Dieser Artikel erschien im Februar 2017.
Wie man es auch dreht und wendet, es ist und bleibt ein höchst unerfreulicher, schlimmer Vorgang: Der adlige Herr schnappt dem armen und wehrlosen Bauern die Frau weg, und zwar ausgerechnet am Tag der Hochzeit. Er verspricht ihr goldene Berge, überzeugt sie von seiner Aufrichtigkeit und lädt sie schliesslich auf sein Schloss ein, wo er bei ihr zum Zuge zu kommen hofft. Aber wie ist das möglich? Wie kann es sein, dass Zerlina, die ihren Bräutigam doch sehr zu lieben scheint, auf diesen Herrn hereinfällt? Sie ist keineswegs dumm oder naiv. Also kann sie doch nicht glauben, dass er sein Versprechen, sie zu heiraten, ernst meint. Wieso fällt sie trotzdem auf ihn herein und setzt ihr Lebensglück mit Masetto aufs Spiel?
Sie fällt auf ihn herein wie alle Frauen, die diesem Mann nicht widerstehen können, weil … sie Frauen sind. Woher seine faszinierende Wirkung rührt, zeigt uns Mozarts Musik. Es ist nicht nur Giovannis Fähigkeit, sich auf jede Frau, die er begehrt (und er begehrt sie alle), perfekt einzustellen, sodass seine Musik immer genau den Ton trifft, von dem sie sich ganz direkt angesprochen fühlt, der ihr das Gefühl gibt, dass sie gemeint ist, dass sie die Frau ist, nach der er sich immer gesehnt hat. Giovannis Geheimnis ist, dass er in diesen Situationen nicht lügt. Er verstellt sich nicht, spielt keine ihm eigentlich fremde Rolle, sondern er meint tatsächlich diese Frau, die in diesem Moment für ihn wirklich die einzige ist, die er in diesem Moment wirklich und mit seiner ganzen Existenz liebt. Damit gewinnt er selbst die gewitzte Zerlina, wenn auch nur für einen Moment, denn kaum dass er sie allein lässt, ist auch der Traum von der grossen Liebe ihrem nüchternen Realitätssinn gewichen.
Das ist der Vorgang, wie er in Da Pontes Libretto festgehalten ist. Mozarts Komposition verleiht ihm aber durch eine überraschende Wendung eine Dimension, die weit über die lustspielhafte Anekdote hinausgeht. Im ersten Teil des kleinen Verführungsduetts Là ci darem la mano hat Giovanni musikalisch durchgehend die Führung: Es ist sein Begehren, das die Situation und den Fortgang des Geschehens bestimmt, Zerlina kann nur auf ihn reagieren und scheint ihm mehr und mehr willenlos ausgeliefert zu sein. Die melodische Linie im 4/4-Takt, die er anstimmt, hat bei aller Eleganz einen volkstümlichen, schlichten Tonfall, auf den Zerlina problemlos eingehen kann. Die Linie ist flexibel genug, um das zunehmend leidenschaftliche Werben gestalten zu können, bis zu dem Punkt, wo Zerlina nachgibt.
Und in diesem Moment geschieht ein Wunder: Die Taktart wechselt in einen schwingenden 6/8-Takt, das Tempo beschleunigt sich, und beide Stimmen finden sich zu einem innigen Zwiegesang, vornehmlich in einfachen Terzparallelen. Es ist eine Musik von so schwebender Leichtigkeit und träumerischer Heiterkeit, als hätten die beiden mit diesem Taktwechsel ein irdisches Paradies betreten, in dem es keine Standesunterschiede, keine Konventionen und Regeln mehr gibt, in dem keine Angst ist und kein Betrug, in dem es nichts gibt als die Kraft der Liebe, die sie beide in zeitloser Seligkeit vereinigt. Die Musik verklingt mit einem kecken Tänzchen – ein letzter, unter Tränen lächelnder Blick zurück auf einen so flüchtigen Moment, der doch für immer die Erinnerung lohnen wird, denn es war ein Augenblick des Glücks. Und dieses Glück wird bleiben, was immer die Zukunft bringen mag, denn die Erinnerung ist, wie es Jean Paul formulierte, das Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.
Text von Werner Hintze.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 46, Februar 2017.
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