eine Inszenierung eingelassen hat, bei der ich nicht selbst vor Ort sein konnte. Dazu gehörte viel Mut und die Überzeugung, dass man sich auf die Kräfte des Hauses verlassen kann. Andreas Homoki ist Regisseur, und wenn es komplett schief gegangen wäre, hätte er die Inszenierung selbst zu Ende bringen können. Es gibt nur noch sehr wenige Opernhäuser, die von einem Regisseur geleitet werden.

Nun inszenierst du Schnittkes Leben mit einem Idioten und kannst – zum Glück! – selbst die Proben leiten. Was ist das für ein Stück?
Das ist eine der verrücktesten Opern, die ich kenne. Sie steht für mich in einer Reihe mit Schostakowitschs Oper Die Nase und mit György Ligetis Le Grand Macabre. Schnittke ist, sozusagen, ein russischer Ligeti.

Was interessiert dich an dieser Oper?
Mir gefällt, dass dieses Stück durch seine offene, fast «traumwandlerische» Form der Regie viele Möglichkeiten bietet. Häufig empfinde ich die Musik in der Oper als einengend. Sie setzt Grenzen. Du musst das musikalische Narrativ bedienen. Im Fall von Schnittke ist das ganz anders, die Musik ist sehr biegsam, sie lässt viele Freiheiten. Und sie hilft dabei, Theater zu machen. Ich würde das Stück sogar nicht mal als Oper bezeichnen. Es ist für mich eher ein Schauspiel, in dem die Figuren sich auf eine sehr spezielle Art und Weise unterhalten, sich dabei eines sehr besonderen Hilfsmittels – nämlich der Musik und einer sehr komplizierten, fast extremen Art zu singen – bedienen. Um das zu realisieren, braucht man natürlich sehr spezielle Sängerinnen und Sänger. Und die haben wir!

Wie arbeitest du mit den Darstellerinnen und Darstellern?
Eher wie im Schauspiel als wie in der Oper. Wir erfinden alles gemeinsam, diskutieren über die Figuren, wie sie sich verhalten würden. Vieles entsteht erst während der Proben, das kommt eher selten vor in der Oper. Die Sängerinnen und Sänger bieten Dinge an, bringen ihre Ideen ein, auch auf musikalischer Ebene.

Nach der Uraufführung 1992 in Amsterdam war klar: Der Idiot, um den es hier geht, ist Lenin, das Stück ist eine Parodie auf das Leben in der Sowjetunion. Du gehst anders an diese Oper heran. Wer ist für dich dieser Idiot?
Die Zeit der Uraufführung war die Zeit nach der Perestrojka, als die Sowjetunion schon zusammengebrochen war. Die Erzählung von Viktor Jerofejew ist noch zehn Jahre früher entstanden und handelt davon, wie die Sowjetmacht alles zerstört. Dass die Figur mit dem Vornamen Wowa, also der Idiot, Lenin ist, hat damals niemand bezweifelt. Aber wer ist Lenin für uns heute? Für Russland ist er ein Monster, dessen Mumie bis heute im Mausoleum im Zentrum Moskaus liegt und der das Land in einen 100-jährigen Albtraum gestürzt hat, der bis heute andauert. Für die Einwohner Zürichs ist Lenin ein Name aus der Geschichte der Stadt: Lenin hat ja hier eine Zeit lang gelebt. Aber viele Menschen in Russland kennen diesen Lenin gar nicht mehr, erinnern sich nicht mehr an ihn. Kaum jemand erkennt auch die Revolutions-Lieder, die in die Partitur wie Zitate eingewoben sind. Wer also soll dieser Wowa, der das Leben einer Familie zerstört, heute sein? Putin? Ich will keine Oper über Putin machen. Ich will ihm kein Kunstwerk widmen. Ich möchte keine Kunst, die sich irgendwie allegorisch oder metaphorisch auf ihn bezieht. Wozu? Über Putin müssen die Zeitungen schreiben, man muss deutlich aussprechen, dass er derjenige ist, der den Krieg gegen die Ukraine angefangen hat und jeden Tag Kriegsverbrechen verübt. Er ist ein Kriegsverbrecher, fertig. Er verdient keine Oper.

Worum geht es also für dich in diesem Stück?
Um die Natur der Gewalt. Um die Zerstörung von Beziehungen. Um den Wahn­sinn. In dieser Oper kann man vieles finden. Ich habe in ihr sogar Bezüge zu Ingmar Bergman entdeckt. Oder zu Fjodor Dostojewskis Erzählung Die Sanfte, in der die Hauptfigur den Tod seiner Frau rechtfertigt. Warum ist hier ein Mord passiert? Die Gründe dafür bleiben im Dunkeln. Als ob in einem Menschen irgend­ ein «Idiot» existieren würde, der ihm gewaltvolle Handlungen eingibt. Er ist wie ein Fehler im System. Wir nennen ihn den Schwarzen, er singt immer nur «Äch!». Sonst nichts. Er verkörpert den Wahnsinn unserer Hauptfigur – im Stück Ich –, die Stimmen in seinem Kopf. Er ist sein innerer Dämon. Ich denke dabei auch an einen meiner Lieblingsfilme, Idioten von Lars von Trier. Der erzählt von der Existenz eines inneren Idioten und davon, dass es wichtig ist, sich diesen inneren Idioten zu bewahren. Ein innerer Idiot, der es erlaubt, Grenzen auszutesten und zu verschieben. Aber auch ein Dämon, der tödlich werden kann. Es geht dabei um Sexualität, um Schönheit, Männlichkeit, Brutalität, auch um die Kunst als Projektion menschlichen Wahnsinns. Diese beide inneren Idioten kämpfen im Be­wusstsein des Menschen gegeneinander. Manchmal fallen ihre Intentionen aber auch zusammen. Und es ist nicht klar, wer gewinnt. Das Stück ähnelt aber, was das Sujet und auch das Genre angeht, zugleich auch einem Thriller wie zum Beispiel Shining von Stanley Kubrick. Ein Mann und eine Frau leben als glückliches Ehe­paar zusammen, und plötzlich bringt der Mann seine Frau um. Wir spielen die Oper auf Deutsch, haben hier und da Anpassungen an die Übersetzung gemacht, werden auch andere Musikstücke von Schnittke verwenden. Es ist also wirklich eine ganz neue Fassung der Oper, die hier entsteht.

