Diskriminierung ist leider nicht historisch, sondern gegenwärtig

In Michael Endes Jim Knopf kommt ein Schwarzer Junge per Post auf einer Insel an und erforscht das Geheimnis seiner Herkunft. Die Autorinnen Julia Voss und Asal Dardan über die historischen Hintergründe und die Frage, ob sich das Buch für Kinder von heute eignet.

Julia Voss, Sie haben unter dem überraschenden Titel Darwins Jim Knopf ein Buch über Michael Endes Bestseller geschrieben. Was hat Darwin mit Jim Knopf zu tun?
Julia Voss: Ich hatte mich anlässlich meiner Doktorarbeit mit Charles Darwin und der Evolutionstheorie beschäftigt. Dabei habe ich entdeckt, dass ein Kind, das mit Darwins Biografie verknüpft ist, die Schlüsselfigur für Michael Endes Jim Knopf ist: Darwin hat von 1831 bis 1836 die Welt umsegelt und war auf dem gleichen Schiff wie ein Junge, der aus dem südamerikanischen Feuerland nach England mitgenommen worden war, um dort zum Engländer erzogen zu werden. Heute würden wir von einer Entführung sprechen. Dieser Junge hiess Jemmy Button. Als ich später eine Biografie über diesen Jungen mit dem Titel Der Mann, der für einen Knopf verkauft wurde in einer Buchhandlung entdeckte und Jim Knopf noch einmal las, bin ich auf so viele Parallelen – etwa zwischen dem fiktiven Lummerland und dem England des 19. Jahrhunderts – gestossen, dass es unmöglich ein Zufall sein kann.

Asal Dardan, Sie haben einen Text zu Jim Knopf verfasst, der unlängst im Band Canceln – Ein notwendiger Streit erschienen ist. Warum haben Sie sich für diesen Stoff interessiert?
Asal Dardan: Ich wurde für diesen Band angefragt und habe zuerst gezögert, weil mich der Begriff «Canceln», so wie er im Moment diskutiert wird, wenig interessiert. Ich habe mich damals aber mit Kinderbuchautorinnen und -autoren beschäftigt, die ihre eigene Kindheit während des Zweiten Weltkriegs erlebt haben, darunter auch mit Michael Ende, der für mich als Kind der prägendste Autor war. Daher fand ich es interessant, im Zuge des aktuellen Diskurses, der oft auch Kulturkampf genannt wird, meine eigenen Vorstellungen von Jim Knopf noch einmal wohlwollend und zugewandt abzuklopfen und zu überprüfen. Dazu kommt mein generelles Interesse für afrodeutsche Diskurse und Publikationen. Das Buch von Julia Voss war dabei ebenfalls eine wichtige Quelle. Allerdings bin ich in manchen Punkten anderer Ansicht.

«Michael Ende hat in diesem Buch seine Kindheitserfahrungen im Nationalsozialismus verarbeitet.»

Wie ist Michael Ende auf den historischen Jemmy Button gestossen?
Julia Voss: Ich habe mich gefragt, welche Quelle er für sein Buch gehabt haben könnte. Dass er Darwins Reisebericht gelesen hat, erschien mir unwahrscheinlich. Bei der Recherche bin ich auf das Buch Jemmy Button von Benjamin Subercaseaux gestossen, das Ende gekannt haben muss. Es stammt aus den 1950er-Jahren und beschreibt das Schicksal dieses Jungen umfangreicher und kritischer als Darwins Reisebericht. Subercaseaux erzählt, dass Jemmy Button entführt wurde und in England Gewalt und Diskriminierung erlebt hat. Ausserdem hat mich interessiert, warum aus diesem Feuerländer in der Fiktion ein Schwarzer Junge wird. Dabei bin ich auf antirassistische Debatten gestossen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland in Bezug auf die Kinder von Schwarzen amerikanischen Soldaten geführt wurden. Ich glaube, dass Michael Ende auch darauf reagiert hat. Mit dem historischen Vorbild und den Schwarzen Kindern der Nachkriegszeit überlagern sich also zwei Themenfelder.
Asal Dardan: Mir ist es wichtig zu ergänzen, dass die Geschichte von Afrodeutschen nicht erst mit den amerikanischen Soldaten im 20. Jahrhundert begonnen hat, sondern viel älter ist. Diese oft gewaltvolle Geschichte sollten wir nicht ausblenden, wenn wir über die Darstellung von Schwarzen Menschen aus deutscher Sicht sprechen.

Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist in Jim Knopf allerdings ganz besonders präsent...
Julia Voss: Ich weiss gar nicht, wie man das so lange überlesen konnte! Die Stadt Kummerland, in die sich Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer aufmachen, um die Prinzessin Li Si zu befreien, wird von Drachen beherrscht. Am Eingang ist ein Schild angebracht, auf dem zu lesen ist: «Der Eintritt ist nicht reinrassigen Drachen bei Todesstrafe verboten», und aus der Stadt heraus raucht es wie aus einem Ofenloch. Das ist natürlich voller Referenzen zur schrecklichsten deutschen Geschichte. Ich habe mich daraufhin näher mit Michael Endes Kindheit beschäftigt. Er wurde 1929 geboren und hat in der Schule die schlimmste Phase der nationalsozialistischen Erziehung erlebt. Das ist die Indoktrination, die Ende durchlaufen hat, und gegen die er dann versucht hat anzuschreiben. Insofern ist Jim Knopf voller Gegengeschichten: Michael Ende stellt den Mythos von Siegfried, dem Drachentöter, den die Nazis instrumentalisiert haben, auf den Kopf. Bei ihm verkörpern die Drachen die Nazis und werden von Jim und Lukas überwunden. Ausserdem treffen Jim und Lukas auf den Halbdrachen Nepomuk, der ausdrücklich daran leidet, dass er nicht «reinrassig» ist. Im Lauf ihrer Reise – vor allem im zweiten Band – begegnen sie immer weiteren Wesen, die nicht «der Norm entsprechen» und am Ende im Königreich Jimballa zusammenleben.

Eine integrative und ins Positive gewendete Erzählung, so scheint es. Den Bezug zwischen dem Feuerländer Jemmy und dem Schwarzen Jim sehen Sie aber kritisch, Asal Dardan. Was stört sie daran?
Asal Dardan: Mich stört dieser undifferenzierte Umgang mit der Herkunft eines Menschen. Dieser Vorgang bekräftigt die koloniale Erzählung, dass solche Menschen «keine Geschichte» hatten, bevor die Weissen angekommen sind, um ihnen Namen und Bildung zu geben. Es macht eben einen grossen Unterschied, ob jemand aus Feuerland kommt oder aus einem afrikanischen Land – alleine wegen der Art und Weise, wie diese Menschen auf dem amerikanischen Kontinent gelandet sind, nämlich die einen als Ureinwohner und die anderen als versklavte Menschen. Natürlich ist man in der ästhetischen Arbeit frei, und ich will Michael Ende auch nicht vorwerfen, dass er so vorgegangen ist. Aber ich glaube, in der Analyse dieses Textes spielt es eine Rolle.

«Mich stört dieser undifferenzierte Umgang mit der Herkunft eines Menschen.»

