Andreas Homoki, die Handlung von Bellinis Oper I puritani spielt im England des 16. Jahrhunderts. In einem Glaubenskrieg stehen sich die reformierten republikanischen Puritaner und die katholischen monarchistischen Stuarts gegenüber. Vor diesem Hintergrund wird eine Liebesgeschichte erzählt, die über die verfeindeten Lager hinwegführt: Die Puritanertochter Elvira liebt Arturo, der den verhassten Stuarts angehört. Wie ernst muss man einen solchen geschichtlichen Hintergrund nehmen, wenn er in einer Belcanto-Oper doch erkennbar vor allem als Kulisse für spektakulären Gesang dient?
Die Oper spielt zu Zeiten eines blutigen Bürgerkriegs und der Zerstörung, mit - samt dem Chaos, dem Wahnsinn, den er hervorbringt, und sie zeigt, was so ein Krieg in den Menschen anrichtet. Ich wäre schlecht beraten, einen solchen Hintergrund nicht ernst zu nehmen, auch wenn es sich eigentlich um eine Liebesgeschichte handelt. Was wäre der Kinoklassiker Casablanca, der ja auch eine Dreiecksgeschichte über zwei Männer und eine Frau erzählt, ohne den Hintergrund von Zweitem Weltkrieg, Emigration und Widerstand?
Das Libretto basiert auf dem Schauspiel Die Rundköpfe und die Kavaliere von Acenot und Saintine, das gerade sehr erfolgreich war, als Bellini sich daran machte, I puritani für das Pariser Théâtre-Italien zu schreiben. Erfolgskalkül spielte im Entstehungsprozess der Oper nicht nur bei der Wahl des Stoffes eine wichtige Rolle, Bellini wollte in Paris mit grosser Oper reüssieren.
Genau. Deshalb brauchte er einen schlagkräftigen, dramatischen Stoff, und den hat er mit I puritani gefunden. Die Geschichte bietet reichen Konfliktstoff, Ausnahmezustände und menschliche Katastrophen, die geeignet sind, grosse Emotionen auf die Bühne zu bringen. Darum geht es doch bei Opernstoffen immer: Sie sind dann gut, wenn sie starke dramatische Situationen herstellen und extreme Leidenschaft ermöglichen.
Stringent erzählt wird die Geschichte allerdings nicht. Im Libretto holpert es mitunter ganz schön.
Die italienischen Opernstoffe sind bis auf den Verismo eigentlich alle so konstruiert, dass sie fast immer ziemlich direkt auf einen dramatischen Konflikt zusteuern. Darunter leidet auch bei Bellini tatsächlich immer wieder die Plausibilität. In manchen Szenen geht das so schnell, dass man es mit dem Anspruch der Logik gar nicht recht nachvollziehen kann. Ist die Situation hergestellt, werden die dramatischen Situationen mit grösstmöglicher Emotionalität ausgestaltet. Den Komponisten scheint es nicht so wichtig gewesen zu sein, stets sinnfällig zu beantworten, warum und wie denn nun genau eine Figur auf die Bühne kommt oder abgeht. Wie der Held so schnell auf sein Pferd springen und mit der Königin fliehen kann, interessiert nicht. Deshalb darf ich als Regisseur auch gar nicht erst anfangen, diese Dinge im Detail erzählen zu wollen. Ich würde daher ein Stück wie I puritani nie in einem konkret realistischen Kontext ansiedeln, sonst verheddert man sich ganz schnell in Kleinkram, ohne den Problemen wirklich beizukommen. Man braucht für solche Opern eine freie theatralische Form und eine offene, flexible Bühnenlösung.
Kannst du ein Beispiel für so eine herbeigezwungene Szene geben?
Ein wichtiger Wendepunkt für die Handlung ist beispielsweise der Moment, in dem der Bräutigam Arturo am Rande der Hochzeitsfeierlichkeiten mit einer von seinen Gastgebern gefangen gehaltenen Dame zusammentrifft, die sich ihm als die abgesetzte Königin zu erkennen gibt. Die Chance, seine Königin vor dem Tod zu retten, lässt Arturo Hals über Kopf seine eigene Hochzeit verlassen. Er flieht mit der Königin und versteckt sie ausgerechnet unter dem Schleier seiner Braut, damit die Wachen sie nicht erkennen. Nicht einfach herzustellen! Denn Arturo muss ja mit Enrichetta alleine sein, um sich überhaupt mit ihr verständigen zu können, zumal auf der eigenen Hochzeit. Zuvor erscheint der Brautvater und erklärt, er könne leider nicht an der Hochzeit seiner Tochter teilnehmen, weil er die Gefangene nach London vors Gericht bringen müsse. Er überreicht dem Bräutigam ein Papier, das «freies Geleit zur Kirche» garantiere – was um Himmels willen das auch immer bedeuten soll. Alle gehen weg und – glückliche Fügung! – die gefangene Königin bleibt mit Arturo alleine zurück, sie fliehen... Da muss ich höllisch aufpassen, sonst wird’s schnell lächerlich.
