Nina Russi, du inszenierst unsere diesjährige Familienoper. Sie stammt vom britischen Komponisten Mark-Anthony Turnage und heisst Coraline. Wer verbirgt sich hinter diesem ungewöhnlichen Namen?
Coraline ist der Name eines elfjährigen Mädchens, dessen Geschichte in dieser Oper erzählt wird. Als Regisseurin freue ich mich sehr über diese starke weibliche Hauptfigur, denn Coraline ist eigenständig, intelligent, neugierig und mutig. Sie ist Einzelkind und oft auf sich allein gestellt. Verglichen mit anderen Kindern, muss sie sich deshalb oft eigene Spielwelten ausdenken und hat dementsprechend eine sehr blühende Fantasie. Wir lernen Coraline in dieser Oper an einem Punkt ihrer Entwicklung kennen, an dem sie sich nicht mehr mit den vier Wänden des Kinderzimmers und ein paar Puppen abgeben will. Es geht in dieser Geschichte auch darum, das Kindsein ein Stück weit abzustreifen und in die Welt der Erwachsenen vorzudringen. In diesem Zusammenhang kann man den ungewöhnlichen Namen, auf den das Mädchen selbst grössten Wert legt - Coraline, nicht Caroline! -, als eine lautmalerische Anspielung lesen: Neil Gaiman, der Autor der zugrundeliegenden Erzählung, beruft sich damit höchstwahrscheinlich auf Lewis Carrol und dessen Protagonistin Alice, denn in dieser Tradition steht diese Geschichte: nicht nur Alice, sondern auch Coraline gerät im Lauf der Ereignisse in eine Art «Wunderland», in eine seltsame Gegenwelt.
Zu Beginn des Stücks lernen wir Coraline aber in einem Umfeld kennen, das uns vertraut erscheint...
Die Oper beginnt mit einer alltäglichen, aber doch etwas angespannten Situation: Coraline ist mit ihren Eltern vor kurzem in ein neues Haus gezogen. Draussen regnet es in Strömen, was Coralines Drang nach neuen Entdeckungen stark einschränkt: Sie konnte nämlich noch nicht einmal den Garten erforschen. Die Eltern sind mit sich selbst und ihrer Arbeit beschäftigt. Hinzu kommt, dass die Ferien sich dem Ende zuneigen und Coraline auf eine neue Schule gehen soll. Einerseits empfindet sie also Langeweile, andererseits sind da auch Ängste und eine gewisse Nervosität gegenüber dem bevorstehenden Neuanfang.
Wie muss man sich Coralines Eltern vorstellen, und womit sind sie beschäftigt?
Dieses Stück dreht sich sehr stark um die Hauptfigur. Beim Inszenieren muss man deshalb aufpassen, dass die anderen Charaktere - und besonders die Eltern - nicht zu blossen Nebenfiguren verkommen, die das Frühstück auftischen und wieder abräumen. Ich habe viel Sympathie für diese kleine Familie. Der Text der Oper lässt vermuten, dass Coralines Mutter diejenige ist, die in der Familie das Geld verdient. Sie ist eine emanzipierte, erfolgreiche Frau und stolz darauf. Am liebsten würde sie alles perfekt machen und sich auch noch liebevoll um ihre Tochter kümmern, stösst dabei aber an ihre Grenzen. Ihr Mann ist ein lustiger, etwas skurriler Typ, ein gewitzter Erfinder und Klimaforscher, der damit beschäftigt ist, eine Maschine zu entwickeln, mit deren Hilfe er «die Welt retten» will. Gerade dieser Anspruch macht aber klar, dass sein Elan und seine unermüdliche Forschungswut manchmal etwas strapaziös sein können... Der Vater ist ausserdem der Koch der Familie und achtet sehr auf gesunde Kost - was Coraline nicht immer freut…
Da die Eltern kaum Zeit haben, überlassen sie Coraline also ihrem Schicksal…
Sie sind froh darüber, dass Coraline bereits so selbständig ist, und raten ihr, mal die neue Nachbarschaft zu erkunden, denn die Familie wohnt nicht allein in dem neuen Haus. In der Wohnung unterm Dach trifft Coraline auf den alten Mr. Bobo. Er lebt in ärmlichen Verhältnissen, behauptet aber, einmal ein berühmter Dirigent gewesen zu sein und ein Mäuseorchester zu dressieren. - Für mich als Regisseurin ist dies ein spannender und nicht ganz einfacher Moment, denn nach dem realistischen Stückbeginn stellt sich hier plötzlich die Frage, was denn ein Mäuseorchester eigentlich sein soll... Gibt es das wirklich? Oder ist es nur die Fantasie eines halluzinierenden Verrückten? Coraline hat jedenfalls Mitleid mit dem alten Mann, weil sein Mäuseorchester nicht richtig zu funktionieren scheint... Weiter unten im Haus wohnen die beiden durchgeknallten pensionierten Schauspielerinnen Miss Forcible und Miss Spink. Wie Coraline feststellt, leben die beiden Ladies offensichtlich völlig in der Vergangenheit: Sie erinnern sich an grosse Bühnenerfolge, jubelnde Presseberichte, Ruhm und Glanz. Und auch hier werden obskure Methoden gepflegt: Die beiden wollen nämlich aus den Teeblättern ihrer leergetrunkenen Tassen die Zukunft Coralines voraussagen...