Was für eine Bedeutung hat die Musik Schnittkes für dich?
Schnittkes Musik ist die Musik meiner Kindheit. Das mag seltsam klingen, aber es war so. Alle normalen Kinder hatten irgendwelche Märchenschallplatten, ich aber hatte aus irgendwelchen Gründen eine Schallplatte mit Musik für den ersten sowjetischen Synthesizer ANS, benannt nach dem Komponisten Alexander Ni­kolajewitsch Skrjabin. Ich vermute, das war damals ein Geschenk, als Dreingabe zu einer Kinderschallplatte, die in der Sowjetunion schwer zu bekommen war, während die Synthesizer­ Platte niemand haben wollte. Ich aber habe sie als Kind gehört, lieber als Märchen. Da gab es Musik der wichtigsten sowjetischen Avantgardisten: Sofia Gubaidulina, Edison Denissow und eben von Alfred Schnittke. Schnittkes Musik habe ich in der Folge oft gehört. Auch als Filmmusik zu Trickfilmen oder Kinofilmen. Seine Musik war überall. Der Tango, der auch im Leben mit einem Idioten erklingt, fand später Eingang in den Film Agonie von Elem Klimov und ins erste Concerto Grosso.

Eine wichtige Rolle in dieser Oper spielt – neben den drei bzw. vier Haupt­figuren Ich, Frau und Idiot – der Chor. Es ist eine grosse Herausforderung für den Chor, diese Oper aufzuführen. Wen verkörpert der Chor in dieser Oper?
Der Chor ist fast die ganze Zeit auf der Bühne. Er ist, in gewisser Weise, wie ein Spiegel des Zuschauerraums. Manchmal aber auch wie ein griechischer Chor in der antiken Tragödie, er kommentiert die Ereignisse oder verkörpert das Schicksal. Oder er wird zu Figuren im Stück, einmal sind die Choristinnen und Choristen die Freunde der Hauptfigur. Sie haben viele verschiedene Rollen. Und sie sind ein äusserst wichtiger Teil des Ganzen. Sie bilden den Rahmen für den ganzen Abend, mit ihnen beginnt und mit ihnen endet auch das Stück. Leben mit einem Idioten ist eine grosse Choroper. Zum Glück ist der Chor der Oper Zürich sehr wandlungs­fähig und dynamisch.

Im Stück wird die Hauptfigur bestraft – wofür, erfahren wir nicht – und muss als Strafe einen Idioten bei sich zuhause aufnehmen. «Ich» geht also ins Irrenhaus und sucht sich dort jemanden aus. In unserer Aufführung findet diese Szene nicht im Irrenhaus, sondern in einer Galerie für moderne Kunst statt. Warum?
Wie gesagt, bei uns spielen zwei Darsteller den Idioten. Einer davon ist der Schau­spieler Campbell Caspary. Er ist hier ein Performer, also jemand, der mithilfe seines Körpers Kunst schafft. Und den kauft sich unser Hauptdarsteller und nimmt ihn mit nach Hause. Mit seinem Körper gibt der Performer ein Statement ab. Oder er provoziert die Hauptfigur, oder er kommentiert die Vorgänge. Wie zum Beispiel die Wiener Aktionisten die Veränderungen im europäischen Bewusstsein nach dem Krieg kommentierten. Unsere Hauptfigur ist ein durchschnittlicher Mann. Er ist mit dem, was der Performer macht, mal einverstanden, mal macht es ihm eher Angst, mal kann er gar nichts damit anfangen. Wie du schon gesagt hast, erfahren wir nicht, warum die Hauptfigur bestraft wird; bei Jerofejew ist das eine dystopi­sche Geschichte, in der Menschen, die sich schuldig gemacht haben, als Strafe der Gesellschaft jemanden bei sich zuhause aufnehmen müssen.

Bekommst du viel Inspiration aus der zeitgenössischen Kunst?
Ja, auf jeden Fall. Ich bin ständig in Museen unterwegs. Aber Kunst ist ja überall um uns herum. Für mich ist Theater übrigens auch Teil der zeitgenössischen Kunst. Zeitgenössische Kunst spricht vom Wesentlichen und Aktuellen: davon, wie sich die Welt verändert und wir uns in ihr, wie fragil der Mensch ist, davon, dass Gewalt im allgemeinen und der Krieg im Besonderen eine Katastrophe bedeutet, davon, dass wir liebevoll und verantwortungsvoll miteinander umgehen sollen und die Natur nicht zerstören dürfen, indem wir mehr Ressourcen verbrauchen als nötig. All dies sind Themen, die uns heute beschäftigen und sich auch in der zeitgenössischen Kunst widerspiegeln. Sie ist der beste Kommentar zur Gegenwart. Und in Analogie dazu kommentiert der Performer in unserer Aufführung die Vorgänge auf der Bühne. 

Wer ist eigentlich diese Hauptfigur, und warum heisst sie einfach «Ich»?
«Ich» kann jeder im Zuschauerraum sein. Ein durchschnittlicher, europäischer Mann von heute. Durchaus begütert, normal, bürgerlich. Mit einem schönen Haus und ein bisschen Kunst. Erfolgreich, respektabel. Und er kriegt nun, wie soll man sagen, so ein Wehwehchen im Kopf.

