Dass in der Natur alles mit allem zusammenhängt und kleinste Eingriffe in ein natürliches Gleichgewicht grosse Wirkungen auslösen können, beschreibt der Terminus «Butterfly Effect». Ein Begriff, der ursprünglich aus der Meteorologie stammt und von der Annahme ausgeht, der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien könne in einem anderen Teil der Welt einen Tornado verursachen. Der Gedanke spielt in den Diskussionen um schmelzende Polkappen, steigende Meeresspiegel, zunehmende Dürren und Überschwemmungskatastrophen eine wichtige Rolle.
Das Thema liegt in der Luft, als Ballettdirektorin Cathy Marston – auf der Suche nach einem neuen Projekt für das Junior Ballett – vor zwei Jahren auf den ETH-Zukunftsforscher Chris Luebkeman trifft. Seit vielen Jahren engagiert er sich im Climate Music Project, das Musiker, Komponisten und Klimawissenschaftler zusammenbringt, um das Phänomen der globalen Bedrohung durch den Klimawandel durch Musik zu vermitteln. Vielleicht sogar auch durch Tanz? Cathy Marston und Chris Luebkeman sind begeistert von der Idee, Türen zu öffnen für Herz und Verstand und Informationen zu vermitteln, die den ganzen Körper ansprechen.
«Eine Ballett-Aufführung löst Emotionen aus. Man kann weinen, lachen, fühlen», sagt Luebkeman. «Das ist gerade beim Thema ‹Klimawandel› wichtig, denn es gibt vieles, worüber man traurig sein kann.» Und Cathy Marston ergänzt: «Ein Ballett oder ein Konzert zu besuchen, hat eine kathartische Wirkung. Man kann sich befreien und loslassen. Tanz und Musik bieten Raum, Blockaden zu lösen.» Beiden ist es wichtig, in ihrem gemeinsamen Projekt eine Botschaft der Hoffnung und des Mutes zu vermitteln – und nicht von Hoffnung und Resignation. Was kann ich tun, um einen Unterschied zu machen? Wie kann ich dazu beitragen, dass sich etwas verändert? Dass der Flügelschlag eines Schmetterlings die Welt bewegen kann, ist ein hoffnungsvoller Gedanke, der nun unter dem Titel The Butterfly Effect die drei Stücke des neuen Junior Ballett-Abends miteinander vereint.
Nach Abschluss ihrer Tanzausbildung an den renommiertesten Ballettschulen haben vierzehn Tänzerinnen und Tänzer aus der ganzen Welt im Junior Ballett ihr erstes, zwei Jahre dauerndes Engagement, das ihnen den Eintritt ins Berufsleben erleichtern soll. Gemeinsam mit den Mitgliedern des Balletts Zürich tanzen sie in vielen Aufführungen des Repertoires, beim Butterfly Effect stehen sie nun jedoch ganz allein im Rampenlicht. Von Anfang an war es Cathy Marston wichtig, selbst für die Junior Compagnie zu choreografieren. Mit dem britisch-türkischen Choreografen Ihsan Rustem und dem Brasilianer Lucas Valente aus dem Ballett Zürich hat sie zudem zwei Vertreter einer jüngeren Choreografengeneration eingeladen, die in der Welt des Contemporary Dance verwurzelt sind.
In der Villa Hatt am Zürichberg treffen sich Ende Juni 2024 Klimawissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit dem Kreativteam des Balletts Zürich zu einem zweitägigen Workshop. Neueste Forschungsergebnisse werden präsentiert, beängstigende Statistiken vorgestellt und einschüchternde Klimadiagramme erläutert. Daneben ist immer wieder Zeit für inspirierende Dialoge und viel Raum für Kontemplation und tieferes Eintauchen in die facettenreiche Thematik. Doch die freundschaftlich-harmonische Atmosphäre dieses Arbeitstreffens lässt keinen Zweifel: Es ist fünf NACH zwölf! Wir wollen, wir müssen etwas tun!
Doch wie lassen sich wissenschaftliche Erkenntnisse choreografisch veranschaulichen? Cathy Marston ist klar: «Wir können Statistiken nicht durch Bewegung ausdrücken – Tanz spricht die Emotionen an. Deshalb sehe ich meine Aufgabe darin, Aspekte aus all den erhaltenen Informationen in etwas Emotionales zu übersetzen.» Und auch Chris Luebkeman betont, welche Kraft in der emotionalen Antwort auf die wissenschaftlichen Informationen und Daten liegt, und Tanz durchaus das Bewusstsein für so komplexe Themen wie den Klimawandel schärfen kann. Entscheidend sei es, «unterschiedliche Zugänge zu schaffen, um möglichst viele Menschen zu erreichen, denn jede und jeder nimmt Informationen anders auf. Manche bevorzugen Zahlen und Fakten, andere visuelle Darstellungen, und wieder andere sprechen auf Kunst an. Tanz und Ballett bieten dabei eine besondere Möglichkeit, Menschen zu erreichen, die vielleicht nicht an einer wissenschaftlichen Vorlesung der ETH teilnehmen würden.»