Wie geht man als Regisseur dann damit um?
Das Notwendige klar herausstellen und über Nebensächlichkeiten wie dieses «freie Geleit» unauffällig hinweggehen. Die Motivationen der Figuren müssen in jedem Moment sehr deutlich werden, und wenn das Libretto mich hier kurzzeitig im Stich lässt, muss ich halt selbst Gründe zeigen und zuspitzen.
Es stört dich nicht, wenn es schwer ächzt im dramaturgischen Gebälk?
Ich sehe das durchaus als fast sportliche Herausforderung. Es hilft allerdings, dass solche Szenen eigentlich immer recht offen und skizzenhaft angelegt sind und mir dadurch verschiedene Möglichkeiten für die konkrete Realisierung lassen.
Du sagtest, es sei wichtig, bei dieser Oper ein offenes, flexibles Bühnenbild zu haben. Wie sieht das konkret aus?
Mein Bühnenbildner Henrik Ahr und ich haben nach einer Bühnenlösung gesucht, die abstrakt ist, schnelle Szenenwechsel zulässt und es ermöglicht, parallele Erzählstränge zu zeigen. Die Bühne öffnet Fantasieräume, Erinnerungsräume, Albtraumräume. Manches, von dem die Figuren nur berichten, kann ich so sichtbar werden lassen und szenisch ausagieren. Es ist eine Bühne, die unentwegt langsam rotiert wie ein unerbittlicher Lauf der Zeit oder eine Art Mahlwerk. Sie legt Räume frei, schneidet Menschen von anderen ab, öffnet Blicke in innere Bilder der Figuren.
Bellini selbst hat ja in I puritani den Aufführungsraum gleichsam geweitet, indem er Chöre und Arieneinstiege immer wieder hinter der Szene singen lässt. Solche Fern-Nah-Effekte hat das Pariser Publikum der damaligen Zeit geliebt.
Es hat immer eine tolle Wirkung, wenn eine Figur auf der Bühne auf etwas reagiert, was von hinter der Szene hereinklingt. Die Handlung bleibt stehen, und es entsteht eine spannende Erwartungshaltung. Ich mag das sehr! Auch sonst hat Bellini alle theatralischen Mittel seiner Zeit virtuos eingesetzt. Die Bandbreite zwischen zartesten intimen Situationen und monumentalen Chortableaux ist ungeheuer und ermöglicht immer wieder tolle Kontrastwirkungen. Diese versuchen wir auch als Bildwirkung sichtbar zu machen.
Er bedient die Form, wie sie im Paris der damaligen Zeit en vogue war.
Klar. Das Werk folgt den Konventionen seiner Zeit. Das klingt nicht sehr modern, aber es war nun mal eine Notwendigkeit, den Erwartungshaltungen der Produzenten und des Publikums an die Ausgestaltung dieser Stoffe Rechnung zu tragen. Bellini erweist sich da als sehr versiert: Er schafft präzise gebaute Spannungsverläufe, zielgenau anvisierte Höhepunkte, wirkungsvoll angelegte dramatische Wendungen. Das erinnert an die Metiersicherheit, mit der heutzutage Musicals konzipiert werden. Aber er geht auch sehr innovativ mit dieser Form um, indem er Rezitative auflöst, mehr durchkomponiert oder etwa Choreinwürfe in Soloarien einflechtet.
Man sagt immer, Bellini sei der grosse Elegiker des frühen 19. Jahrhunderts. Trifft das auch auf I puritani zu?
Ich finde die Oper weit weniger elegisch als andere. Sie ist im Gegenteil über weite Strecken hochdramatisch. Das hat mich sofort für das Werk eingenommen.
Können die breit angelegten Szenen nicht auch zum Problem für den Regisseur werden? Es gibt immer noch eine Wiederholung oder eine Cabaletta, zu der man sich szenisch etwas einfallen lassen muss, obwohl nichts Neues mehr passiert.
