Kai Anne Schuhmacher, du inszenierst zum ersten Mal auf der Hauptbühne des Opernhauses und bringst Michael Endes Jim Knopf auf die Bühne. Welche Erinnerungen verbindest du selbst mit dieser Geschichte?
Ich bin mit Michael Endes Büchern gross geworden. Unsere Eltern haben sie uns sogar mehrmals vorgelesen. Als Kind überlegt man sich natürlich nicht, warum man von guten Geschichten begeistert ist. Aber im Nachhinein würde ich sagen, dass mir die Fantasiewesen besonders gut gefallen haben, auf die Jim und Lukas auf ihrer Abenteuerreise stossen, etwa der Scheinriese Tur Tur oder der Halbdrache Nepomuk. Sehr gut kann ich mich auch an das Perpetuum Mobile erinnern, das Jim und Lukas im zweiten Band bauen, ein Fluggerät, das mithilfe von Magneten durch die Luft fliegen kann. Ich habe damals selbst mit zwei Magneten gespielt, und für mich war es ganz klar, dass sowas funktioniert und dass damit alle Umweltverschmutzungsprobleme gelöst wären! Lukas der Lokomotivführer hat mich ausserdem an meinen Opa erinnert, der eine wichtige Bezugsperson für mich war. Mein Opa hat über Menschen nie geurteilt. Ob schräg oder unfreundlich, er hat sie einfach so angenommen, wie sie sind. Und das macht Lukas auch. Selbst beim Anblick des zunächst bedrohlich wirkenden Scheinriesen Tur Tur, vor dem sich Jim erschreckt, bleibt Lukas gelassen und sagt: Bloss weil er gross ist, muss er noch lange kein Ungeheuer sein!
Wir zeigen Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer als Familienoper von der Komponistin Elena Kats-Chernin. Wie wird die Geschichte in dieser Version erzählt?
Die Oper erzählt die Geschichte ganz ähnlich, wie wir sie aus dem Buch kennen, wenn auch sehr gerafft. Jim und Lukas reisen ja mit der Lokomotive Emma durch die Welt. Alle wichtigen Stationen dieser Reise kommen in der Oper vor und kriegen durch die Musik jeweils eine besondere Atmosphäre. Einige Stationen sind in der Oper sogar etwas stärker ausgebaut als im Buch, etwa wenn die Lokomotive Emma zum Schiff wird und Jim und Lukas durch den Ozean nach Mandala reisen. Dort angekommen, entschliessen sie sich, die vermisste Prinzessin Li Si zu retten, und setzen ihre Reise fort durch den Tausendwunderwald, das Gestreifte Gebirge, die Wüste, das Tal der Dämmerung und das Land der Vulkane, bis sie schliesslich die Drachenstadt erreichen, wo Li Si gefangen gehalten wird...
Lauter attraktive Situationen für das Theater. Wie löst du diese Reise-Erzählung in deiner Inszenierung?
Uns war es wichtig, die Geschichte aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen. Michael Ende hat von sich selber einmal gesagt, dass er immer ein Stück weit das Kind geblieben sei, das er einmal war. Ich wollte die Geschichte daher so zeigen, als würde ein Kind sie gerade erfinden. Unsere Inszenierung beginnt deshalb mit dem Ort, wo Kinder oft spielen, nämlich mit einem leeren Fussboden. Auf diesem Boden wird die Handlung im eigentlichen Sinne des Wortes erspielt. Das Prinzip des Spielens erlaubt uns in der Wahl der Mittel grosse Freiheit. So zum Beispiel auch was die Lokomotive Emma betrifft. Wenn man das realistisch darstellen will, hat man immer diese riesige Lokomotive auf der Bühne, was ich ein bisschen einschränkend fand... Ich habe deshalb entschieden, alles aus dem Spiel heraus zu erzählen und neben den Darstellern auch mit Puppen, Figuren und Objekten sowie mit ganz verschiedenen Perspektiven zu arbeiten. Die Lokomotive Emma sehen wir zunächst als kleine Modell-Eisenbahn über die Insel Lummerland fahren, bevor sie später etwa die Grösse eines Haustiers hat und von den Darstellern bewegt werden kann. Es gibt also unterschiedlich grosse Versionen der Figuren, die es uns erlauben, magische Momente zu erzeugen und die Fantasiekraft, die wir aus Michael Endes Büchern kennen, auf die Theaterbühne zu übertragen. Bei den kleinen Versionen arbeiten wir natürlich mit einer Live-Kamera, die wie ein Vergrösserungsglas funktioniert, beispielsweise wenn die Lokomotive im Tausendwunderwald an riesigen Pilzen vorbeifährt, die in Wirklichkeit so klein sind wie ganz normale Pilze.
