Hans van Manen ist dieses Jahr 90 Jahre alt geworden, das Ballett Zürich zeigt im Januar sein Stück «On the Move».
Michael Küster hat den Jahrhundert-Choreografen in Amsterdam besucht. Ein Gespräch über die Freiheit des Suchens beim Choreografieren, über Schallplattenstapel, Disneys «Fantasia», Homosexualität, Fotografie und wie man als Künstler sein Erbe regelt
Hans van Manen, im Juli 2022 hat die Ballettwelt Ihren 90. Geburtstag gefeiert. Wie haben Sie selbst diesen Tag verbracht?
Das schönste Geschenk war das dreiwöchige Festival, bei dem in der Amsterdamer Oper insgesamt 19 meiner Ballette gezeigt wurden. Das Dutch National Ballett, das Nederlands Dans Theater und Introdans aus Rotterdam haben getanzt. Aber besonders gefreut hat mich, dass mit dem Ballett am Rhein, dem Wiener Staatsballett und dem Stuttgarter Ballett auch drei internationale Compagnien angereist waren. Es war ein riesiger Erfolg. Ich habe alle 13 Vorstellungen gesehen und musste mich jedes Mal verbeugen. Gott im Himmel! Es war einfach fantastisch!
Sie haben bereits vor einigen Jahren, 2014, aufgehört zu choreografieren. Wie präsent sind Ihre Stücke heute für Sie?
Ich habe in meinem Leben 150 Ballette gemacht und dachte irgendwann, es reicht. Ich wollte nicht, dass man sagt: Oh, er ist schon 90 und macht noch immer Ballette. Das Aufhören war damals wie eine Befreiung. Ich fand es herrlich, nicht mehr unter dem Druck zu stehen, zu drei Terminen im Jahr eine neue Choreografie fertig haben zu müssen. Aber die Tanzkunst interessiert mich bis heute zu hundert Prozent. Wo auch immer ein Ballett von mir aufgeführt wird, ich komme! Ich habe fünf Leute, die meine Ballette einstudieren, und jedes Mal bin ich überrascht, wie gut sie das machen. Aber ich versuche auch immer, ein paar Tage vor der Premiere selbst vor Ort zu sein, um noch mit den Tänzerinnen und Tänzern zu arbeiten. Natürlich komme ich auch nach Zürich.
Zum Ballett Zürich haben Sie eine lange Beziehung. Seit fast dreissig Jahren sind Stücke von Hans van Manen in Zürich zu sehen, darunter so berühmte Choreografien wie Metaforen, Frank Bridge Variations oder Kammerballett.
Zürich war immer ein besonderer Ort für mich. Bernd Roger Bienert hat in den 90er-Jahren die ersten van Manen-Stücke gezeigt. Heinz Spoerli, mit dem ich bereits in seiner Zeit in Basel viel zusammengearbeitet habe, hat das fortgeführt, und auch mit Christian Spuck gibt es eine schöne Verbindung.
Nicht nur die jüngeren Choreografien, sondern auch viele Stücke aus den sechziger und siebziger Jahren haben sich ihre Zeitlosigkeit bewahrt. Beschäftigt Sie der Gedanke, was aus Ihrem Werk wird, wenn Sie nicht mehr da sind?
Als Choreograf hofft man natürlich, dass es einige Stücke auch über den eigenen Tod hinaus schaffen, lebendig zu bleiben, aber eine Garantie für Zeitlosigkeit gibt es nicht. Ich finde es wichtig, über den Tod nachzudenken und Vorkehrungen zu treffen – nicht nur, was die Ballette betrifft. Sonst wird es für alle furchtbar, die das dann regeln und auflösen müssen. Vor seinem Tod sollte man so viel wie möglich weggeben. Nur so hat man in der Hand, dass das im eigenen Sinne passiert. Mein künstlerisches Erbe wird von der Hans-van-Manen-Stiftung verwaltet.
