Das 20. Jahrhundert hat der Historiker Eric Hobsbawm 1994 als Age of Extremes dargestellt, und diese Bezeichnung gilt wohl auch für die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts. Der Rhythmus von Krisen und Katastrophen hat sich beschleunigt, und gegenwärtig taumeln wir geradezu durch einen Wirbelsturm bedrückender Nachrichten von Kriegen und Massakern und dem politischen Aufstieg rechtsextremer Parteien, vom Klimawandel mit verheerenden Erdbeben, Bränden und Überschwemmungen, ganz abgesehen von der Weltfinanzkrise 2007/08 oder von der Pandemie, die uns in den letzten drei Jahren mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert hat. In dieser Lage erscheint es nicht verwunderlich, dass die Frage nach neuen Helden und Heldinnen verstärkt diskutiert wird. 2019 veröffentlicht die Schriftstellerin Jagoda Marinić eine Studie mit dem Titel Sheroes: Neue Held:innen braucht das Land, und im selben Jahr erscheint das Plädoyer für einen zeitgemässen Heroismus des Philosophen Dieter Thomä. 2020 publiziert der Soziologe Ulrich Bröckling ein Zeitbild über Postheroische Helden, und das erste Heft der Neuen Rundschau im Jahr 2021 widmet sich der Frage: Braucht Demokratie Helden? Bereits 2015 hatte der italienische Philosoph und Aktivist Franco «Bifo» Berardi einen – rasch in mehrere Sprachen übersetzten – Essay über Helden (Heroes) vorgelegt, der sich allerdings überwiegend mit Suizidanschlägen, Amokläufen und Massenmorden befasste.
Neue Aktualität
Wagners Götterdämmerung ist demnach erneut aktuell: Auch die letzte Oper der Tetralogie vom Ring des Nibelungen kreist um die Frage nach dem Helden. Im Vorspiel erinnern die drei Nornen auf dem Walkürenfelsen an Wotan und die Helden Walhalls, an die Fällung der Weltesche und den Bau der Burg für Götter und Helden; begleitet vom Heldenmotiv, aber auch schon vom Leitmotiv der Götterdämmerung singen sie: «Gehau’ner Scheite hohe Schicht ragt zu Hauf rings um die Halle: die Welt-Esche war dies einst! Brennt das Holz heilig brünstig und hell, sengt die Glut sehrend den glänzenden Saal: der ewigen Götter Ende dämmert ewig da auf.» Das Seil der Nornen reisst; sie resignieren: «Zu End’ ewiges Wissen! Der Welt melden Weise nichts mehr: hinab zur Mutter, hinab.» Wenig später treten Brünnhilde und Siegfried aus ihrem Gemach; Siegfried trägt seine Waffen, Brünnhilde führt ihr Pferd Grane. Sie adressiert Siegfried mehrfach als Held, er nennt sie «Wunderfrau», schenkt ihr den Ring aus dem Nibelungenhort und empfängt zum Dank Brünnhildes Pferd. Das Vorspiel endet mit mehreren «Heil»-Rufen, die kaum unbefangen gehört werden können. Der erste Aufzug beginnt danach mit einem Gespräch zwischen Gunther, Hagen und Gutrune. Neuerlich wird über Siegfrieds Heldentum beraten: Hagen preist ihn als «stärksten Held», Gutrune fragt ein wenig skeptisch: «Welche Tat schuf er so tapfer, dass als herrlichster Held er genannt?» Hagen erwähnt sofort die Tötung des Drachen Fafner und betont: «Solch’ ungeheurer Tat enttagte des Helden Ruhm.»
Was ist ein Held?