Eine weitere Figur, eher eine Nebenfigur, heisst Marcel Proust. Was ist die tiefere Bedeutung dieser Figur?
Die Frau in dieser Oper liest immerzu Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Marcel Prousts Hauptwerk. In den Büchern von Marcel Proust geht es um Einsamkeit und Existentialismus. Und um ein Bewusstsein, das zerfällt, um die Zerstörung von Verbindungen ganz allgemein. Es sind Fragmente der Erinnerung, die eine Collage ergeben. Und genau diese nichtlineare Erzählweise ist auch für die Oper Schnittkes ganz zentral. Die Hauptfigur erlebt immer wieder so etwas wie einen Flashback, aber wir verstehen nicht so ganz, wie es denn nun wirklich war, wie die Frau zu Tode gekommen ist. Wer hat sie umgebracht? Und wie? Die Worte der Hauptfigur widersprechen sich immer wieder. Ein Mensch verirrt sich hier in seinen eigenen Erinnerungen. Wir werden auf der Bühne die immer gleiche Situation mehrmals wiederholen, um zu verstehen, ob «Ich» seine Frau nun ermordet hat oder nicht. Ob er schuldig ist oder nicht. Was eigentlich genau vorgefallen ist. Und was dieses unheilverkündende «Äch!» bedeutet, das er wieder und wieder hört.

Das Gespräch führte Beate Breidenbach
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 116, Oktober 2024.
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Es ist eine sehr existenzielle Geschichte

Hintergrund

Viktor, du hast deine Erzählung Leben mit einem Idioten, die der Oper von Alfred Schnittke zugrunde liegt, 1980 in der Sowjetunion geschrieben. Was war das damals für eine Zeit?
1980 ist zum letzten Mal in der Sowjetunion Lenins Geburtstag mit allem Pomp gefeiert worden. Lenin wurde 1870 geboren, 1980 war also ein runder Geburtstag. Ganz Moskau war im Taumel. Man konnte sogar Socken mit Lenins Profil kaufen. Das war schon alles sehr absurd. Und genau deshalb hat sich mir dieses Thema eingeprägt. Lenin taucht in meiner Erzählung nicht zufällig auf. Es war eine Zeit des Stillstands, der Stagnation, der Depression. Und es war kurz nachdem der Literaturalmanach Metropol mit Texten noch unbekannter Autoren erschienen war, darunter auch Texte von mir, und ich daraufhin aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde. Die Erzählung Leben mit einem Idioten ist einfach aus mir herausgeflossen. Ich mag es eigentlich nicht, wenn die Entstehung von Kunst mystifiziert wird. Aber in diesem Fall schien es mir wirklich, als würde dieser Wowa, so heisst der Idiot in meiner Erzählung, durch die Strassen Moskaus spazieren, ich sah ihn buchstäblich an jeder Ecke. Als ich die Erzählung dann geschrieben hatte, sind die Blätter irgendwie verlorengegangen. Drei Jahre lang war der Text verschwunden. Damals hat man auf der Schreibmaschine geschrieben, und es gab nur ein Exemplar. Dann bekam ich eines Tages einen Anruf von der Frau eines befreundeten Schriftstellers, die mich einlud, am Silvesterabend bei ihnen zuhause etwas vorzutragen. Ich ging also noch mal auf die Suche. Und fand die Blätter schliesslich in meinem Schreibtisch, zu einem Knäuel zusammengedrückt, hinter der Schublade. Diese Erzählung, die später eine Oper von Alfred Schnittke werden sollte, die mehrfach dramatisiert und sogar verfilmt wurde, war mal ein Papier­knäuel, das man erst glätten musste, bevor man es lesen konnte! Ich ging also zu der Silversterparty und las die Erzählung vor. Und es war, als hätte der Blitz ein­geschlagen. Stille. Die Gäste vergassen sogar, dass Silvester war. Und ich verstand, dass ich etwas Grosses geschrieben hatte.

Hattest du mit so einem Effekt nicht gerechnet? Oder ihn sogar provozieren wollen?
Nein, ich wollte niemanden provozieren, nie. Ich fand die Erzählung lustig. Und sehr geeignet für einen Silvesterabend: Der Held bringt einen Verrückten nach Hause, das ist doch witzig. Aber natürlich gibt es in der Erzählung auch sehr viel Gewalt.

Wie stehst du heute zu dieser Erzählung?
Heute würde ich nicht mehr sagen, dass das einfach ein lustiger Text ist. Aber ich finde schon immer noch, dass es durchaus zum Lachen ist, wenn – wie in dieser Erzählung – das Absurde beginnt, die Welt zu beherrschen.

Und wer hatte die Idee, aus dieser Erzählung eine Oper zu machen?
Zu Beginn der Perestrojka in den 90er-Jahren las ich die Erzählung zum ersten Mal öffentlich vor, in einer Bibliothek in Moskau. Zu dieser Lesung kamen auch Alfred Schnittke, mit dem ich zu dieser Zeit schon sehr gut befreundet war, und der Dirigent Gennadi Roshdestwensky. Alfred sagte direkt nach der Lesung, dass er aus dieser Erzählung unbedingt eine Oper machen möchte. Ich gab zu bedenken, dass ich nicht wisse, wer dazu das Libretto schreiben sollte. Alfred meinte, dann solle ich das eben selbst machen. Ich hatte aber noch nie vorher ein Libretto geschrieben. Alfred sagte, genau deshalb wird es ein gutes Libretto werden.