Wir führen unser Gespräch auf Deutsch. Nicht nur die Sprache, sondern auch Deutschland an sich spielt in Ihrem Leben eine wichtige Rolle.
Ich bin in Nieuwer Amstel in Nordholland geboren, aber meine Mutter war Deutsche. Allerdings erinnere ich mich nicht, dass wir zu Hause Deutsch gesprochen hätten. Doch wahrscheinlich täusche ich mich, denn sonst würde ich die deutsche Sprache nicht so gut kennen. Meine internationale Karriere hat 1971 von Deutschland aus ihren Anfang genommen. Damals ist Keep going in Düsseldorf entstanden. Schon vorher waren namhafte deutsche Tanzkritiker wie Jochen Schmidt und Horst Koegler immer wieder nach Holland gekommen, um meine Aufführungen zu rezensieren. Aber in Deutschland habe ich immer wieder gearbeitet.
Galt der Prophet nichts im eigenen Land?
Da ist etwas Wahres dran. Meinen Ruf als Choreograf musste ich mir im Ausland und vor allem in Deutschland erarbeiten, ehe er nach Holland ausgestrahlt hat. Damals wie heute hat die Tanzkunst hier keinen einfachen Stand. Obwohl das Interesse gross ist und die Ballettvorstellungen gut gefüllt sind, findet der Tanz fast überhaupt keinen Widerhall im Feuilleton.
Musik und die Tänzerinnen und Tänzer haben Sie immer wieder als die wichtigsten Quellen Ihrer Inspiration benannt.
Von der ausgewählten Musik hängt die Besetzung für eine Choreografie ab. In einer grossen Orchesterpartitur wird sie grösser sein als bei einem Klavierstück oder einem kammermusikalischen Werk. Wenn die Musik einmal feststeht, habe ich sofort eine Besetzung im Kopf, mit der ich arbeiten will. Das waren keineswegs nur meine Lieblingstänzerinnen und -tänzer, sondern ich fand es immer spannend, ihnen Leute an die Seite zu stellen, die ich in anderen Vorstellungen oder im Training gesehen hatte. Die richtige Musik zu finden, hiess in den sechziger und siebziger Jahren: Schallplatten, Schallplatten, Schallplatten! Ich habe mich damals quer durch das Repertoire gehört.
In einem Film haben Sie von einem Plattengeschäft erzählt…
Das war wirklich einmalig. Dort musste ich nur das Genre sagen, zum Beispiel Streichorchester aus dieser oder jener Zeit, und schon kamen sie mit einem Stapel Platten oder CDs, die ich mit nach Hause nehmen und daraus in Ruhe eine Auswahl treffen konnte. Wenn ich die passende Musik gefunden habe, nehme ich für mich eine Einteilung vor und lege fest, wo es einen Pas de deux gibt oder wo drei, vier oder sechs Leute tanzen. Ich habe eine Vorstellung von Anfang und Ende, weil das dramaturgisch sehr wichtig ist. Auch bei einem Buch sind ja die ersten Zeilen die wichtigsten! Aber ansonsten weiss ich nichts im Voraus. Alles entsteht mit dem Beginn der Arbeit im Studio. Ich kenne die Einteilung der Tänzerinnen und Tänzer und lasse mich ansonsten von der Musik leiten. Sie weist mir den Weg. Ich improvisiere viel, und dabei steht man natürlich ziemlich nackt da. Deshalb liebe ich risikofreudige Tänzerinnen und Tänzer. Wenn sie gar zu vorsichtig sind, werde ich auch vorsichtig. Sie müssen sich hineinwerfen. Sie machen geniale Fehler, und dann rufe ich: Das bleibt so! Da wird nie geschrien. Es geht alles sanft und ohne Druck, und so muss es auch laufen. Wir hatten immer Spass mit den Choreografien. Wenn ich meinte: «Das kann man ja nicht anschauen. Das sieht aus wie Balanchine.», fragte ein Tänzer gleich zurück: «Welcher Balanchine?» Und dann stellten wir fest, dass es doch eine Eigenständigkeit hatte, und wir haben die Sequenz behalten.