Inzwischen sind die Tänzerinnen und Tänzer des Junior Balletts längst tief in die Welten der Choreografien von Cathy Marston, Lucas Valente und Ihsan Rustem eingetaucht. Die Proben laufen auf Hochtouren, und man kann ahnen, wie sich die drei Stücke bei aller Verschiedenheit in Thematik und choreografischem Ansatz dennoch zu einem organischen Ganzen verbinden. Mehr noch: Für die Kostüme ist Louise Flanagan auf der Suche nach nachhaltigen, recycelbaren Stoffalternativen, die in der Herstellung möglichst wenige natürliche Ressourcen beanspruchen. Jörg Zielinski, Ausstattungsleiter am Opernhaus Zürich, betont, dass sich auch mit wenig Materialeinsatz grosse visuelle und szenische Effekte erreichen lassen: «Nachhaltigkeit bezieht sich nicht nur auf die Auswahl von Materialien, sondern es geht immer auch um möglichst einfache Lösungen für Transport, Lagerung, Handhabbarkeit und Personaleinsatz. Im Idealfall soll ein Bühnenbild in einen Koffer passen!»
Cathy Marston, «A Question of Time»
«Im Nachklang unseres Austausches mit den Klimawissenschaftlerinnen und -wisssenschaftlern der ETH Zürich ist mir bewusst geworden, welch kostbare Ressource die Zeit ist, wie sie uns entrinnt und wie sorglos wir meist mit ihr umgehen. Wie würde sich unser Leben ändern, wenn wir es nicht so eilig hätten, von einem Ort zum anderen zu kommen oder auch nur ein paar Termine weniger in unseren Tag hineinzustopfen. Wie viel bewusster, gesünder und entspannter könnten wir leben! Schon lange beschäftigt mich ein Stück des holländischen Komponisten Louis Andriessen mit dem schönen Titel De Snelheid (Die Geschwindigkeit). Es ist ein sehr rhythmisches Stück, das in seiner steigenden Intensität den zunehmenden Zeitdruck symbolisiert. Eine Entwicklung, die es auch im klassischen Ballett gibt, wo die anfänglich graziösen und weichen Bewegungen mit der Zeit immer extremer und anspruchsvoller geworden sind. Ein Echo unserer geradezu explodierenden Zeit, dem ich als choreografischen Kontrast Charles Ives’ zeitlose und in stille Weiten führende Komposition The Unanswered Question als ein Symbol der Hoffnung an die Seite stelle.»
Lucas Valente, «Point of No Return»
«Bleibt uns noch Zeit, die Welt zu retten? Die Prognosen sind düster, aber auch nicht völlig hoffnungslos. Wie sähe die Welt aus, nachdem wir jenen imaginären «Point of No Return» überschritten haben, jene kritische Schwelle, an der Veränderungen in unserer Umwelt unumkehrbar werden? Gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern des Junior Balletts gehe ich dieser Frage in meiner Choreografie am Beispiel der vier Jahreszeiten nach. In vier Teilen versucht mein Stück, nicht nur zu erkunden, wie die einzelnen Jahreszeiten aussehen, sondern vor allem, wie sie sich anfühlen würden. Der Sommer mit Hitzewellen und Waldbränden, der sich in intensiven und chaotischen Bewegungen spiegelt. Die Stürme und Regenfälle des Herbstes, die jede geordnete Struktur zerstören. Der Winter mit seiner Leere und seiner ein Gefühl des Verlusts auslösenden Stille. Und schliesslich der Frühling als zartes Wiedererwachen und seiner Kraft zur Erneuerung. Eine Botschaft der Hoffnung, in der ein zartes Duett für die zerbrechliche Beziehung der Menschen und unseres Planeten steht.»
Ihsan Rustem, «What if?»
«In Texten des persischen Mystikers und Dichters Rumi aus dem 13. Jahrhundert fand ich die Wurzeln für mein Stück, das das bedrohte Gleichgewicht der menschlichen Existenz in den Fokus nimmt: «Setz dich! Sei still und hör zu! Weil du betrunken bist und wir am Rande des Daches stehen. Vergiss Sicherheit! Lebe dort, wo du Angst hast zu leben!» Rumis Worte ermutigen uns, innezuhalten, nachzudenken und bewusst zu handeln – eine Botschaft, der ich in der heutigen Welt der Ungewissheit einen breiten Widerhall wünsche. Wie können wir in unsere von Ego und Gier geprägte Welt eine Vision der Hoffnung senden? Meine Choreografie durchläuft vier verschiedene, aber miteinander verbundene Phasen. Mit den Tänzerinnen und Tänzern des Junior Balletts habe ich zwei Zukunftsvisionen erarbeitet. Was ist nötig, um von einer apokalyptischen Bedrohung zu einer neuen Vision von Freiheit zu gelangen? «What if?» – Was wäre, wenn jeder von uns ein bisschen weniger egoistisch wäre, die Folgen seines Handels bedenken oder einfach mal über den eigenen Tellerrand hinausschauen würde? Tatsächlich verfügen wir über das Potenzial für tiefgreifende Veränderungen. Jeder noch so kleine Schritt führt in die richtige Richtung.»
Text von Michael Küster
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 118, Januar 2025.
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