Hat Alfred Schnittke dir damals gesagt, was ihm so an deiner Erzählung gefallen hat, warum er sie so geeignet fand für eine Oper?
Wir hatten in Bezug auf unser künstlerisches Schaffen so eine Theorie: Je mehr du nachfragst und drüber redest, desto schlechter wird das Werk. Ganz offensichtlich hat es ihm gefallen. Das war durchaus überraschend, denn eigentlich interessierte er sich eher für Goethe oder armenische Poesie des 12. Jahrhunderts. Und dann plötzlich sowas. Meine Erzählung ist ja bis heute für manche Leute anstössig. Zum Beispiel heisst es da: «Wowa ist viel sauberer geworden, er scheisst fast nicht mehr auf den Teppich.»

An dieser Stelle waren wir gerade vorhin auf der Probe angekommen…
...und du lachst, also ist es doch lustig! Übrigens kann ich mich gut daran erinnern, wie Alfred selbst am Klavier sass und die Oper Boris Pokrowski vorspielte, dem Regisseur der Uraufführung. Schon bei der allerersten Phrase – «Das Leben mit einem Idioten ist voller Überraschungen» – musste er furchtbar lachen. Er konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen, es war sehr ansteckend. Pokrowski dachte, wir wollen ihn veräppeln.

Worin besteht für dich die Qualität von Schnittkes Musik?
Wenn du genau zuhörst, dann merkst du, dass die Musik die Worte auf besondere Art und Weise beleuchtet, so wie vielleicht die Strassenlaternen abends in Paris die Häuser beleuchten. Meistens gehen ja die Worte in einer Oper durch die Musik verloren, man versteht sie nicht mehr. Dass das in dieser Oper nicht so ist, hat vermutlich mit Schnittkes Erfahrung als Theatermusiker bei Juri Ljubimov zu tun. Für mich war die Zusammenarbeit mit Alfred Schnittke und die Entstehung dieser Oper ein grosses Geschenk. Wir haben übrigens nie über den Inhalt der Oper gesprochen, er hat mich nie gebeten, ihm irgendwas zu erklären.

Alfred Schnittke war ja 1992, als in Amsterdam die Uraufführung der Oper stattfand, schon sehr krank…
Ja, als er fast am Ende der Oper angekommen war, erlitt er seinen vierten Schlaganfall. In Moskau schrieben die Zeitungen, dass er gestorben sei… aber glücklicher weise hat er noch einige Jahre weitergelebt, er starb 1998. Der allerletzte Teil der Oper unterscheidet sich stark vom Rest des Stückes. Man hat das Gefühl, als sei Alfred schon ein wenig in einer anderen Welt gewesen, als er das komponierte. Aber seine Oper ist absolut genial. Seit dieser Erfahrung ist die Oper für mich das tollste Genre überhaupt. Bis dahin dachte ich, die Oper ist, wie Majakowski sagte, etwas für Nichtraucher. Jetzt denke ich, sie ist auch was für Raucher. Durch Alfred habe ich verstanden, dass man sich in der Oper alles erlauben kann, wenn man wirklich etwas zu sagen hat. Man zerstört die Konventionen, und durch diese Zerstörung entstehen ganz neue Ideen, neue Eindrücke, das Gefühl von Unendlichkeit.

Wie ist die Uraufführung in Amsterdam aufgenommen worden?
Die niederländische Königin war anwesend. In der Pause lud sie zum Champagnercocktail ein. Ich war auch eingeladen. Sie sagte zu mir: Monsieur Viktor, Ihre Oper ist zu hart für mich, votre opéra est trop dur pour moi. Ich habe ihr geantwortet: Votre Majesté, der zweite Akt wird noch schlimmer. Am Schluss stand sie auf und begann zu klatschen. Es gab stehende Ovationen, der Applaus dauerte 35 Minuten. Der Sänger des Idioten, Howard Haskin, sagte, das habe sicher daran gelegen, dass die Königin in der Vorstellung war und lange geklatscht hat. Man solle mal abwarten, wie es in den nächsten Vorstellungen wird, wenn all die Professoren kommen, die frustriert sind, weil sie für die Premiere keine Karten mehr bekommen haben. Nach der nächsten Vorstellung dauerten die Ovationen 40 Minuten. Das hatte es in der Amsterdamer Oper noch nie gegeben. Ein Welterfolg! Vor diesem Hintergrund ist es wirklich ein Wagnis, diese Oper jetzt hier in Zürich aufzuführen. Die Latte liegt hoch. Aber ich kenne Kirill Serebrennikov gut. Wir haben in Moskau zusammengearbeitet, als Zhenja Berkowitsch, die mittlerweile in Russland im Gefängnis sitzt, meinen Roman Die Moskauer Schönheit auf die Bühne gebracht hat, im Gogol Zentr, das Kirill damals leitete. Er ist für mich ein absoluter Theatergigant. Wir haben uns ein paar Mal getroffen und über Leben mit einem Idioten gesprochen. Wir haben uns sehr gut verstanden, ich war mit allem einverstanden, was er sich überlegt hatte.

Ihr habt auch über Kirills Wunsch gesprochen, diese Oper weder als Parodie auf die Sowjetunion noch auf das heutige Russland zu erzählen…
Ja, und ich bin der Meinung, Leben mit einem Idioten ist nicht in erster Linie eine politische Oper. Obwohl ich die Erzählung 1980 in der Sowjetunion geschrieben habe. Es ist eine Oper über die Unvollständigkeit des Menschen. The human being is not perfect at all. Klar, es geht um politische Spielchen, die Hauptfigur wird bestraft und muss einen Idioten bei sich zuhause aufnehmen. Wofür diese Strafe, das bleibt im Dunkeln. Aber es ist vor allem eine sehr existentielle Geschichte. Mit politischen Elementen. Und einer Menge Exzessen.