George Balanchine galt und gilt vielen Tanzschaffenden als eine Art Überfigur. Was hat er am Anfang Ihres Weges als Choreograf bedeutet, und was bedeutet er heute?
Als ich das erste Mal Balanchine sah, fand ich das unglaublich. Und das ist bis heute so geblieben. Bei einigen meiner Stücke spürt man, dass er mich inspiriert hat, aber ich glaube, sie sehen trotzdem nicht aus wie von Balanchine. Strawinsky und Picasso hassten das Wort «Inspiration», für sie war es ein Modewort. Halb im Scherz sage ich deshalb lieber: Ich stehle, wo immer ich kann. Man «stiehlt» und stellt fest: Mit diesem Element kann ich auch dieses oder jenes tun. Stehlen ja, imitieren nein! Das muss man sich bei jedem Stück sagen.
Wo sagen Sie denn heute: «Das habe ich von Balanchine gelernt.»?
Von Balanchine lernt man zuallererst Musikalität! Zu beobachten, wo und warum sich die Choreografie ändert, das ist fantastisch anzusehen. Die Art, wie er mit Wiederholungen umgeht. Auch was die Ausnutzung des Bühnenraums angeht, habe ich viel von ihm gelernt. In welchem Verhältnis stehen Horizontale und Vertikale, wann verwende ich die Diagonale, die ja die längste Form von Wiederholung ist, die man in einer Choreografie machen kann. Es war mir immer wichtig, den zur Verfügung stehenden Raum voll auszunutzen. Wenn man Architekt ist, gebraucht man das ganze Haus und nicht nur die erste Etage.
Jetzt haben Sie viele Begriffe aus der Geometrie und Architektur verwendet. Wahrscheinlich können Sie es schon nicht mehr hören, aber Ihr Beiname «Mondriaan des Tanzes» kommt ja nicht von ungefähr …
Es ist ein grosses Kompliment, und es ehrt mich, wenn man das beim Betrachten meiner Stücke so empfindet. Ich messe dem aber keine so grosse Bedeutung bei. Mein ganzes Leben habe ich mich für Bildende Kunst interessiert, vor allem für die Werke des Konstruktivismus. Da kommt man an Mondriaan natürlich nicht vorbei. Auch in Zeiten, in denen ich kein Geld hatte, habe ich Bilder gekauft und dann in Monatsraten abbezahlt. Die Herzensbeziehung war dabei immer das Wichtigste. Es gibt diesen magischen Moment, wo du merkst: Ich muss und soll das haben. Und dann muss man kaufen.
Ihr Weg zum Tanz führte über einen Umweg. Sie sind zunächst bei dem grossen holländischen Maskenbildner Herman Michels in die Lehre gegangen.
Es war kurz nach Kriegsende, und die Schulen waren geschlossen. Meine Mutter, die wusste, dass ich tanzen wollte, hat mich durch Vermittlung einer Freundin bei Michels untergebracht, damit ich überhaupt etwas machen konnte. Michels war der beste Maskenbildner in Holland für Film, Bühne und Oper. In den fünf Jahren bei ihm habe ich alles an Balletteindrücken aufgesogen, was möglich war. Als ich 18 war, sagte ich zu ihm, dass ich aufhören wolle, um im Ballett von Sonia Gaskell zu tanzen. Er meinte, ich solle nur noch an einem Tag in der Woche für ihn arbeiten und könne mein Salär trotzdem behalten. Das habe ich noch ein halbes Jahr gemacht, mich dann aber ganz dem Tanz gewidmet. Ich war sicher nicht der Idealtyp für Schwanensee oder Giselle, aber ich war ein Virtuose und konnte unglaublich gut drehen. Zehn Pirouetten waren für mich normal. Nach einer kurzen Zeit bei Sonia Gaskell bin ich ins Opernballett gewechselt und 1958 schliesslich für ein Jahr nach Paris zu Roland Petit gegangen. Paris war eine Enttäuschung, die grosse Ballettgeschichte schien dort vorbei, und so sind Gérard Lemaître und ich schon nach einem Jahr nach Holland zurückgekehrt, wo wir uns dem gerade gegründeten Nederlands Dans Theater angeschlossen haben. Ich wurde zunächst als Tänzer und Choreograf engagiert, ein halbes Jahr später war ich Künstlerischer Leiter. Nach zehn Jahren reichte es mir, von da an habe ich nur noch als Choreograf gearbeitet und bin ohne alle administrativen Verpflichtungen sehr gut gefahren.