Ausgangspunkt der Reise ist Lummerland. Was ist das für ein Ort?
Lummerland ist eine sehr kleine Insel, auf der nur ein König, zwei Untertanen und Lukas der Lokomotivführer wohnen. Im Gegensatz zu Michael Endes Buch ist in der Oper auch Jim Knopf von Anfang an auf dieser Insel. Wie er dorthin gekommen ist, erfährt man hier erst später. Die Komposition von Elena Kats-Chernin beginnt mit dem Lummerland-Lied, in dem eine heile Welt besungen wird, in der «jeder Kummer unbekannt» ist. Ein solcher Ort, an dem immer alles toll und wunderbar ist, macht mich persönlich skeptisch. Vielleicht glauben die Lummerländer ja wirklich, dass bei ihnen alles in Ordnung ist. Sie wohnen ja auf einer Insel und haben gar keinen Vergleich. Ich habe aber das Gefühl, dass hinter dieser Fassade vielleicht auch etwas im Argen liegt. Darum ist es um so wichtiger, dass sich der König Sorgen macht. Er befürchtet, dass die Insel zu klein für alle sein wird, wenn Jim Knopf einmal erwachsen ist. Mit diesem Zweifel löst er die Abenteuerreise von Jim und Lukas aus und sorgt damit für Veränderung auf der Insel.
Eine wichtige Station der Reise ist Mandala, wo Jim und Lukas auf eine fremde Bevölkerung und deren Kaiser treffen. Michael Ende hat sich für diese Welt klar von China inspirieren lassen und dabei einige Klischees bemüht. Wie gehst du in deiner Inszenierung damit um?
Ich bin dankbar für den Namen Mandala, unter dem man sich etwas sehr Fantasievolles vorstellen kann. Im gesungenen Text heisst es auch, dass Mandala ein märchenhaftes Zauberland sei. Wenn man sich von Michael Endes China-Assoziationen und den Illustrationen, die man aus seinem Buch oder der Augsburger Puppenkiste kennt, freimacht, kommt man auf ganz neue Ideen, was das sein könnte. Die Musik von Elena Kats-Chernin hat in diesen Szenen zwar deutliche Anklänge an eine Tonalität, die man traditionellerweise mit der asiatischen Kultur verbindet, auch durch eine elektronische Geige und ein Akkordeon, die hier eingesetzt werden und zwei chinesischen Instrumenten nachempfunden sind. Auf der Bühne wollten wir diese Welt aber stärker abstrahieren und haben uns für eine Welt aus Papier entschieden. Auch diese Welt entsteht aus der Perspektive eines Kindes. Ausgehend von einem einzelnen Blatt Papier entsteht eine Mobile-artige Welt, die sich über die ganze Bühne ausbreitet.
Sind die Personen, die in Mandala auftreten, ebenfalls Teil dieser Welt?
Jede Station, die Jim und Lukas bereisen, hat ihre eigene Ästhetik, in die sich auch die Figuren einfügen. In Mandala setzen sich auch die Figuren aus papierartigen Materialien zusammen, zum Beispiel der quirlige Ping Pong, der ein bisschen aussieht, als wäre er gefaltet. In der trockenen Wüste kommen dann zwei Geier vor, die praktisch nur aus Haut und Knochen bestehen. Und für die Figuren der Drachenstadt haben wir wiederum ein anderes Material gewählt, das ebenfalls mit der Perspektive von Kindern zu tun hat: Die meisten Kinder fürchten sich ja vor Drachen. Und wir haben uns gefragt, wo diese Angst lokalisiert ist und wie sie sich zeigt. Bei Kindern kommt die Angst oft nachts und in den Albträumen. Deshalb sind unsere Drachen an die Ästhetik von Bettdecken angelehnt.
Die Figuren und Objekte in deiner Inszenierung müssen von den Darstellenden geführt werden. Für Sängerinnen und Sänger ist das nicht alltäglich. Wie lernen sie das?
Es ist für die Sängerinnen und Sänger tatsächlich eine besondere Herausforderung, sich neben dem Gesang auch noch auf das Führen von Figuren zu konzentrieren. Aber ich habe damit bereits viele gute Erfahrungen gemacht und weiss, dass es mit etwas Übung immer gelingt. Zu Beginn der Proben haben wir in einem Workshop viel experimentiert und probiert. Das hilft dabei, die Angst vor dieser Aufgabe zu verlieren. Ich finde sogar, dass dieser spielerische Aspekt einen positiven Einfluss auf die Bühnenpräsenz haben kann. Beim Puppenspiel ist der Fokus nicht so stark auf dem eigenen Körper wie bei einer klassischen Opernprobe. Die Darstellenden müssen sich hier viel stärker auf die Umgebung und die Figuren konzentrieren. Das hilft ihnen oft, stärker aus sich heraus zu kommen. Wir haben bei Jim Knopf aber auch fünf professionelle und virtuose Puppenspieler:innen dabei, die im Stück sehr stark präsent sind. Ausser Lukas, der oft die Lokomotive Emma führt, muss keine Sängerin und kein Sänger seine Puppe alleine führen. Sie werden immer von den Puppenspielern unterstützt.