In der Tat. Warum gibt es in diesem Stück so viel Gewalt?
Wie gesagt: Ich habe diese Geschichte geschrieben, nachdem man mich überall rausgeschmissen hatte. Mein Vater hat meinetwegen seinen Job als Botschafter in Wien verloren. Die Gewalt in dieser Geschichte hat ihren Grund. Wir sind in ein schwarzes Loch gefallen damals. Die Gewalt, die an mir, an meiner Familie verübt worden war, musste irgendwie verarbeitet, artikuliert werden. Noch dazu hatte ein Jahr zuvor die Sowjetunion den Krieg in Afghanistan begonnen. Es war eine monströse Zeit. Die Sowjetunion war nie ein besonders friedliebendes Land. Leben mit einem Idioten ist mein «Geschenk» an die Sowjetunion für das, was sie lange vor meiner Zeit und dann auch mit mir gemacht hat.

Und trotzdem sagst du, Leben mit einem Idioten ist keine politische Oper? Es gibt so viele Anspielungen auf die Sowjetunion, auch in der Musik.
Natürlich. Aber zu einer politischen Oper gehört eine klare Einteilung in Schwarz und Weiss, Richtig und Falsch. Das ist hier nicht der Fall. Man kann diese Oper seht gut in etwas Allgemeines, Existentielles übersetzen. Jede Prosa muss auf festem Boden stehen. Und diese Erzählung stand eben auf dem Boden der Sowjetunion. Viele dieser Anspielungen werden ja heute gar nicht mehr verstanden. Auch deshalb finde ich es legitim, Änderungen vorzunehmen.

Zu Beginn unseres Gespräches hast du davon erzählt, dass es dir 1980 vorkam, als schaue in Moskau Lenin hinter jeder Ecke hervor und dass dich dies zur Figur des Idioten inspiriert hat. Wer ist dieser Idiot für dich heute?
Ganz einfach. Die Figur des Idioten ist ein Utopist. Er könnte eine kommunistische Utopie im Kopf haben oder irgendeine andere idiotische Utopie. Genau deshalb wäre es auch völlig falsch, diese Figur mit Putin gleichzusetzen. Denn der hat keine Utopie. Der ist einfach nur ein Hooligan. Ein grosser Gopnik auf Russisch. Wie im Titel meines Romans. Utopien sind, wie wir wissen, immer gefährlich. Lenin selbst wird nachgesagt, dass er in den letzten Jahren seines Lebens wahnsinnig geworden sei. Als ich meine Erzählung schrieb, war dieses Thema gerade sehr aktuell. Wenn du Utopist bist, gehörst du zu denen, die behaupten, zu wissen, was Wahrheit ist und was Lüge, in Wirklichkeit aber beides nach Belieben vertauschen. Das trifft natürlich auch auf Putin zu. Wir sind alle seine Geiseln. Geiseln seines Banditentums. Unter Lenin waren wir Geiseln seines Utopismus. Und auch wenn der Kommunismus furchtbar war und Schreckliches angerichtet hat, so lebte er doch von der Idee, eine Alternative zum Kapitalismus zu bieten. Im heutigen Russland geht es nicht mehr um Alternativen, es gibt keine Ideen mehr. Es geht nur um die Liebe zur Macht, zur Unsterblichkeit, zu sich selbst als Zar.


Das Gespräch führte Beate Breidenbach

Viktor Jerofejew wurde 1947 in Moskau geboren. 1979 brachte er sich durch seine Mitarbeit am Literaturalmanach «Metropol» in Gefahr. Es folgten Jahre des Publikationsverbots. Durch Bücher wie «Der gute Stalin», «Russische Apokalypse» und «Die Akimuden» international bekannt geworden, zählt Jerofejew heute zu den wichtigen kritischen Stimmen aus Russland. Nach Russlands Überfall auf die Ukraine 2022 ist Viktor Jerofejew mit seiner Familie nach Deutschland geflohen.

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Bo Skovhus

Volker Hagedorn trifft...

Eines schönen kalten Morgens im Jahr 1987, zur Weihnachtszeit, klingelt in Kopenhagen das Telefon bei Bo Skovhus. Der junge Mann nimmt den Hörer ab, hört jemanden auf Deutsch reden, irgendetwas mit Oper und Wien, lacht und legt gleich wieder auf. «Ich war am Abend vorher mit meinen Freunden unterwegs gewesen und dachte, die machen sich einen Spass mit mir.» Das Telefon klingelt erneut. Dieselbe Stimme, diesmal spricht der Mann englisch. Die Volksoper Wien fragt an, ob er zum Vorsingen kommen möge. Sie suchen einen neuen Don Giovanni, ein unbeschriebenes Blatt. Sie zahlen alles, Flug, Hotel… «Ich war noch nie bei einem Vorsingen! Und ich hab’ da vorgesungen.» So erzählt mir Bo Skovhus 37 Jahre später, wie es losging mit seiner Karriere. Wir sitzen in der Kantine der Oper Zürich, wo er die Partie des «Ich» in Alfred Schnittkes Leben mit einem Idioten probt, weit entfernt von jenem Beginn, der allerdings, wie Schnittkes letztes Werk, auch etwas Irreales hat, als Eingriff unberechenbarer Mächte. Aber der hatte natürlich eine Vorgeschichte. Skovhus, geboren im 10.000-­Seelen-Städtchen Ikast, 250 Autokilometer und zwei Ostseebrücken entfernt von Kopenhagen, war über Schulchor und Blasmusik zum Singen gekommen und schliesslich, nach Überwinden elterlicher Vorbehalte, ans Opernstudio der dänischen Hauptstadt.