Amsterdam ist immer der Mittelpunkt Ihres Lebens gewesen. Warum haben Sie dieser Stadt ein Leben lang die Treue gehalten?
Ich wollte immer nur in Amsterdam leben, denn hier kann man anonym bleiben. Die Konkurrenz in einer Stadt wie New York hätte ich nicht ausgehalten. In Holland konnte ich immer machen, was ich machen wollte. Das Nederlands Dans Theater und das Holländische Nationalballett waren die beiden Pole meiner Arbeit. Jede der beiden Compagnien hat – bedingt durch die unterschiedliche Tanz-Technik – ihr völlig eigenes Profil, und entsprechend unterschiedlich choreografiert man dann auch.
Ihr Schaffen ist mittlerweile auch zum Forschungsgegenstand geworden. Kluge Köpfe haben Ihr Werk in Perioden eingeteilt. Da ist die Rede von der Frühzeit, der Zeit der beginnenden Reife, der romantischen Periode, der Phase der kleinformatigen Duos... Können Sie das nachvollziehen?
Das Leben stellt sich in der Rückschau nicht in solchen Schubladen, sondern eher als ein grosser Kosmos dar. Man merkt oft erst viel später, was wichtig für einen war. Der Jazz zum Beispiel. Mein Bruder war Jazz-Pianist, und das hat mich sehr beeinflusst. In den 50er-Jahren habe ich, inspiriert von Jerome Robbins, Jazz-Ballette gemacht. Aber auch zu Popmusik habe ich choreografiert, in Twice von 1970 zum Beispiel Sex Machine von James Brown. Das haben wir in London bei einem Gala-Abend des Royal Ballet aufgeführt. Später war das überall ein Erfolg, nur dort nicht. Aber hinterher bekam ich einen Brief von James Brown. Er fände es toll, dass Sex Machine endlich den Weg nach Covent Garden gefunden hätte. Nach diesem Brief war die Welt für mich wieder in Ordnung.
Schon 1987 hat der Tanzkritiker Jochen Schmidt seiner Hans-van-Manen-Monografie den Titel Der Zeitgenosse als Klassiker gegeben…
Ein fantastischer Titel, oder?
Sie fühlen sich damit also richtig beschrieben?
Jochen Schmidt hat das Spannungsverhältnis von Klassizität und Moderne in meinen Stücken gesehen. In der tänzerischen Ausbildung steht der klassische Tanz oft am Anfang. Aber dann kommen die unterschiedlichsten Eindrücke hinzu und hinterlassen ihre Spuren. 1952 habe ich durch Martha Graham erfahren, was es heisst, den Boden in einer Choreografie zu benutzen. So etwas hatte ich noch nicht gesehen! Heute habe ich oft den Eindruck, dass die Choreografen fast zu viel mit dem Boden arbeiten. Da sieht man fast gar keinen Tanz mehr, und die Beine werden nicht mehr gebraucht.
Genauso wichtig wie die Beine sind in Ihren Choreografien die Augen und der Blick…
Das stimmt. Für die Beziehung zweier Tänzer in einem Pas de deux ist die Blickrichtung unverzichtbar. Bei mir ist sie immer einchoreografiert. Wohin schaut man? Wie schaut man einander an? Man darf nie in den Saal schauen, nach dem Motto «Guckt mal, wie fantastisch ich tanze!» Ausgestellte Virtuosität finde ich schrecklich. Wenn man in die Gasse schaut, stellt sich die Frage: Geht man? Geht man noch nicht? Geht man im Guten? Geht man im Bösen? Blicke sind ein Seismograph für die Beziehung und ausschlaggebend für alles, was sich choreografisch ereignet.