Julia Voss, Sie betonen Michael Endes erzählerische Fantasie besonders, die es erlaubt, «die Welt neu zu denken». Ist das nicht genau die Art von Erzählung, die wir und unsere Kinder heute dringend benötigen?
Julia Voss: Michael Ende hat sich natürlich die Frage gestellt, wie das Leben nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust weitergehen kann. Seiner Meinung nach war es die Kunst, die eine Gegenwirklichkeit dazu schaffen kann. Er hat sich ja nicht als Autor gesehen, der explizit für Kinder schreibt. Er hat für alle Altersgruppen geschrieben und war der Ansicht, dass das Erzählen noch einmal auf einer anderen Schicht wirksam ist, als es der intellektuelle Diskurs sein kann. Daran hat er so stark geglaubt, dass er sich auch nie darauf eingelassen hat, seine Geschichten zu erklären. Wir sollten hier aber unterscheiden, welche Fragen wir beantworten wollen. Die Frage, ob sich Jim Knopf dafür eignet, in Kindergärten vorgelesen zu werden, hat nichts damit zu tun, dass Michael Ende in diesem Buch seine Kindheitserfahrungen im Nationalsozialismus verarbeitet hat. Wenn Kinder heute negative Erfahrungen mit diesem Buch machen, dann ist das für mich das wichtigere Thema als mein historisches Interesse an diesem Stoff.
Asal Dardan: Ich finde diese Differenzierung zwischen der Intention des Autors und der Wirkung des Buches in einer anderen Zeit sehr wichtig. Es stellt sich ja auch die Frage, ob Autoren immer in der Lage sind, dominante Denkmuster aufzuspüren, in denen sie selber aufgewachsen sind. Gestern habe ich zufällig im Radio gehört, dass Michael Ende in seinem Wunschpunsch und in Momo antisemitische Muster aufgreift – und trotzdem hoffe ich nicht, dass ihn jemand einen Antisemiten nennen würde. Natürlich finde ich Jim Knopf eine fantasievolle und lustige Geschichte. Und es berührt mich, dass Michael Ende darin seine Kindheit verarbeitet hat. Aber diese Glorifizierung von etwas, mit dem wir selber aufgewachsen sind, finde ich fehl am Platz. Es werden heute auch neue Kinderbücher geschrieben, und ich finde, es muss um die Kinder von heute gehen! Bei Jim Knopf ist für mich nicht einmal nur der Rassismus ein Problem, sondern gerade auch der Sexismus. Ich glaube nicht, dass ich meinen Kindern dieses Buch vorlesen möchte, allein schon wegen dieser Rollenbilder einer porzellanpuppenhaften Prinzessin und eines Schwarzen Jungen, die als Kinder verlobt und verheiratet werden. Und Li Si kriegt dazu noch ein Rubbelbrett zum Wäschewaschen und einen Haushaltskurs geschenkt... Ich möchte einfach hinterfragen, wem diese Nostalgie gilt, an der wir da festhalten, und ob die wirklich im Sinne von Kindern von heute ist.
Julia Voss: Diese Nostalgie finde ich einen sehr wichtigen Punkt. Ich weiss nicht, warum sich viele Erwachsene so sehnlichst wünschen, dass ihre Kinder genau die Kinderbücher hören, die sie selbst als Kinder vorgelesen bekommen haben. Ich erinnere mich nicht, dass meine Eltern mir ihre eigenen «Klassiker» vorgelesen hätten, und würde auch sagen: Es ist wünschenswert, dass Kinder neue Bücher vorgelesen bekommen. Im 20. Jahrhundert wurde so viel gesammelt, historisch aufgearbeitet und institutionalisiert, dass wir vielleicht langsam an die Grenzen dessen stossen, was historisch bewahrt werden soll.