Ist Siegfried ein Held? Aber wer ist ein Held oder eine Heldin? Mythen und Sagen folgen keiner einheitlichen Definition; doch bestimmte Eigenschaften werden in zahlreichen Kulturen anerkannt. Helden und Heldinnen, so heisst es, sind zumeist Personen mit aussergewöhnlichen Fähigkeiten und Kräften; sie sind stark, furchtlos, listig und klug. Ruhm und Ehre erwerben sie durch ihre Taten, im Krieg, auf der Jagd, im Kampf mit einem Ungeheuer wie dem Drachen Fafner oder bei der Befreiung von gefangenen Jungfrauen wie Brünnhilde. Sie überschreiten die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis (wie Jason auf der Suche nach dem Goldenen Vlies, oder wie Odysseus auf der Zyklopeninsel), die Grenze zwischen Genialität und Wahn (wie Herakles, der Megara und die mit ihr gezeugten Kinder erschlägt, oder wie der Löwenritter Yvain, der nackt und tobsüchtig im Wald lebt), die Grenze zwischen Leben und Tod (Gilgamesch oder Orpheus), die Grenze zwischen der irdischen Welt, dem Olymp und dem Hades (Prometheus). Helden und Heldinnen sind – wie die Ethnologie beteuert – «Trickster», die alle Arten der Seelen- und Jenseitsreise kennen. Geburt und Abstammung sind häufig traumatisch. Nicht selten entspringen die Helden und Heldinnen einer verbotenen Liebe zwischen Gottheiten und Menschen, oder der inzestuösen Zuneigung eines Zwillingspaars wie Siegmund und Sieglinde; sie werden ausgesetzt (wie Moses, Ödipus, die Zwillinge Romulus und Remus), von Hirten oder wilden Tieren – einer Wölfin, einem Adler, einer Hirschkuh – gerettet und aufgezogen. In ihnen verkörpern sich Weisungen und prophetische Visionen: die erhoffte Rettung vor dem Untergang, die Begründung einer neuen Dynastie oder die Errichtung einer Stadt.
Noch das zeitgenössische Medien-Universum wird von Helden und Heldinnen bevölkert, die als Revenants älterer Traditionen betrachtet werden können. Auch in Comics, Filmen und Computerspielen reüssieren Menschen mit gewaltigen Kräften, kämpfen mit Ungeheuern, drachenartigen Aliens, während sie (wie Superman) auf singuläre Abstammungs- und Geburtsgeschichten zurückblicken; sie müssen die Welt retten, die Grenzen zwischen Kosmos und Chaos, Leben und Tod, überschreiten. Manchmal fusionieren sie mit Göttern (Thor), manchmal mit Tieren: mit Vögeln (Birdman), Fledermäusen (Batman) oder Spinnen (Spiderman). Gelegentlich scheitern sie; doch selbst darin gleichen sie älteren Vorbildern. Gilgamesch gelingt es bekanntlich nicht, seinen treuen Freund und Begleiter Enkidu mit dem Kraut der Unsterblichkeit vor dem Tod zu retten; Jason verliert das Vlies und seine Kinder, Orpheus versagt beim Versuch, Eurydike zurückzugewinnen. Prometheus scheitert gerade als Kulturstifter: Der Begründer menschlicher Opferkulte wird selbst geopfert und an einen kaukasischen Felsen geschmiedet, wo ihm ein Adler die unentwegt nachwachsende Leber wegfrisst. Auch zeitgenössische Helden und Heldinnen teilen gelegentlich das prometheische Schicksal: Superman wird bekanntlich schwach, sobald er auf Kryptonit, Material von seinem Herkunftsplaneten, stösst; Batman resigniert wiederholt – zumindest in Christopher Nolans Filmen – vor den Paradoxien der Selbstjustiz. Die Unverwundbarkeit scheint des Zweifels oder eines Makels zu bedürfen, der sie konfirmiert: der Achillesferse, des Mistelzweigs (bei der spielerischen Beschiessung Balders) oder des Lindenblatts, das während Siegfrieds Bad im Drachenblut zwischen seine Schulterblätter fällt.
Zum Leben legitimer Helden und Heldinnen gehören Niederlagen und Untergänge; sie bilden den unverzichtbaren Schatten des Triumphs. Keine Helden oder Heldinnen ohne Heldentod! Der Sturz, das Scheitern und der Tod beglaubigt den Rang der heroischen Kultur- und Religionsstifter; darin folgte selbst das Christentum einer älteren Traditionslinie, nicht nur um sie fortzuführen, sondern auch um sie neu zu prägen: Der Tod am Kreuz führt zu Auferstehung und Himmelfahrt. Richard Wagner hatte seine Nibelungen-Oper im Revolutionsjahr 1848 als Siegfrieds Tod konzipiert; erst drei Jahre später erhielt die Oper, nun unter dem Titel Götterdämmerung, ihre Vorgeschichte, die zuerst Der junge Siegfried heissen sollte. Erzählt wird darin tatsächlich von einem jungen, starken, furchtlosen Helden, der die typischen Heldentaten – Tötung eines Ungeheuers, Eroberung eines wertvollen Schatzes, Befreiung einer gefangenen Jungfrau – vollbringt; dennoch wirkt das Ende im Feuerring, in der Liebesglut zwischen Siegfried und Brünnhilde, seltsam schal. Sogar ein Publikum, das weder die Kulturgeschichte der Heldenmythen noch die Götterdämmerung kennen würde, müsste eigentlich den schlechten Ausgang ahnen. Der Held wird ihm gezeigt als trotziger Junge, der Brünnhilde halb befreit, halb vergewaltigt. Die heisse erste Liebe im Feuerring beschwört schon das apokalyptische Finale für die Welten der Götter und Menschen: «Leuchtende Liebe, lachender Tod».