Lassen Sie uns noch einmal auf die Musik zurückkommen. Welche Qualität muss Musik haben, damit sie choreografische Ideen bei Ihnen freisetzt?
Ich merke immer wieder, wie wichtig der Rhythmus ist. Erst der Rhythmus lässt tanzen. Musik muss mich so anfassen, dass ich gar nicht anders kann, als dazu zu choreografieren. Ich finde manche Stücke fantastisch, aber weiss von Anfang an, dass es nicht einfach wird. Aber dieses Risiko muss man eingehen. Ohne Risiko ist alles uninteressant. In vielen Choreografien, die ich sehe, wird die Musik als Wallpaper, als Tapete, benutzt. Es ist ein verbreiteter Irrglaube, dass es sich bei Ballett um illustrierte Musik handelt. Mir war immer wichtig, sich nicht auf den äusseren Ablauf zu verlassen, sondern die Innenspannung der Musik zu erfassen und zu ergründen. Ich finde es toll, wenn Musik es mir nicht einfach macht und sie mich zwingt. Das ist herrlich. Ich will auch gezwungen werden. Es gibt Choreografen, die Schritte geradezu mühelos aus dem Ärmel schütteln. In den meisten Fällen gelingt mir das nicht. Ich muss über jeden Schritt nachdenken.
Sie haben fast nie zu Musik choreografiert, die ausdrücklich für den Tanz komponiert wurde. Eine Ausnahme war 1974 Strawinskys Le Sacre du printemps beim Holländischen Nationalballett. Was war das für eine Erfahrung?
Ich muss 14 gewesen sein, als ich Walt Disneys Zeichentrickfilm Fantasia gesehen habe. Da traten die Dinosaurier zu Sacre-Klängen auf! Ich bin damals sicher zehn Mal ins Kino gegangen, weil ich die Musik so fantastisch fand. Aber ehrlich gesagt, war ich mit meinem Sacre nie zufrieden. Ich habe damals mit einem Pas de deux in der Mitte begonnen, weil zwei Solisten gerade für eine Probe frei waren. Das hätte ich nicht tun sollen. Man muss von Anfang an anfangen und weiterchoreografieren bis zum Ende. Wenn man hier ein Stückchen und da ein Stückchen macht, gerät die Dramaturgie in Gefahr, und man verliert die Geschichte aus den Augen.
Trotzdem sind Sie zu Strawinsky immer wieder zurückgekehrt. Weil er ein musikalischer Seelenverwandter ist?
Weil er mich aufgeregt hat! Wir sprachen über den Konstruktivismus, der steckt ja auch in dieser Musik. Bei Strawinsky ändert sich die musikalische Struktur jede Minute. Man kann fast die Uhr danach stellen.
Gibt es Musik, bei der Sie denken: Das hätte ich gern noch choreografiert?
Ich kann Musik inzwischen gut ohne jeden Gedanken an Choreografie geniessen. Ich höre etwas und denke mir: Was für ein fantastisches Stück Musik! Erst gestern gab es im Fernsehen ein Gustav-Mahler-Adagio in einer Fassung für Klarinette, Cello und Klavier. Vor ein paar Jahren hätte mich das wahrscheinlich inspiriert. Kammermusik ist einfach herrlich!
Was sollten Tänzerinnen und Tänzer begriffen haben, wenn sie Ihre Stücke tanzen?
