In Verdis Luisa Miller sind die beiden Hauptfiguren nicht das Liebespaar Luisa und Rodolfo, sondern Miller und der Graf von Walter. Ich sage das wirklich nicht, weil ich als Miller selbst die Baritonrolle singe, aber die beiden Väter sind nun einmal die wichtigen Kontrahenten in dieser Oper. Während der Graf von Walter mit aller Wucht und Grausamkeit für den Machterhalt steht, ja sogar für den Machtmissbrauch, verkörpert der alte Soldat Miller die bürgerliche Ehre und die Würde! Und er ist im Gegensatz zu Walter, der die Vaterliebe einmal als Höllenqual beschreibt, ein emotionaler und gütiger Vater: «In terra un padre somiglia Iddio / per la bontade, non pel rigor!»(«Auf Erden gleicht ein Vater Gott durch Güte, nicht durch Strenge»). Miller hat seine Tochter Luisa freiheitliches Denken gelehrt und überlässt ihr die Wahl ihres Gatten. Anders der Graf von Walter: Er projiziert seine eigenen Vorstellungen auf seinen Sohn und will in erster Linie über ihn bestimmen.
Vaterrollen nehmen in Verdis Werk ja grundsätzlich eine zentrale Stellung ein, und in diesem Zusammenhang möchte ich auf ein wichtiges biografisches Detail hinweisen: Verdi empfand die Übermacht der Väter während der Komposition von Luisa Miller ganz besonders stark. Damals hatte er selbst grossen Streit mit seinem Vater, so dass es später schliesslich zum Bruch kommen sollte. Der Anlass war unter anderem seine unkonventionelle Liaison mit der Sängerin Giuseppina Strepponi, die sich in Busseto grossen Anfeindungen ausgesetzt sah. Die beiden entschieden sich schliesslich, auf Verdis Gut nach Sant’Agata zu ziehen – ein Befreiungsschlag, der Rodolfo und Luisa in der Oper leider nicht vergönnt ist...
Für mich persönlich hat die Rolle des Miller eine wichtige Bedeutung: Zwar habe ich meine Karriere mit Rossinis Barbiere begonnen, und ich habe den Rigoletto so oft wie kein Zweiter gesungen, aber mein endgültiger internationaler Durchbruch gelang mir als Miller, als ich 1978 an der Londoner Covent Garden Opera debütierte. Und: den Miller habe ich auch bei meinem Debüt am Zürcher Opernhaus gesungen, in der Spielzeit 1981/82! Die Luisa war damals keine Geringere als Katia Ricciarelli, den Rodolfo sang José Carreras, den Grafen von Walter Bonaldo Giaiotti und Maestro Nello Santi dirigierte...
Gerade führe ich in Genova bei Luisa Miller selbst Regie, denn die Oper fasziniert mich wirklich sehr. Zwar ist es nicht Verdis berühmtestes Werk, aber ich halte es für ein richtiges Kleinod, denn es ist, 1849 in Neapel uraufgeführt, gleichsam eine Vorstudie dessen, was Verdi später schreiben sollte. Wieviele wunderbare Dinge kann man hier doch entdecken! Denken wir zum Beispiel an die Szene, in der der Intrigant Wurm Luisa zwingt, den Brief an Rodolfo zu schreiben, in dem sie ihre Liebe zu Rodolfo leugnet – eine Stelle, die von der Klarinette begleitet wird, genau wie später in der Traviata, wenn Violetta den Brief an Alfredo schreibt. Oder die ganze zweite Hälfte der Arie des Grafen von Walter, da hören wir schon Filippo II im Don Carlo! Wurm ist gleichsam eine frühe Skizze zu Jago, und Miller ist weniger mit Rigoletto verwandt als viel mehr mit dem Marquis von Posa im Don Carlo: Wie Posa ist auch Miller ein stolzer und von grossen freiheitlichen Idealen geprägter Charakter. Luisa Miller ist wirklich eine grosse Inspirationsquelle für die nachfolgenden Meisterwerke Verdis!
Nun aber freue ich mich, in der erfolgreichen Inszenierung von Damiano Michieletto wieder ans Zürcher Opernhaus zurückzukehren. Dieses Haus fehlte mir wirklich sehr!
Leo Nucci