In Jim Knopf werden kulturelle Unterschiede oft überzeichnet und vereinfacht dargestellt. Neben den Hautfarben von Jim und Lukas gibt es dafür auch zahlreiche Beispiele im Text: Gleich zu Beginn wird Lummerland etwa mit anderen «Ländern» wie Deutschland oder «Afrika» verglichen. Im Fantasieland Mandala – das ursprünglich China hiess – fällt es Jim schwer, die Leute «auseinanderzuhalten». Der britische Soziologe Stuart Hall sagt, dass sich die Komplexität des rassistischen Diskurses gerade am Beispiel solcher vereinfachenden Differenzierung deutlich zeigt. Vor diesem Hintergrund frage ich mich: Müssen wir uns heute genau an diesen Beispielen abarbeiten, oder sollen wir sie «canceln»?
Asal Dardan: Natürlich sollen wir uns an Büchern wie Jim Knopf abarbeiten, aber gleichzeitig finde ich es kein bereicherndes Kinderbuch, weil Kinderliteratur in erster Linie unterhalten, inspirieren, beflügeln und Freude machen soll. Wenn ich einem Schwarzen Kind dieses Buch vorlese, dann konfrontiere ich es mit Diskriminierung, der es leider noch immer im Alltag begegnet. Man kann ja nicht sagen: So war das damals, schau dir das an! Diskriminierung ist leider nicht historisch, sondern gegenwärtig. Ich würde es allen Kindern, die mit deutscher Kinderliteratur aufwachsen, wünschen, dass sich ihre Imagination frei entfalten darf, ohne dass wir ihnen unsere Diskurse aufzwingen. Wir Erwachsenen hingegen sollten uns natürlich kritisch damit auseinandersetzen und überlegen, was wir im Umgang miteinander noch besser machen können.
Julia Voss: Das sehe ich genauso. Beim Wort «canceln» verspüre ich ein gewisses Unbehagen, weil damit eine Realität behauptet wird, die so gar nicht existiert. Jim Knopf wird ja verkauft, verfilmt, bei Ihnen auf die Bühne gebracht, bestimmt auch vorgelesen – und ich habe auch keine einzige Stimme gehört, die verlangt, dass dieses Buch nicht mehr verbreitet werden soll. Kritisch diskutiert wird die Frage, wie das Buch in Kitas oder Kindergärten ankommt.
Asal Dardan: Was im Raum steht, ist ein sehr eng gefasstes Bild von dem, was ein deutsches Kind ist, oder wer sich in solchen Texten überhaupt wiederfinden darf. Ich plädiere deshalb immer dafür, das gemeinschaftliche «Wir» als eine Praxis zu sehen, als einen Umgang miteinander, der immer wieder neu bestimmt werden muss. In einem Raum, in dem das «Wir» ein nicht endender Aushandlungsprozess auf Augenhöhe ist, geht es gar nicht darum, mit autoritärer Geste ein Buch zu «canceln», sondern eher um die Frage: Wie sehr finden wir uns darin wieder? Ich mag es überhaupt nicht, wie der «Cancel»-Begriff im heutigen feuilletonistischen Diskurs benutzt wird, und finde es auch ein bisschen grotesk – und das führt uns wieder zum Inhalt von Jim Knopf zurück –, in Deutschland, wo Bücher verbrannt wurden, und wo man versucht hat, kulturelles Erbe auszulöschen, gleich von «canceln» zu sprechen, nur weil man etwas gesellschaftlich einordnen möchte.

«Ich finde es grotesk, gleich von ‹canceln› zu sprechen, nur weil man etwas gesellschaftlich einordnen möchte.»

Julia Voss: Es gibt diese grosse Fallhöhe, die auch mit der angesprochenen Nostalgie zu tun hat, dass ein liebgewonnenes Buch nun plötzlich im Verdacht steht, problematische Inhalte zu haben. Ich kann verstehen, dass dies Abwehrreaktionen hervorruft. Aber ich finde, wir sollten darüber ins Gespräch kommen. Was man von so einer Geschichte in Erinnerung hat, ist ja nicht unbedingt das, worüber man heute aus einer Erwachsenensicht stolpert.
Asal Dardan: Die Perspektiven können auch nicht immer auf einen Nenner gebracht werden. Für mich ist es selbstverständlich, dass ich nicht in einer Gesellschaft leben möchte, in der gewisse Kinder immer wieder Verletzungen ausgesetzt werden, die vermeidbar wären. Ich fühle mich nicht gegängelt, wenn ich heute auf gewisse Begriffe oder Darstellungen verzichten muss.
Julia Voss: Und vielleicht hat das sogar Michael Ende selbst beschäftigt. Momo ist das einzige Buch, das er selber illustriert hat, und er hat dabei die sehr interessante Entscheidung getroffen, Momo nur von hinten zu zeigen. Wir kennen das Gesicht von Momo nicht, und man kann sie deshalb auch nicht so leicht in eine Schublade stecken.

Eine herausragende Figur in Jim Knopf ist Herr Tur Tur, der Scheinriese, der selber gegen jedes Naturgesetz verstösst und beim Näherkommen immer kleiner wird. Michael Ende lässt ihn sagen: «Eine Menge Menschen haben doch irgendwelche besonderen Eigenschaften. Herr Knopf zum Beispiel hat eine schwarze Haut. So ist er von Natur aus und dabei ist weiter nichts Seltsames, nicht wahr? Warum soll man nicht schwarz sein? Aber so denken leider die meisten Leute nicht». Ist das ein antirassistisches Statement?
Julia Voss: In dieser Passage zeigt sich sehr deutlich, dass Michael Ende dieses Buch für eine Gesellschaft geschrieben hat, die noch ganz stark in den Nationalsozialismus verstrickt war, und dass er selber gegen dessen Rasseideologien angeschrieben hat. Gleichzeitig ist es natürlich quälend für Leute, die heute leben und nicht direkt vom Nationalsozialismus geprägt sind, dass dieser eigentlich selbstverständliche Sachverhalt noch einmal so ausgeführt wird. Ich glaube, das ist die Krux bei diesem Buch.