«Scena ed Aria», das ist das Prinzip in der italienischen Oper, auch bei Bellini. Die Szene wird rasch entwickelt, mündet in eine Arie, die zwei Teile hat. Nach der Arie tritt ein weiteres Ereignis, eine Störung oder ein Impuls hinzu, das mündet in eine Cabaletta, die häufig ebenfalls wiederholt wird und mit dem Abgang der Figur endet. Das muss man sinnfällig auf die Bühne bringen, auch wenn es bei der Lektüre des Librettos scheint, dass nach der Hälfte der Arie bereits alles gesagt sei. Ich begreife solche Widerstände aber immer als Chance, weil ich mit meiner Arbeit in erster Linie auf die Musik reagiere. Und die steht nicht still, sondern treibt die Emotionen weiter. Ich bin gezwungen, die gleiche Situation ein zweites oder auch drittes Mal zu variieren und sie dadurch frisch und lebendig zu halten. Das gehört zu meinem Handwerk als Regisseur, und das muss ich bereits bei der Arbeit mit dem Bühnenbildner im Auge haben. Die Bühne von Henrik Ahr bietet bei aller Einfachheit sehr viele Möglichkeiten.
Findet der historische Stoff in deiner Inszenierung eine Entsprechung in den Kostümen?
Natürlich ist eine Bürgerkriegsthematik wie in I puritani zeitlos und gerade heute ausgesprochen aktuell. Wenn aber ein historischer Kontext so klar benannt wird wie in dieser Oper, finde ich es immer schwierig, die Handlung in eine ganz andere Zeit zu verlegen. Wenn in Verdis Don Carlo Philipp II. auftritt, ist das für mich zunächst einmal Philipp II. und nicht Barack Obama. Wir haben uns daher dafür entschieden, in unser abstraktes Bühnenbild Figuren zu stellen, die eine historische Anmutung haben. Da sie nicht in einer historisierenden Kulisse auftreten, ergibt sich so von vornherein ein Moment der Verfremdung: Sie erscheinen eher wie Widergänger einer Vergangenheit und ermöglichen eine theatralisch reduzierte, nichtrealistische Erzählweise. Ich bin überzeugt, dass die archaische Kraft des Stückes in einer historisierenden Kostümierung mehr zur Geltung kommt. Die Religionskriege der damaligen Zeit waren unglaublich gewalttätig und grausam, und das zum Thema zu machen, ist eine Chance für die Inszenierung, zumal die Oper keine wirkliche Lösung des Konfliktes formuliert. Es geht um eine Welt, die religiös und politisch so verkeilt und grauenhaft ist, dass sie die Menschen in den Wahnsinn treibt.
Immerhin gibt es ein Happy-End. Das wird von aussen herbeigeführt. Am Ende der Oper wird die Nachricht verkündet, dass Cromwell und seine Puritaner gesiegt haben und eine Generalamnestie erlassen wird, die alle Probleme löst.
An diese glückliche Fügung glaube ich eben nicht. Dieser vermeintliche Frieden wird ja einfach nur behauptet und musikalisch wie szenisch nicht wirklich eingelöst. Dieses Happy-End wirkt auf mich recht unvermittelt, weshalb wir uns für eine andere szenische Lösung entschieden haben, die ich hier aber noch nicht verraten will.
Bellinis I puritani ist eine Oper, die für ihren grosskalibrigen, virtuosen Belcantogesang geliebt wird, den man mit möglichst tollen Sängern erleben möchte. Was heisst das für den Regisseur? Soll er den Sängern das Feld überlassen?
Was soll das denn heissen: das Feld überlassen? Eine gesangliche Darbietung, und sei so noch so spektakulär, ist nie zu trennen von der inhaltlichen dramatischen Ausgestaltung, sonst verliert der Gesang seine Glaubwürdigkeit. Mir macht es wahnsinnig Spass, mit so grossartigen Sängern zu arbeiten wie Pretty Yende, Lawrence Brownlee, Michele Pertusi oder George Petean, weil sie allesamt auch darstellerisch hochprofessionell sind und sich mit grossem Engagement in diese Produktion werfen. Wir haben natürlich in den Proben auch schon Situationen gehabt, in denen die Darstellung von Leidenschaftsausbrüchen an die Grenzen des physisch Möglichen gehen – das italienische Legato braucht halt den ruhigen Atem. Als erfahrener Regisseur weiss man natürlich um diese Dinge und baut die szenischen Vorgänge so, dass die Sänger ihren vokalen Anforderungen trotzdem erfolgreich gerecht werden können. Es geht immer um einen glaubwürdigen Ausdruck, szenisch wie musikalisch. Das lässt sich nicht trennen! Und Sänger sind immer dankbar für szenisch starke Situationen, weil diese dann auch den Gesangsausdruck tragen und das Singen letztlich leichter fällt, als wenn sie nur an der Rampe stehen. Bellini hat nicht einfach Musik für virtuose Gesangsdarbietungen geschrieben, dahinter steht immer auch eine starke szenische Vision. Der Mann hat Theatermusik im besten Sinne komponiert, und die wollen wir auf der Bühne erleben mit der ganzen szenisch-musikalischen Energie, die ihr innewohnt.
Das Gespräch führte Claus Spahn.
Dieser Artikel ist erschienen im MAG 40, Juni 2016.
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