Dass man mit Schritten noch ganz andere Sachen machen kann, als man normalerweise tut. Ich habe immer versucht, die herkömmlichen klassischen Schritte zu verändern. Man kann sie länger oder kürzer machen, und mit der erlernten Technik lässt sich das Spektrum tänzerischen Ausdrucks immer wieder erweitern. Dieser Kreis ist noch lange nicht ausgeschritten. Aber es geht mir, wie gesagt, nie um die Technik an sich. Das Wichtigste im Pas de deux ist die Beziehung zwischen zwei Menschen. Deshalb wollte ich immer Menschen auf der Bühne sehen. Tänzer, die Menschen sind und nicht nur Tänzer.
Sie haben in Ihren Stücken die unterschiedlichsten Paarkonstellationen zusammengebracht. 1965 war in Metaforen der erste Männer-Pas de deux der Tanzgeschichte zu sehen. Trotzdem waren Ihre Ballette nie eine Selbstfeier der Homosexualität…
Warum sollten sie das auch sein? Ich habe die Homosexualität immer sehr einfach und als etwas völlig Normales gesehen. Ich wusste seit meinem 10. Lebensjahr, dass ich homosexuell bin und habe das ab 15 auch offen gelebt. Dennoch bin ich mir im Klaren, dass das in vielen Teilen der Welt auch heute nicht selbstverständlich ist und verfolge den Umgang der Politik mit diesem Thema sehr bewusst.
Mit Ihrem Partner Henk sind Sie seit 51 Jahren zusammen. Was ist das Rezept für diese lange Beziehung?
Das funktioniert, weil wir nicht zusammenwohnen. Wir sehen einander fast jeden Tag, wir essen zusammen. Aber abends geht jeder zu sich nach Hause, denn es gibt immer noch Dinge, die man alleine tut. Vielleicht läuft im Fernsehen ein Stück, das ihn nicht interessiert, und ich will es sehen? Wenn man einander totale Freiheit gibt und sich jeder trotzdem für den anderen verantwortlich fühlt, kann man es lange miteinander aushalten. Auf Reisen sind wir immer im selben Hotelzimmer. Gerade erst hatten wir in Paris wieder so viel Spass zusammen. Wir gehen da jedes Mal zu Armani, und die wollen dann immer, dass wir alles anziehen. Das tun wir auch. Aber wir sagen dann zehn Mal Nein und einmal Ja.
Armani ist Ihr Lieblingsdesigner?
Ja, aber auch Ralph Lauren mag ich sehr. Und halten Sie mich für verrückt, aber oft kaufe ich auch die idiotischsten Schuhe bei Dolce & Gabbana. Aber ich trage sie nie, weil ich finde, dass es Kunstwerke sind!
In Ihren Stücken steckt neben einer grossen Klarheit, Eleganz und Menschlichkeit oft auch sehr viel Humor. Schuhe bzw. Absätze haben Sie sogar auch in der Choreografie zum Thema gemacht…
Wann immer ich irgendwo auf einer Terrasse sitze, beobachte ich, wie die Leute laufen. Es gibt so wenig Menschen, die das gut können. Und die Absätze sind bei fast allen furchtbar. Bei den Frauen sind sie oft so hoch, dass sie die Beine nicht strecken können. Zu den Premieren in Russland kamen die Damen oft in Sportschuhen und brachten ihre High Heels in einem Beutel mit, um sie im allerletzten Moment anzuziehen. Das fand ich grossartig. In Twilight von 1972 stand meine Ballerina Alexandra Radius auf hochhackigen Spitzenpumps. Was im Leben etwas Normales ist, bringt eine klassische Tänzerin auf der Bühne in eine eigenartige Position. Sie tanzt weder auf Spitze noch auf flacher Sohle, sondern in einem Zwischenbereich. Der Schuh scheint nicht nur ihre Motionen, sondern auch ihre Emotionen einzuschränken. Die Musik von John Cage für präpariertes Klavier fand ihre Entsprechung in dieser Choreografie für «präparierte Füsse». Aber Absätze können auch eine Waffe sein. Dagegen wirken nackte Füsse fast wie ein
Friedensangebot.