Während zuhause alles seinen gewohnten Gang geht, trifft Coraline also auf Nachbarn, die sich höchst ungewöhnliche Dinge imaginieren...
Ja, spätestens in den Szenen bei den Nachbarn wird klar, dass in diesem neuen Haus nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Das Schicksal, das Miss Forcible und Miss Spink für Coraline aus den Teeblättern lesen, verheisst nichts Gutes: Coraline sei in grosser Gefahr! Vor solch einer Warnung schreckt Coraline aber nicht zurück. Der leise Schauer, den sie dabei verspürt, lässt sie sogar neuen Mut schöpfen!
Diesen Mut benötigt Coraline, denn eine geheimnisvolle Tür in der neuen Wohnung, die bisher versperrt war, gibt eines Abends plötzlich den Weg ins Unbekannte frei. In was für eine Welt gerät Coraline?
Zunächst einmal glaube ich, dass das Durchschreiten der Tür selbst und die damit verbundene Verwandlung - die bei uns auch mit einer grossen Bühnenverwandlung einhergehen wird - ein ganz wichtiger Moment ist, denn MarkAnthony Turnage hat für die Verwandlungen in die Anderwelt und zurück jeweils grosse orchestrale Zwischenspiele komponiert. Sich aus eigener Entscheidung ins Ungewisse zu begeben, erfordert von einem Kind unglaublich viel Mut... Und aus psychologischer Sicht könnte man diesen Vorgang als eine Art zweites Abnabeln von den Eltern oder als einen Initiationsritus verstehen...
Ist es also ein Moment, der mit der Szene vergleichbar ist, in der Lewis Carolls Alice durch das Kaninchenloch fällt?
Ja, aber mit dem Unterschied, dass Coraline eben nicht hindurchfällt, sondern aktiv ins Unbekannte krabbelt. Sie entscheidet sich bewusst dafür. Und das würde sicher nicht jedes Kind tun! «Belohnt» wird sie mit einer sehr seltsamen Welt: Es ist alles wie zuhause und doch nicht wie zuhause, so Coralines erster Eindruck. Sie trifft in dieser Welt auf ihre Andermutter, ihren Andervater und die Anderen Nachbarn, die alle den Figuren ähneln, die wir schon kennen - mit dem Unterschied, dass sie viel netter, bunter und interessanter sind. Sogar den Namen Coraline sprechen hier alle richtig aus! Aber es gibt noch einen anderen, gravierenden Unterschied: Anstelle ihrer Augen haben in dieser Welt nämlich alle Figuren Knöpfe aufgenäht. Dieses unheimliche Zeichen zeigt für mich, dass bei den Menschen in der Anderwelt sozusagen der Eingang zur Seele versperrt ist. Und auch Coraline realisiert bald, dass diese vermeintlich paradiesische Welt, in der alle Träume erfüllt werden, eine falsche Welt ist. Spätestens wenn sie selber dazu aufgefordert wird, ihre Augen gegen Knöpfe einzutauschen, weiss Coraline, dass sie hier nicht bleiben will...
Das klingt nach einer ziemlich schauerlichen Wendung. Werden sich die Kinder im Publikum da nicht fürchten?