«Im Sommer dieses Jahres hatte ich eine Masterclass besucht, mit zwei tollen Sängern, Walter Berry und Sena Jurinac.» Mit der jugoslawisch-österreichischen Sopranlegende verstand sich der 25-Jährige gut, «ich hab’ sie gefragt, was muss ich tun? Ich möchte weg aus Dänemark!» Denn sehr viele Auftrittsmöglichkeiten boten die Häuser in Aarhus und Kopenhagen nicht. «Gib mir deine Telefonnummer.» Und die wählte dann jemand in Wien, wo 1988 der junge Däne nach dem Vorsingen in die Direktion gebeten wurde. «Vierter Stock. Da stand an der Tür nur: Eberhard Waechter. Den Namen kannte ich.» Waechter sang den Don Giovanni in der grandiosen Aufnahme mit Carlo Maria Giulini, die der Student besass. «Ich ging rein und fragte ihn, ob er auch gerade für Don Giovanni vorgesungen hätte.» Waechter lachte schallend. Er war Ende 50 und nicht mehr Sänger, sondern Direktor der Volksoper. Er engagierte den jungen Bariton, «und wenn das schief gegangen wäre, dann wäre ich Arzt geworden.» Es ging aber nicht schief.

Der steile Aufstieg zu den grossen Bühnen der Welt, der dann folgte, unterscheidet sich allerdings von vergleichbaren Karrieren in einem wichtigen Punkt. Skovhus interessiert sich, jenseits von Mozart bis Strauss, brennend auch für die Opern, die nicht zu den Kassenschlagern gehören (und doch oft das Potential dafür haben), deren Musiksprachen Dur und Moll und Kantilene hinter sich lassen und deren Helden oft alles andere als Helden sind – wie jener Wozzeck, mit dem ich Bo Skovhus zum ersten Mal erlebte. Bebend vor Präsenz, gefangen in Zwängen, alles wahr machend, was der Regisseur Peter Konwitschny in seiner – inzwischen legendären – Hamburger Inszenierung ersann. 1998 war das, aber weit weg ist es nicht. «Es war immer die Frage, ist Wozzeck ein Mörder oder nicht? Die Gesellschaft zwingt ihn zu dieser Tat», sagt Skovhus. «Da gibt es eine Parallele zum Leben mit einem Idioten. Wer begeht eigentlich den Mord an der Frau, wie kommt es dazu? Immer ist der Chor dabei und beobachtet und kommentiert, was in diesem Haus passiert und mit diesem eigentlich stinknormalen Paar. Plötzlich kommt eine dritte Person in diese Ehe, die alles auf den Kopf stellt.» Das ist der «Idiot», dem «Ich» gegenübersteht, der Ehemann. «Ich habe irrsinnige Schwierigkeiten, mich da hineinzufinden», gesteht Skovhus, «denn hier gibt’s keine Handlung, nur Bruchstücke. Da müssen wir schauen, dass wir’s irgendwie verbinden.»

Dazu kommt noch, dass Alfred Schnittke über Stimmen nicht viel wusste. «Er sagte selbst, ich habe eine Oper geschrieben, aber keine Ahnung davon. Das merkt man total. Wenn man die Aufnahme von der Uraufführung 1992 hört und die Noten anschaut – da stimmt gar nichts, so viel wurde geändert. Ich bin wohl der Erste, der versucht, es so zu singen, wie es dasteht. Ich habe eine sehr gute Höhe und komme da durch, manchmal im Falsett.» Skovhus ist auch physisch der Mann für Himmelfahrtskommandos, gross und durchtrainiert, und er liebt zerrissene Gestalten wie etwa Aribert Reimanns Lear. «Ein unglaublich tolles Stück, das hält sich. Genau wie Die Eroberung von Mexico von Wolfgang Rihm. Die haben beide so gut geschrieben!» Ein Fax von Rihm hat er sich aufgehoben. «Ich sagte ihm bei den Proben in Salzburg, wenn ich so viel gesungen habe, komme ich am Schluss nicht mehr auf das tiefe Fis. Dann kam nach zwei Stunden ein Fax mit Noten. Er hatte die letzten vier Takte umkomponiert!»

Dass man sogar bei Mozart etwas umkomponieren darf, erlebte er mit Nikolaus Harnoncourt. «Er sagte: ‹Die Rezitative dürft ihr gar nicht singen, nur sprechen!› Aber für die Sängerin, die im Figaro den Cherubino gesungen hat, waren ein paar Töne zu hoch notiert, um sie natürlich zu sprechen. ‹Dann oktavieren Sie’s›, hat er gesagt. Das konnte nur er sich erlauben!» Skovhus sang damals, 2006 in Salzburg, den Grafen. «Um die Rezitative kümmern sich heute nur noch wenige», meint er. «Meist wird viel gestrichen, damit wir so schnell wie möglich wieder ‹zur Musik› kommen, und das ist total falsch.» Wie man Rezitative zum Leben bringt, das vermittelt Bo Skovhus nun selbst den jungen Sängern der Opernstudios etlicher Theater. Und dass es nicht nur um «schöne Töne» geht. Dabei ist er ziemlich gnadenlos mit dem jungen Sänger, der er selbst war. «Ich war noch nicht dreissig, als ich mit Helmut Deutsch Die schöne Müllerin aufgenommen habe. Als ich das später wieder hörte, dachte ich, das bin nicht ich, das muss die falsche CD sein! Es klang völlig belanglos. Vielleicht ganz nett und schön, aber ohne Charakter.» An Schuberts Winterreise hat Bo Skovhus sich erst mit Fünfzig getraut. «Ich glaube, man muss etwas im Leben erlebt haben, um einen Zugang dazu zu finden.» Inzwischen singt er diesen Zyklus öfters mit Akkordeon statt Klavier, nicht nur, weil das so gut zum Lied Der Leiermann passt. «Man kann es im Park machen, unter einem Baum, man hat die Freiheit, rauszukommen zu Leuten, die normalerweise nicht in ein Konzert gehen.»