Unser Gespräch wäre unvollständig, wenn wir nicht auch über den Fotografen Hans van Manen sprechen würden. Fotos wie Stretching, Sword oder Bacchanten sind geradezu ikonografische Kunstwerke, die in namhaften
Museen ausgestellt sind. Woher kam der Impuls zum Fotografieren?
Das hatte mit den vielen Malern zu tun, mit denen ich befreundet war. Sie wollten immer, dass ich meine Meinung zu ihren Kunstwerken äussere, weil ich angeblich «den richtigen Blick» hätte. Irgendwann fanden sie, ich müsse fotografieren.1972 habe ich mit der Kleinbildkamera zunächst in Farbe begonnen. Dann habe ich noch ein Studium angefangen und mit der Hasselblad in schwarz-weiss und im Negativformat 6x6 das fotografiert, was mich als Choreograf interessiert – den menschlichen Leib. Während es in der Choreografie um den Ablauf von Bewegung geht, hat mich beim Fotografieren der Stillstand interessiert, das Verhältnis von Körper, Raum und Licht und ihrer zweidimensionalen Abbildung. Neben dem Choreografieren war das eine anstrengende Sache. Fast jede Nacht stand ich bis drei Uhr morgens im Labor. Ich musste mich irgendwann entscheiden und fand die Choreografie am Ende doch wichtiger für mich. 1991 habe ich mit dem Fotografieren aufgehört und seither auch nie wieder eine Kamera angefasst. Aber ich kaufe nach wie vor Fotografien und interessiere mich sehr dafür. Gerade bin ich sehr glücklich mit den Close-Ups, die mein Freund, der holländische Fotograf Erwin Olaf, von einigen meiner Choreografien gemacht hat. Sie wurden in Amsterdam und Paris in Ausstellungen gezeigt und auch als Bildband veröffentlicht.
Das Ballett Zürich tanzt jetzt Ihre Choreografie On the Move aus dem Jahr 1992. Was ist das für ein Stück?
On the Move habe ich seinerzeit für das Nederlands Dans Theater choreografiert. Mit insgesamt vierzehn Tänzerinnen und Tänzern war das für mich eine relativ grosse Besetzung. Ein befreundeter Kritiker hatte mir das Erste Violinkonzert von Sergej Prokofjew empfohlen. Ich habe es gehört und fand es am Anfang alles andere als einfach. Besonders die Wiederholungen in der Partitur haben mich damals beschäftigt. Müsste ich da in der Choreografie nicht etwas anderes machen? Aber ich habe mich dann doch für eine choreografische Wiederholung entschieden, und wenn das toll getanzt wird, ist das absolut richtig. Heute bin ich zufrieden, dass ich das Stück gemacht habe.
Was muss denn zusammenkommen, damit Hans van Manen zufrieden ist?
Man muss einfach guten Gewissens draufschauen können. Zu vielen meiner Ballette stehe ich bis zum heutigen Tag. Aber es gibt auch welche, über die die Zeit ihr Urteil gefällt hat. Henk und ich sind all meine Stücke durchgegangen, und bei etwa 40 Prozent fanden wir: Weg damit! Wenn Henk zögerlich war, habe ich gesagt: Du kannst es aufführen lassen, wenn ich es nicht mehr sehen muss. Also nicht, solange ich lebe!
Wir haben während unseres Gesprächs köstlich gegessen und guten Wein genossen, und Sie haben sich dabei ein paar kleine Zigaretten gedreht…
Das muss sein! Ich rauche seit 70 Jahren aus Passion. Erst kürzlich habe ich mich wieder durchchecken lassen, und die Ärztin rief mich am nächsten Tag an: «Spreche ich mit dem 18-jährigen Hans van Manen?» Ich fragte: «Alles in Ordnung?» «Alles in Ordnung!» Ich rauche nicht Lunge, sondern ein bisschen durch die Nase. Ich inhaliere nicht total, das habe ich nie getan. Aber ich rauche mit Henk noch immer fast jeden Tag einen Joint. «Prima!», sagen die Ärzte.
Das Gespräch führte Michael Küster
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 97, November 2022.
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