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Petruschka

Petruschka / Sacre

Choreografien von Marco Goecke und Edward Clug.
Musik von Igor Strawinsky (1882-1971)

Dauer 1 Std. 40 Min. inkl. Pause nach dem 1. Teil nach ca. 35 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.

Gut zu wissen


Gespräch


Die Macht des Ursprünglichen

Edward Clug bringt mit dem Ballett Zürich seine energetische Choreografie von Igor Strawinskys «Le Sacre du printemps» auf die Bühne

Edward Clug, Igor Strawinskys Le Sacre du printemps ist ein Meilenstein für die Musik-, aber besonders auch für die Tanzgeschichte. In beiden Kunstformen gibt es ein «vor» und ein «nach» Sacre. Was bedeutet dir dieses Stück?
Immer wieder bin ich davon fasziniert, wie sich in Strawinskys Werk die gesamte Entwicklung der Musik im 20. Jahrhundert spiegelt. Le Sacre du printemps ist bei der Uraufführung 1913 im Pariser Théâtre des Champs-Élysées wie ein Meteorit aus dem All ins Herz der bürgerlichen Musikkultur eingeschlagen. Noch heute freue ich mich an den Augenzeugenberichten dieser Aufführung, die als einer der grössten Skandale in die Musikgeschichte eingegangen ist. Das Spannende liegt für mich vor allem im charakteristischen Wechselspiel der Bewegungszusammenhänge. Strawinskys Musik ist tönende Bewegung, auch wenn die ständigen metrischen Wechsel und die komplizierten rhythmischen Überlagerungen einer tänzerischen Umsetzung erst einmal zu widersprechen scheinen. Dass das jedoch absolut kein Gegensatz ist, haben herausragende Umsetzungen in den letzten einhundert Jahren eindrucksvoll bewiesen. Zum 100-jährigen Sacre-Jubiläum, das die Musikwelt 2013 begangen hat, konnte ich der Versuchung, mich selbst mit dem Frühlingsopfer auseinanderzusetzen, nicht länger widerstehen.

Die Geschichte von Le Sacre du printemps ist natürlich auch eine Historie seiner Choreografen. Wie präsent ist diese Rezeptionsgeschichte in deiner Choreografte?
An den vielen Versionen, die seit 1913 entstanden sind, lässt sich die Tanzgeschichte der letzten 100 Jahre verfolgen. Am meisten haben mich die Umsetzungen von Pina Bausch (1975) und Maurice Béjart (1959) beeindruckt. Béjart hat auf sehr ursprüngliche Weise das Erwachen der Liebe zwischen Mann und Frau in aller Körperlichkeit gezeigt. Pinas sehr theatralische Lesart drang in noch tiefere, allgemein menschliche Dimensionen vor. Mein Zugang zu Sacre verlief jedoch zunächst einmal nur über die Musik. Geradezu magnetisch hat sie mich angezogen und regelrecht herausgefordert. Lange bevor ich daran dachte, Choreograf zu werden. Da ist dieser unerklärliche Moment, wo man diese Musik in seinem Bauch spürt, als würde einem als lebenslangem Vegetarier plötzlich ein saftiges Steak vorgesetzt werden. Ich habe versucht, mich von allen Versionen frei zu machen. Einzig aus der Uraufführungsfassung von Vaslav Nijinsky habe ich zwei Elemente übernommen: die Bärte der Männer sowie die Zöpfe und Wangenbemalung der Frauen. Nijinskys Fassung erscheint mir bis heute sehr hermetisch und in gewisser Weise unantastbar. Ein Universum, das sich nicht von allein öffnet. Es wirkt wie eingefroren, als würde es auf die Jahre warten, die da kommen und einen bis dahin zur Zwiesprache mit seinem Schöpfer auffordern.