Wagner präsentiert Siegfried zunächst als Naturkind, das einen notdürftig gezähmten Bären vor sich hertreibt, um Mime zu erschrecken. Der Bär erinnert an die nordischen «Berserker», an die gefürchteten Krieger, die zumeist in vorderster Schlachtreihe – gehüllt in Bärenfelle, mit ekstatischem Gebrüll – angriffen. Der Bär bezeugt Siegfrieds Nähe zur Natur und seinen Abstand von Ziehvater Mime. Nähe wie Distanz entspringen einer unbeantworteten Frage Siegfrieds: der Frage nach der eigenen Abstammung, nach Vater und Mutter. Das elternlose Naturkind – Wolfskind, Bärenkind, Vogelkind, mit der Gabe, spätestens nach der Tötung Fafners den Gesang der Waldvögel zu verstehen – ist den Geltungsansprüchen der Kultur, den symbolischen Gesetzen der Genealogie und Verwandtschaft, nicht unterworfen. Siegfrieds Eltern Siegmund und Sieglinde, so erfährt der Held, starben bald nach seiner Geburt; obendrein waren sie Zwillinge. Siegfried ist das Kind einer inzestuösen Liebe zwischen Bruder und Schwester. Gerade diese Mitteilung unterstreicht den heroischen Sonderstatus Siegfrieds; sie stellt ihn noch einmal auf die Seite der Natur, denn das oberste Gesetz der Kultur verbietet den Inzest. Auch darum lebt Siegfried im Wald. Denn im Wald leben die Aussenseiter: Leprakranke, Räuber, flüchtige Leibeigene, wilde Männer und Werwölfe, Schweinehirten, Einsiedler, Jäger und Wilderer, Köhler, Schmiede und Waldleute, die nach Honig (für den beliebten Met) und wildem Wachs suchten, gewiss auch Trolle, Nymphen und die Geister der Toten, die zu bestimmten Zeiten die wilde Jagd veranstalten.
Heroismus und Totenkult
Am Samstag, dem 21. November 1874, beendet Wagner die Arbeit an der Partitur der Götterdämmerung; uraufgeführt wird die Oper am Donnerstag, dem 17. August 1876, im Rahmen der ersten Bayreuther Festspiele. Sechs Jahre zuvor tobten im Deutsch-Französischen Krieg drei erbitterte Schlachten um die Stadt Metz, zwei Wochen vor Beginn der Schlacht bei Sedan. In diesem Krieg, der nicht viel länger als ein halbes Jahr dauerte, starben auf beiden Seiten mehr als 180.000 Soldaten; in Relation zu seiner Zeitdauer war der Krieg zwischen Frankreich und Preussen signifikant verlustreicher als der nordamerikanische Bürgerkrieg, der zwischen 1861 und 1865 rund 650.000 Opfer forderte. Die Soldaten, die in den modernen Kriegen starben, waren zumeist adoleszente Männer, junge Helden und Siegfriede, nicht mehr mit Schwertern, sondern mit Gewehren und Kanonen. Die neuen Armeen waren eben keine Söldnerheere mehr: Seit der Entstehung moderner Nationalstaaten entwickelte sich mit einer gewissen Notwendigkeit die Praxis, an Stelle von transnationalen Söldnerheeren und Berufstruppen die eigene Jugend auf die Schlachtfelder zu schicken. Nicht umsonst leitet sich der Terminus «Infanterie» – als Bezeichnung für die Fusssoldaten, die in der modernen Schlachtordnung oft genug als «Kanonenfutter», Opfer eigener wie fremder Artillerie, eingesetzt wurden – von lateinisch «infans» ab: Kind, Junge, Edelknabe. Der Ausdruck «Infanterie» hat sich erst kurz vor Beginn des Dreissigjährigen Krieges (ab 1616), im Zuge der allmählichen Durchsetzung der nassauisch-oranischen Heeresreformen in Europa, verbreitet; noch später hat sich die Subjektivierung «Infanterist» (in Deutschland etwa ab 1801) eingebürgert. Am 17. August 1876 betrat Siegfried nicht bloss als archaischer Held die Bühne des Bayreuther Festspielhauses, sondern auch als moderner Infanterist, der den Tod in Kauf zu nehmen bereit ist. «Leuchtende Liebe, lachender Tod.»