Was gilt es beim Puppenspiel besonders zu beachten?
Puppe und Spieler müssen im Lauf des Probenprozesses ideal zusammenwachsen. Das bedeutet zunächst, dass eine Puppe so lange weiterentwickelt, verändert und angepasst werden muss, bis die Spieler:innen sie optimal führen können. Wir kaufen die Figuren ja nicht einfach. Sie werden geplant, gebaut und dann während den Proben immer weiter optimiert. Im klassischen Puppenspiel ist eigentlich das Material der Ausgangspunkt für alles. Puppenspieler versuchen sozusagen Material zum Leben zu erwecken, ihm einen Charakter und eine Geschichte zu geben. Bei der Oper ist es ein bisschen komplizierter: Hier ist bereits ein Stimmtypus und ein Charakter vorgegeben, zu dem wir das passende Material finden müssen. Im Moment des Puppenspiels ist es dann wichtig, dass die Darsteller nicht zu sehr als Schauspieler fungieren, sondern die Energie durch die Puppe fliessen lassen. «Energy flows where focus goes» ist eine ganz einfache Regel des Puppenspiels. Dort wo man hinschaut, geht der Fokus hin, und dorthin lenkt man auch die Blicke des Publikums.
Wie sind die Puppen für diese Produktion entstanden?
Das war ein sehr langer Prozess. Zuerst habe ich zusammen mit der Ausstatterin Elisa Alessi über Charaktere nachgedacht und erste Entwürfe gemacht. Das ist eine komplexe Denkarbeit, weil man dabei auch schon genau berechnen muss, wie viele Puppenspielerhände wann und wo eingesetzt werden müssen. Der Torwächter in Mandala, der ein riesiges Gesicht hat, erfordert zum Beispiel alleine schon vier Spieler. Im nächsten Schritt ging es darum, diese Charaktere in Einklang mit dem Bühnenbild zu bringen, also die Ästhetik und die Materialien zu definieren. Und schliesslich geht es dann um die Mechanik, mit der die Puppen geführt und bewegt werden. An diesem Punkt sind wir mit unseren Ideen und Entwürfen zu dem Puppenbauer Jan Vágner und zu Andreas Gatzka und der Theaterplastik-Abteilung im Opernhaus gegangen, die die Puppen und die komplexen mechanischen Strukturen dann ertüftelt und in die Tat umgesetzt haben. Elisa und ich haben auch in dieser Phase eng mit den Werkstätten zusammengearbeitet, weil Elisa die Stoffe für die Kostüme auswählt und mir selbst der Ausdruck der Figuren sehr wichtig ist. Da bin ich sehr detailversessen und will dann beispielsweise, dass ein Geier ein bisschen schielt und der andere eine Brille hat...
Die beiden Autorinnen Julia Voss und Asal Dardan, mit denen ich für die folgenden Seiten dieses Magazins gesprochen habe, sehen in Michael Endes Erzählung viele Aspekte, die vor allem aus der Sicht von Erwachsenen interessant sind. Julia Voss hat beispielsweise entdeckt, dass Michael Ende darin auf historische Ereignisse reagiert. Warum ist diese Oper aus deiner Sicht auch für Kinder geeignet?
Michael Ende hat selber gesagt, dass er gar nicht explizit für Kinder geschrieben hat. Aber die richtig guten Geschichten eignen sich in der Regel für alle Altersklassen. Das ist ja beispielsweise auch bei den Märchen so. Und bei Jim Knopf ist das meiner Meinung nach auch der Fall. Ich glaube, dass die Kinder in dieser Oper von den Fantasiewelten begeistert sein werden, die wir kreieren. Und vielleicht kommt der eine oder andere Erwachsene bei dem Schild «Der Eintritt ist reinrassigen Drachen bei Todesstrafe verboten», das wir ganz subtil in die Inszenierung einfliessen lassen, ins Grübeln, oder wundert sich, warum alle Lummerländer aussehen, als wären sie von Burberry eingekleidet worden. Über diese historischen Bezüge, die Julia Voss in ihrem Buch Darwins Jim Knopf beschreibt, denkt natürlich kein Kind nach, aber wir versuchen in dieser Familienoper auch, den Erwachsenen ein paar Denkanregungen mitzugeben.
Das Gespräch führte Fabio Dietsche.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 106, Oktober 2023.
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