Dass auch viele Leute normalerweise nicht in die Oper gehen, hält Skovhus vor allem für ein Geldproblem. «Es ist so teuer! Da haben sie in Wien eine gute Lösung. Es gibt in der Staatsoper 400 Stehplätze, die zwischen sieben und zehn Euro kosten. Das bringt schon viel, auch ein ganz anderes Publikum.» Diese Stehplätze gab es schon, als er 1991 erstmals in diesem Haus auf der Bühne stand. Eberhard Waechter war sein Mentor, Korrepetitor, Freund und ausserdem Staatsoperndirektor geworden und liess ihn den Silvio im Bajazzo singen – neben Superstars wie José Carreras und Piero Cappuccilli. «Ich erinnere mich, als wir aus dem Bühneneingang kamen, lagen da die Leute im Freien auf ihren Matten. Sie warteten tagelang, um Stehplätze zu bekommen! Ein Riesending. Sowas gibt’s heute nicht mehr.» Er lacht. «Jetzt rede ich von damals wie ein Alter, furchtbar.» Das «ch» in «furchtbar» spricht er im Rachen, wie ein Wiener. Tatsächlich ist Skovhus immer in Wien geblieben, er hat eine Wienerin geheiratet – und ist froh, dass seine Tochter Ärztin geworden ist und nicht auch Sängerin. «Es ist so schwer geworden für junge Sänger, wir haben es einfacher gehabt. Als ich anfing, gab es noch den Eisernen Vorhang zwischen Osten und Westen, erst in den Neunzigern kamen die vielen guten Sänger aus dem Osten. Und die Plattenfirmen hatten noch Geld. Für die Lustige Witwe mit John Eliot Gardiner wurde vierzehn Tage lang der grosse Musikvereinssaal gemietet, für eine Stunde Musik! Wahnsinn. Heute ist man froh, wenn es noch einen Livemitschnitt gibt.» Aber die «unglaubliche Glut» der Wiener, diese Kulturbesessenheit, die sei immer noch da.

Nostalgisch ist er gar nicht, eher unternehmungslustig und gespannt. Nach dem Leben mit einem Idioten in Zürich wartet in Berlin schon György Kurtágs Beckett-Oper Fin de partie auf ihn. «Kompliziert?» Er lacht. «Nicht nach diesem hier!»

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
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Warm duschen auf der Bühne

Wie machen Sie das, Herr Bogatu?

Der Regisseur von Leben mit einem Idioten, Kirill Serebrennikov, setzt ebenfalls auf die Vorstellungskraft des Publikums, und deshalb wird die weibliche Hauptfigur in seiner Inszenierung nicht geköpft. Serebrennikov wird durch das Vergiessen von Theaterblut und anderen pig­mentierten Flüssigkeiten unsere Fantasie anregen. Als Flüssigkeiten nutzen wir im Theaterbetrieb sogenannte Körperfarben und Theaterblut, also Flüssigkeiten, die hergestellt wurden, um sie gesundheitlich unbe­denklich deckend auf einen Körper aufzutragen und auch wieder leicht entfernen zu können. In unserer Aufführung wird der «Idiot» von einem Sänger und einem Schauspieler verkörpert. Und dieser Schauspieler, Campbell Caspary, übergiesst und bemalt sich auf offener Bühne mit Farbe und nutzt dann eine in das Bühnenbild integrierte Dusche, um die schwarze, weisse und rote Farbe wieder loszuwerden. Unsere Maskenabteilung hat damit in diesem Falle nicht viel zu tun, deren hand­werkliche Kunst besteht darin, Campbell  vor jeder Vorstellung einige Tätowierungen aufzumalen, die wiederum nicht durch das Wasser der Dusche gelöst werden dürfen. Diese Tätowierungen sind unbedenklich für die Haut auf Basis von Öl hergestellt worden und lassen sich nicht einfach abduschen.

Apropos einfach abduschen: Eine Dusche im Bühnenbild ist eigentlich keine grosse Sache. Man kauft einen Duschschlauch mit Armatur, eine Duschwanne und baut aus ein paar Sperrhölzern, Plexiglas, wasserfester Farbe und Dichtungsmasse eine Duschkabine fast wie Zuhause. Wenn die Dusche nur kurz genutzt wird, braucht es – anders als Zuhause – oben hinter der Sperrholzwand nur einen Kanister mit warmem Wasser, den man mittels Schlauch an die Armatur anschliesst, und eine Duschwanne unten, in der sich das Wasser sammeln kann. Doch dann kommt der Wunsch des Regisseurs, dass diese Kabine wie eine Türe ins Bühnenbild hinein­ und wieder heraus schwenken soll, und dass sich unser Schauspieler in dieser Dusche mehrmals warm duschen können muss. Und schon steht die Duschwanne samt Kabine und Wänden auf Rollen und kriegt einen Warm-­ und Kaltwasseranschluss sowie einen fachmännisch abgedichteten Ablauf mit Abwasserleitung in die Unterbühne. Es ist eigentlich genau wie Zuhause, zumindest wenn man eine Kabine auf Rollen hat. In jedem Fall kann Campbell nun prima seine Farbe wieder loswerden.

Apropos Farbe loswerden: Die Tätowierungen lassen sich zwar nicht mit Wasser wegduschen, mit etwas Öl kriegt man die Bilder nach der Vorstellung ebenfalls wieder von der Haut.


Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 116, Oktober 2024.
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Wir haben einen Plan

Backstage

Die Time-Codes weisen auf eine Aufnahme der Oper hin, mit der Dimitri zusätzlich übt. Vor einem Jahr begann der Chor mit dem Studium dieser herausfordernden Partie und arbeitete zum ersten Mal gleichzeitig mit beiden Chordirektoren: Ernst Raffelsberger studierte den ersten Teil ein, Janko Kastelic den zweiten. Um die Musik besser ins Gedächtnis zu bekommen, wurde die Musik in kleinen Häppchen geprobt, immer und immer wieder, manchmal absichtlich kombiniert mit Proben von Gounods Oper Roméo et Juliette. Dem Chor kommt in der Schnittke-Oper eine gewichtige Rolle zu. Der Regisseur Kirill Serebrennikov inszeniert ihn wie einen griechischen Tragödienchor, der kommentierend anwesend ist, Anteil an der Geschichte nimmt oder auch mal die Freunde der Hauptfigur verkörpert.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 116, Oktober 2024.
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Synopsis

Die Handlung ereignet sich in nicht allzu ferner Zukunft.