Lachender Tod: Erst wird Siegfried mit einem verkehrten Liebestrank, der nicht die Zuneigung entflammt, sondern das Vergessen, zum Betrug an Brünnhilde verführt; im Hintergrund lenkt der verfluchte Ring das Begehren und die Gier. Im dritten Aufzug der Götterdämmerung tötet Hagen zuletzt den Helden, danach erschlägt er aber auch Gunther, der ihm den Ring verweigert. Die Trauermusik, die den Zug mit der Leiche Siegfrieds begleitet, wird häufig als Trauermarsch bezeichnet; tatsächlich bezeugt sie den Status des Helden, der notwendig scheitern muss. Was im Feuer begann, endet auch im Feuer; Brünnhilde wählt den eigenen Tod in den Flammen: «Starke Scheite schichtet mir dort am Rande des Rheins zu Hauf: hoch und hell lod’re die Glut, die den edlen Leib des hehrsten Helden verzehrt! Sein Ross führet daher, dass mit mir dem Recken es folge: denn des Helden heiligste Ehre zu teilen verlangt mein eigener Leib.» Ein suizidaler Heroismus? 1936 hat der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga seine erstaunlich hellsichtige Studie Im Schatten von morgen publiziert. Huizinga kritisiert in dieser Studie den damaligen Aufschwung des Heroismus; er argumentiert: «Heroen waren Halbgötter: Herakles, Theseus. Noch in der Blütezeit von Hellas übertrug man den Begriff auch auf gewöhnliche Menschen: die Gefallenen für das Vaterland, die Tyrannenmörder. Aber immer waren es Verstorbene. Das Wesen der heroischen Idee war Totenkult.» Gerade weil der Heroismus ursprünglich Totenkult war, muss die «Anpreisung des Heroischen» und die kollektive Sehnsucht nach neuen Helden und Heldinnen mit Misstrauen und Skepsis, als signifikantes Krisensymptom auch in der Gegenwart, wahrgenommen werden. Denn die Propaganda für das Heroische verkehrt den Totenkult in eine Prophezeiung, deren düstere Pointe, faktisch ein Versprechen des Todes, zugleich verleugnet werden muss. In seiner Untersuchung der Massensuizide in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erwähnt Florian Huber, dass nach einem der letzten Konzerte der Berliner Philharmoniker am Donnerstag, dem 12. April 1945, – auf dem Programm standen Beethovens Violinkonzert, Bruckners Romantische Sinfonie und das Finale der Götterdämmerung – beim Ausgang uniformierte Hitlerjungen mit Körben voller Zyankali-Kapseln zur freien Verteilung an das Publikum gewartet haben sollen. Doch schon 1934 hatte die Journalistin Dorothy Thompson, zwei Jahre nach ihrer Reportage von einer Begegnung mit Hitler, eine erschreckende Beobachtung über ein Lager der Hitlerjugend in Murnau mitgeteilt: «Ein riesiges Banner erstreckte sich über den Hügel und beherrschte das Lager. Es war so gross, dass es auch vom entferntesten Punkt aus zu sehen war. Und es war so aufgestellt, dass jedes Kind es viele Male am Tag sehen konnte. Es war weiss mit einem aufgemalten Hakenkreuz, und daneben standen nur sieben Wörter, sieben riesige schwarze Wörter: WIR WURDEN GEBOREN, FÜR DEUTSCHLAND ZU STERBEN!»
Thomas Macho lehrte von 1993 bis 2016 als Professor für Kulturgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. 1984 habilitierte er sich mit einer Habilitationsschrift über «Todesmetaphern». Seit 2016 leitet er das Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz in Wien. Zu seinen Forschungs- und Publikationsschwerpunkten gehören u.a. Tod und Totenkulte, Religion in der Moderne, Geschichte der Rituale, Ästhetik des Monströsen sowie Science und Fiction.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 106, Oktober 2023.
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