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Norma

Tragedia lirica in zwei Akten von Vincenzo Bellini (1801-1835)
Libretto von Felice Romani
Nach der Tragödie «Norma ou L’Infanticide» von Alexandre Soumet

In italienischer Sprache mit deutscher und englischer Übertitelung. Dauer 3 Std. 05 Min. inkl. Pause nach dem 1. Akt nach ca. 1 Std. 25 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.

Gut zu wissen

Fotogalerie

 

Szenenbilder «Norma»


Die geniale Stelle


Ergriffenes Schweigen

Eine Generalpause in Vincenzo Bellinis «Norma»

Was für ein Theatercoup! Aus der Tiefe des Orchesters ertönt im weichen Streicherklang eine wiegende, behutsam modulierende Begleitfigur, ein weicher Klangteppich, auf dem dann die Flöte eine jener Melodien von geradezu überirdischer Schönheit intoniert, wie sie nur Bellini erfinden konnte. (In der Bewunderung dieser langen melodischen Linien waren sich selbst die Antipoden Verdi und Wagner vollkommen einig.) Auf der Bühne sieht man den im hellen Mondschein daliegenden heiligen Eichenhain, in dem die weiss gewandete Priesterin mit ausgebreiteten Armen heran­schreitet, um die heilige Handlung zu vollziehen. Schier endlos scheint sich der Gesang der Flöte auszubreiten, ein betörendes Schweben und Weben, der Zeit enthoben wie das Lied der Seele, die von der Nähe der Gottheit ergriffen ist. Die Harmonie gleitet in eine Mollwendung, die mit einer subtilen dynamischen Steigerung verbun­den ist, dann verringert sich das Tempo, und die Musik kommt auf der Dominante und mit einem Vorhalt ganz zum Stehen. Ein Moment der Stille, des ergriffenen Schweigens, der Erwartung eines bedeutenden, eines heiligen Ereignisses. Und es tritt ein: Die Priesterin beginnt zu singen, durch die helle Nacht klingt ihre Stimme, die «keusche Göttin» preisend und ihre Gnade erflehend. Diese Einleitung, diese Fügung aus vorweggenommener Begleitfigur, instrumentaler Darstellung des Hauptthemas der Arie, Ersterben der Musik, erwartungsvoller Stille und dem folgenden Gesangseinsatz – das scheint ein genialer Einfall des Komponisten zu sein, der die ideale musikalische Darstellung der Situation gefunden hat.

So suggestiv die Wirkung dieser Komposition ist, und so vollkommen sie auf die vorgestellte szenische Situation bezogen ist, wer die Partitur der Norma oder anderer italienischer Opern des 19. Jahrhunderts durchblättert, wird bald feststellen, dass nahezu jede Arie mit einer Einleitung von dieser Struktur versehen ist. Bellini arbeitet hier ungebrochen in den Bahnen der etablierten Konvention, die er freilich mit atemberaubender Virtuosität so anzuwenden weiss, dass das Ergebnis ganz originell wirkt, ganz sein Eigen ist.

Das ist möglich, weil es sich bei dieser Struktur mit der bedeutungsvollen Generalpause nicht um ein gedankenlos angewandtes lebloses Schema handelt, sondern um eines der Kernstücke der italienischen Oper. Die stufenförmige Vorbereitung des Gesangseinsatzes, verleiht ihm die Aura des ganz Besonderen, ja des Heiligen. Es ist, als würde ein Altar errichtet, auf dem das unbegreifliche Wunder der menschlichen Stimme verehrt werden kann. Die wunderbare Gabe des Gesangs mit seinen unendlich subtilen, die geheimsten Seelenregungen ausdrückenden Nuancen.

Man spöttelt gern über die quasi religiöse Verehrung der Sänger, die man in italienischen Opernhäusern erleben kann, und die mit ebenso religiösem Eifer geführten Kämpfe zwischen den Anhängern rivalisierender Künstler. Solche vulkanischen Ausbrüche, die dem Bewohner nördlicherer Gegenden unbegreiflich bleiben, entspringen demselben Punkt, aus dem auch die beschriebene Struktur entsteht: Die Liebe, die Verehrung für die menschliche Stimme, dieses im Wortsinne wunderbarste aller Musikinstrumente, das jedem Menschen gegeben ist, um dem Ausdruck zu verleihen, was er mit trockenen Worten nicht sagen kann. Es ist die Verehrung für den Gesang, der das Herzstück der Oper und die ursprünglichste Quelle aller Musik ist. Eines der Wunder dieser Welt, auf die ergriffenes Schweigen wohl die einzig angemessene Antwort ist.


Text von Werner Hintze.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 69, Mai 2019.
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Audio-Einführung zu «Norma»

  1. Audio-Einführung zu «Norma»
    Felix Michel gibt einen Einblick in die Oper «Norma» (gesprochen von Michael Küster). Live-Einführungen finden jeweils 45 Minuten vor der Vorstellung im Opernhaus statt.

Programmbuch

Norma

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Synopsis

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