Prolog
Der Mensch – Ich – sitzt allein in seinem Haus und versucht sich daran zu erinnern, warum der Boden mit Blut bedeckt ist und warum seine Frau auf dem Boden liegt…

Erste Szene: Party
Ich und seine Frau geben eine Party: Viele Freunde sind gekommen, um dem Paar zu gratulieren. Denn Ich hat für Vergehen, die nicht näher erläutert werden, eine unerwartet milde Strafe bekommen: Er muss einen «Idioten» bei sich zu Hause aufnehmen. In Zeiten wie diesen ist das keine Strafe, sondern fast schon Nachsicht! Ich und seine Frau sind darüber sehr glücklich und haben Spass.

Doch sobald sich die beschwipsten Gäste zerstreut haben, stellt sich heraus, dass Ich und seine Frau vor den Gästen nur so getan haben, als wären sie glücklich und fröhlich: Ihre Ehe ist alles andere als perfekt. Ich beachtet seine Frau kaum, es ist, als bemerke er ihre Anwesenheit gar nicht. Stattdessen hört er eine seltsame Stimme, die ständig irgendwas wiederholt… ist es «äch»? Oder «ich»?

Und seine Frau sagt aus irgendeinem Grund immer wieder, sie sei grausam ermordet worden...

Intermedia
Vor Ich ziehen Szenen aus seiner Vergangenheit vorbei: seine Kindheit, seine Jugend, seine erste Liebe... Sie werden von Szenen aus seiner Zukunft, seinem Alter, seinem Tod abgelöst.

Zweite Szene: In der Galerie
Ich kommt in eine Galerie – die Irrenhaus-Galerie –, die von einem Galeristen, den Ich «Wärter» nennt, geleitet wird. Die Galerie ist voll von Performern, die skurrile Dinge machen. Die Bedeutung dieser Aktionen erschliesst sich für Ich nicht – für ihn sind das alles nur «Idioten», aus denen er einen auswählen und mit nach Hause nehmen muss. Sein Blick fällt auf einen blonden Mann von dreissig Jahren, mit einer hohen Stirn, die aussieht, als ob er von einem Traum erleuchtet wäre. Ich nennt ihn Schätzchen und nimmt ihn trotz der Proteste und Vorwürfe seiner Frau mit nach Hause. Der Galerist ist mit dem Deal zufrieden.

Ich bekommt eine Vorahnung von seinem neuen Leben.

Intermezzo
Seine Frau, die das Schätzchen anfangs hasste, spürt auf einmal, dass sie auf seltsame Weise an ihm interessiert ist. Ich merkt das und regt sich sehr darüber auf.

Dritte Szene: Die Kreise des Lebens
Das Schätzchen lebt sich ein im Haus von Ich und seiner Frau. Zunächst geht es relativ ruhig zu: Schätzchen isst nur manchmal ein bisschen zu viel, trägt sowohl die Kleider von Ich als auch die von seiner Frau und erschreckt Passanten. Doch bald fängt er an, Unfug zu treiben: Er wirft Lebensmittel aus dem Kühlschrank auf den Boden, verschmiert sie überall, er zertrümmert Möbel, zerreisst Bücher – sogar den geliebten Proust der Frau. Dann scheisst er plötzlich auf den Boden... Ich und seine Frau versuchen, sich in der Küche zu verbarrikadieren, aber das Schätzchen bricht die Tür mit einem Messer auf und vergewaltigt die Frau.

Vierte Szene: Tilibom!
Mit der Zeit ist das Schätzchen viel ordentlicher und sauberer geworden und hat Ich sogar einen Strauss Veilchen geschenkt... «Das Leben kommt wieder ins rechte Gleis.»

Doch da bemerkt die Frau, dass sie schwanger ist. Ich ist sich sicher, dass sie ihn betrogen hat und dass das Kind nicht von ihm sein kann. Es kommt zu einem heftigen Streit zwischen den beiden. Die Frau sagt Ich, dass es keinen Idioten gibt – ausser ihm selbst.

Später lässt sie das Kind abtreiben. Ich und das Schätzchen verprügeln sie.

Ich ist traurig über das, was passiert, aber das Schätzchen tröstet ihn mit seiner Zuneigung. Die Schönheit des Schätzchens lässt Ich Scham und Angst überwinden, und er gibt sich ihm hin. Mit ihm fühlt er sich wie eine Frau!

Fünfte Szene: Die Geduld der Götter
Ich ist völlig verzaubert von seinem neuen Leben, in dem er mit Schätzchen zusammenlebt wie ein Sohn mit seinem Vater. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlt er sich glücklich. Sie schotten sich ab von seiner Frau, die sie degeneriert nennt und ihnen ständig Szenen macht; ausserdem erinnert sie Ich dauernd daran, dass sie grausam umgebracht wurde. Und obwohl Ich und Schätzchen versuchen, die Frau zu ignorieren, werden ihre Anschuldigungen zunehmend unerträglich. «Denn auch die Götter verlieren mal die Geduld!»

Die Gartenschere schnappt zu…

Sechste Szene: Der Herbst
Ich sitzt in seinem Haus und versteht nun, warum überall im Haus Blut ist. Er hat seine Frau getötet. Es gibt keinen Idioten, es gab nie einen. Ich wird verhaftet…