Kurzgefasst
Mit dem Mythos des Sängers Orpheus, dem es mit seinem Gesang gelingt, seine Geliebte Eurydike aus dem Reich der Toten zurückzuholen, nahm die Geschichte der Oper vor 400 Jahren ihren Anfang. Seitdem haben sich unzählige Komponisten des Themas angenommen. Eine der erfolgreichsten Orpheus-Vertonungen stammt von Christoph Willibald Gluck, der mit Orfeo ed Euridice 1762 die Reihe seiner Reformopern begann: Gluck konzentrierte sich auf menschliche Leidenschaften und natürlich fliessende Melodien, nachdem die Gattung zu einem an Künstlichkeit kaum zu überbietenden Vehikel für virtuosen Gesang erstarrt war.
Die Inszenierung von Christoph Marthaler ist mitten in der Pandemiezeit von 2021 entstanden und war bisher nur als Stream im Internet zu sehen. Mit den gebotenen Abstandsregeln der Pandemie war Marthaler jedoch ganz bei sich: Nähe und Distanz im Gefühl ist ein zentrales Thema seines Schaffens – und dieser Oper. Gemeinsam mit der Bühnenbildnerin Anna Viebrock blickt er zudem tief in die Hinterzimmer des Mythos: Welche Himmlischen sind am Werk, wenn Orpheus das Diesseits verlässt und in die Unterwelt hinabsteigt? Waltet tatsächlich nur Jupiter seines Amtes oder ist das System, das hier denkt und lenkt, unübersichtlicher als vermutet? Rätselhaft ist auch Anna Viebrocks Bühnenbild, durch dessen Türen und Geheimöffnungen sich die Figuren wie aus der versunkenen Ära des Film Noir bewegen. Der grundlegenden Frage der Orpheuserzählung, warum die Menschen singen anstatt zu sprechen, widmen sich Marthaler und Viebrock in fast allen ihrer gemeinsamen Arbeiten – sie haben durchaus variierende Antworten gefunden. Eine davon, vielleicht die wesentlichste, lautet: weil man auf diesem Wege tiefer in das eigene Sein vordringen kann als mit Hilfe von Worten. Live gehört werden können bei dieser Wiederaufnahme die Stimmen von Olga Syniakova (Orphée), Chiara Skerath (Eurydice) und Alice Duport-Percier (Amour), die mit einigen Darstellerinnen und Darstellern Marthalers wunderbar-skurriles «Wiederauferstehungstraining» absolvieren. Die Oper, die wir in der Berlioz-Fassung zeigen, leitet, wie schon an der Premiere, Stefano Montanari.