Asal Dardan, in Ihrem Essay schliessen Sie mit der Frage, warum man Jim Knopf überhaupt noch lesen soll, wenn man sich eine pluralistische Gesellschaft wünscht, in der Kinder «als Gleiche» ins Leben geschickt werden sollen. Hannah Arendt schreibt: «Als Gleiche sind wir nicht geboren. Gleiche werden wir als Mitglieder einer Gruppe erst kraft unserer Entscheidung, uns gegenseitig gleiche Rechte zu garantieren». Ist Michael Endes Erzählung, die im zweiten Band damit endet, dass alle Menschen unter einer Regenbogenflagge friedlich zusammenleben, nicht gerade ein Versuch, ein solches Narrativ zu stiften?
Asal Dardan: Sie haben zuvor Stuart Hall genannt. Besonders erhellend finde ich bei ihm, dass er Identität immer als etwas Fluides beschrieben hat – und darum sträube ich mich gegen eine Darstellung, in der die von Jim und Lukas geretteten Kinder mit rassistischen Begriffen bezeichnet werden und am liebsten Walfischschnitten oder Büffelscheiben essen... Das ist ein Blick auf Pluralität, bei dem es immer die Einen und die Anderen gibt. Wenn ich «gleich» sage, dann meine ich trotzdem nicht fabrikgemachte gleiche Menschen, sondern demokratische Subjekte auf Augenhöhe. Ethnische und völkische Zuschreibungen gefallen mir in diesem Zusammenhang nicht. Persönlich verstehe ich mich je nach Kontext beispielsweise mal als Frau, mal als im Iran Geborene, mal als deutsche Autorin… Es gibt unterschiedliche Identitäten, die ein Mensch abdeckt, und es ist wichtig, dass er dies selber definieren kann. Das ist für mich das Demokratische, und nicht, dass Andere im gleichen Raum existieren dürfen.

Und schliesslich müsste man sich auch hier wieder fragen, was eigentlich ein Kind aus so einer Erzählung mitnimmt...
Asal Dardan: Ich glaube, dass Kinder grundsätzlich einen Drang haben, miteinander auszukommen und frei und gleich miteinander zu spielen und zu leben. Ich habe es bei meinen Kindern gut miterleben können, wie sie nach und nach bestimmte Differenzierungen mitgekriegt haben, die für sie vorher keine Rolle spielten. Anfangs konnten sie sich nicht merken, ob ich aus Italien oder Iran komme. Es war ein Land mit I. Heute, mit acht und zwölf Jahren, wissen sie schon sehr genau, dass ihre Mutter teilweise anders wahrgenommen wird und wo der Unterschied liegt. Einer meiner Söhne sieht aus, wie Schweden so dargestellt werden, blond und blauäugig. Der andere kommt nach mir. Mir wird jedes Mal sehr schwer ums Herz, wenn ich daran denke, dass ich sie wohl anders auf die Gesellschaft vorbereiten muss, weil sie von ihr anders wahrgenommen werden könnten. Sehr wahrscheinlich sogar anders. Ich denke dabei auch an den Anschlag in Hanau, bei dem im Februar 2020 neun Menschen aus rassistischen Gründen getötet worden sind. Ist das gerecht? Ist das einer Demokratie würdig?

Das Gespräch führte Fabio Dietsche


Asal Dardan ist Kulturwissenschaftlerin und freie Autorin. 2021 erschien ihr Essayband «Betrachtungen einer Barbarin», der im selben Jahr für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert wurde.

Julia Voss ist Kunst- und Wissenschaftshistorikerin. Ihr Buch «Darwins Jim Knopf» stammt aus dem Jahr 2009. Zuletzt hat sie 2020 die Biografie «Hilma af Klint – Die Menschheit in Erstaunen versetzen» veröffentlicht.


Dieser Artikel ist erschienen in MAG 106, Oktober 2023.
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