Neil Gaiman ist ein Autor, der im FantasyGenre zuhause ist und gerne mal in etwas unheimliche Welten eintaucht. Aber er ist auch ein erfahrener und viel gelesener Kinder und Jugendbuchautor, der schon abschätzen kann, wie viel Unheimlichkeit für Kinder erträglich ist. Aber die Botschaft, die er mit diesem Stoff vermitteln will, setzt geradezu voraus, dass auch das Publikum ein bisschen mit Coraline mit fühlt, denn: «Mutig sein» heisst für Gaiman nicht einfach «keine Angst zu haben», sondern: «Mutig sein bedeutet grosse Angst zu haben, und trotzdem das Richtige zu tun.» Ängste zu haben, einschätzen und überwinden zu können, ist ein grosses Thema dieser Oper - und Coraline erzählt dazu sogar eine kleine Geschichte von früher, als sie mit ihrem Vater vor einem Wespenschwarm flüchten musste und grosse Angst hatte. Trotz dieser Angst ist ihr Vater damals noch einmal an den Ort zurückgekehrt, um seine vergessene Brille zu holen. Und genau dasselbe macht Coraline in dieser Oper durch, wenn sie später feststellt, dass sie nochmal in die Anderwelt zurückkehren muss... - Aber natürlich ergeben sich gegen Ende des Stückes positive Wendungen: So gelingt es Coraline beispielsweise, eine ganze Schar Geisterkinder zu befreien, die von der Andermutter festgehalten wurden...
Sehr erfolgreich war Henry Selicks Animationsverfilmung des Coraline-Stoffs. Die effektvollen Mittel des Films lassen die Andermutter zu einer ziemlich garstigen Hexe werden. War dieser Film auch eine Inspiration für deine Inszenierung?
Im Film hat man grundsätzlich ganz andere Mittel zur Verfügung als auf der Theaterbühne. So unheimlich und effektreich können wir gar nicht sein - obwohl sich unsere technische Abteilung auch viele tolle Kniffe ausgedacht hat, auf die wir sehr gespannt sind! Mir ist aber vor allem wichtig, dass die Anderwelt fesselnd, fantastisch, sinnlich und überzeichnet ist. Es gibt ja nicht nur gruslige, sondern auf der Ebene der Sprache und der Musik auch viele humorvolle Situationen…
Uraufgeführt wurde Mark-Anthony Turnages Oper 2018 in London. Nun ist sie zum ersten Mal in der Schweiz zu hören. Was gefällt dir an der Musik besonders?
Ich mag es, dass Turnage rhythmisch vertrackte Phrasen schreibt, die oft eine Nähe zum Jazz haben: Dem Vater hat er zum Beispiel eine sehr humorvolle Musik geschrieben. Aber auch die Musik für unsere beiden SchauspielLadies lassen die Hüften instinktiv mitwippen. Noch eindrücklicher sind aber vielleicht die musikalischen Stimmungen, die der Anderwelt ihre besondere Atmosphäre verleihen, und vor allem die Stimmen der drei Geisterkinder, die mit ihrer Musik gewissermassen die Grenze der beiden Welten überbrücken: Coraline kann die Geisterkinder nämlich schon hören, bevor sie die Anderwelt überhaupt betritt.
Ist die Geschichte dieses Mädchens eigentlich auch für Jungs attraktiv?
Aber sicher! Jeder Junge wird sich auf der Stelle in Coraline verlieben und sie nachahmen wollen!
Alles wollen wir hier noch nicht vorwegnehmen. Aber was wird Coraline am Ende ihrer Erlebnisse für ihr weiteres Leben mitnehmen?
Sie wird ein bisschen erwachsener aus dieser Erfahrung herausgehen. Die Angst vor der neuen Schule wird ganz sicher verschwunden sein, und der Umgang mit den Eltern und Nachbarn in der «normalen» Welt wird ab jetzt anders sein, denn Coraline hat das Verhältnis zwischen Wunsch und Wirklichkeit besser kennengelernt. Sie weiss jetzt, dass eine nicht perfekte Welt, in der man manchmal um etwas kämpfen muss, trotzdem besser ist als eine seelenlose Welt der absoluten Perfektion. Und sie ist bereit für einen neuen Lebensabschnitt und weitere Erlebnisse.
Das Gespräch führte Fabio Dietsche.
Foto von Nina Russi.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 73, Oktober 2019.
Das MAG können Sie hier abonnieren.