Unter unsäglichen Qualen ist Parsifal vom «reinen Toren» zum «durch Mitleid Wissenden» gereift und hat seine Aufgabe verstanden: die Gralsritter aus ihrem Siechtum zu befreien, die die heiligsten Güter hüten bis zur – vielleicht nahen, vielleicht fernen, vielleicht aber auch nie eintretenden – Erlösung der Welt, die ohne diese Reliquien nicht möglich ist. Denn in ihnen vergegenständlicht sich die Basis, auf der die neue Welt zu errichten ist: allumfassende Menschenliebe, bedingungslose Hingabe an den Nächsten – das «Liebesopfer» des Heilands.
Aber Parsifal weiss auch, dass er noch eine andere Aufgabe zu erfüllen hat, und wendet sich der Frau zu, deren Schicksal keinen anderen kümmert: Kundry. Auch sie hat er verstanden, ihre Not erkannt. Also verrichtet er sein «erstes Amt» als Gralskönig, in dem er ihr gibt, was er ihr geben kann: Die Taufe, mit der er sie annimmt, wie sie ist, die Einsame, Verachtete, die von ihrer Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit durch unzählige Welten, zahllose Existenzen gehetzt wird. Er kann ihr ein wenig Wärme spenden, sie «sanft auf die Stirn» küssen. Das ist wenig, und er weiss es. Man hört es im kläglichen Tonfall bei «die Taufe nimm und glaub’ an den Erlöser». In der fast endlosen Dehnung des Worts «Erlöser», als solle die reine Dauer die Triftigkeit der Hoffnung bestätigen, im kraftlosen Absturz um eine Septe bei der letzten Silbe eben dieses Wortes: Er ist es nicht, auf den Kundry wartet. Er kann sie nur zum Glauben ermutigen, dass der Ersehnte einst kommen wird. Aber Glaube ist nicht Gewissheit. So ist es wenig, was er ihr geben kann. Aber es ist alles, was ihm möglich ist, und so ist es viel.
Und Kundry weiss das. Glaube ist nicht Gewissheit, aber Hoffnung zu wecken, ist ein Akt liebevoller Güte, ist menschliche Zuwendung. Eine Zuwendung, die sie nicht mehr erfuhr in den Jahrhunderten, seit sie den gemarterten Jesus verlachte und er für einen Moment seinen Blick auf ihr ruhen liess. Die zarte Geste findet ihr Echo im sanften Klang des Motivs der göttlichen Gnade, das tröstend und traurig sich auf Kundry zu senken scheint, bis die Bewegung in einem übermässigen Dreiklang erstirbt: Sie weint. Ein scharf dissonierender Basston tritt hinzu und bringt die Bewegung wieder in Gang. Es folgt eine quälend langsam absinkende chromatische Linie, das Motiv des leidenden Heilands wird gestreift, dann bleibt nur noch unbestimmtes Wogen in tiefer Finsternis. Nun aber geschieht ein Wunder, erhebt sich eine Melodie von so vollendeter Schönheit, wie man sie selbst beim grossen Melodiker Wagner schwerlich ein zweites Mal finden wird: Der Tränenumflorte sieht die Welt verändert, sieht den Vorschein der erhofften, künftigen erlösten in der gegenwärtigen.
Doch das eigentliche Wunder dieser Stelle ist der erste Ton, der leise Einsatz der Oboe, der die Klangfarbe kaum merklich aber entscheidend ändert, mit dem ein Licht durch das Dunkel leuchtet, als wäre es schon immer dagewesen, das überirdisch zu sein scheint und doch ganz diesseitig ist. Unwillkürlich denkt man an jene Stelle des Johannesevangeliums: «Das Licht leuchtete in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht ergriffen.» So schwach dieses Licht sein mag, das aus der Zukunft leuchtet, die Finsternis kann es nicht besiegen, auch das Grauen der letzten Szene und die gläserne Erstarrung des Stückschlusses können ihm nichts anhaben: Es verbürgt die Hoffnung auf eine bessere Welt, die Wagner trotz allem, was dagegenspricht, bis in die letzte Stunde seines Lebens nicht aufgeben wollte.
Text von Werner Hintze
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 56, Februar 2018
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