Lässt sich nach einer über einhundertjährigen Aufführungsgeschichte überhaupt noch etwas Neues zum Thema Sacre sagen?
Die Herausforderung liegt sicher darin, dass man diese Aufführungstradition mitdenken, sich aber letztlich von ihr lösen muss. Wie bei Nijinsky ist auch mein Ausgangspunkt die heidnische Legende, die ich jedoch in meine Umgebung übersetze. Natürlich denken wir bei Sacre sofort an die grossen, machtvollen Momente, in denen die ganz ursprüngliche Kraft des Rhythmischen so eindrucksvoll zum Tragen kommt. Doch daneben existieren eben auch ganz poetische, ja fast zärtliche Passagen. Mich hat im Sacre-Kontext vor allem die Figur der Auserwählten – der Geopferten – interessiert. In meiner Choreografie wird sie gleich zu Beginn des Balletts vorgestellt. Man weiss sofort, wer sie ist, und wie auf einer Reise begleiten wir sie von diesem Moment bis zu ihrem letzten Atemzug. Das ist ein Unterschied zur Originalversion, wo im ersten Teil ja erst einmal die Rituale der rivalisierenden heidnischen Stämme thematisiert werden. Bei uns ist die Entscheidung über das Opfer bereits gefallen, wenn sich der Vorhang öffnet. Die Auserwählte sondert sich selbst aus der Gruppe ab, sie wird – das erscheint mir ganz wichtig – nicht zu der Opferhandlung gezwungen. Sie hat eine bewusste Entscheidung getroffen, die von Furcht und Stolz gleichermassen geprägt ist. Für sie ist es eine Ehre, die Auserwählte zu sein. Mir kam es darauf an, dass wir die Sacre-Reise aus der Perspektive dieser Frau antreten. Erkennbare Situationen versetzen uns in die Lage, ihrer letzten Reise durch das gesamte Stück zu folgen und eben nicht nur im letzten Solo. Wenn der Auserwählten von zwei Frauen die Zöpfe entflochten werden, ist das ein sehr ergreifender Moment. «Du bist keine von uns mehr», scheinen sie zu sagen, aber dieses Entflechten der Zöpfe hat eine so grosse Zärtlichkeit und geschieht so behutsam, dass jenes Sich-Aufopfern in einem anderen Licht erscheint.

Sein Leben für eine Gemeinschaft hinzugeben, und sei es auch nur einen Teil davon, scheint am Beginn des 21. Jahrhunderts kein sehr populäres Thema zu sein.
Im Gegensatz zu dem vorzeitlichen Ritual des Sich-Opferns, von dem Strawinsky und Nikolai Roerich in ihrem Ballett erzählen, erleben wir heute, wie sehr sich die privaten Interessen des Einzelnen vor das Wohl einer Gemeinschaft stellen. Wir wollen nichts abgeben, nichts teilen, nichts verlieren. Und mit Blick auf unseren Planeten müssen wir feststellen, dass wir anstatt ihr zu opfern, die Erde selbst zum Opfer auserkoren haben. Für ihre Fruchtbarkeit sind wir heute bereit, fast jeden Preis zu zahlen und sägen so an dem Ast, auf dem wir sitzen. Dennoch lag es mir fern, Sacre auf einen Kommentar zur Umweltproblematik herunterzubrechen. Als Choreograf stand für mich das Archaische der heidnischen Legende im Vordergrund. Wenn jemand natürlich meint, Parallelen zu unserer Gesellschaft zu entdecken, übernehme ich dafür keine Verantwortung. (lacht)

Also wirklich gar keine Verbindung ins 21. Jahrhundert?
In Sacre-Aufführungen mit ihren sehr archaischen Bildern realisiert man eigentlich immer, dass wir nicht so fern von den heidnischen Riten, den blutigen Ritualen aus der vermeintlich grauen Vorzeit sind. Sie liegt näher, als uns lieb ist. Am Beginn meiner Beschäftigung mit dem Frühlingsopfer gab es zwar einige Ideen, Sacre mehr im Heute zu verankern. Doch wenn man einmal anfängt, sich zu dieser Musik zu bewegen und versucht, eine bestimmte Essenz herauszufiltern, eliminiert sich jede überflüssige Information fast von selbst. Man kommt auf das Einfachste und Ursprünglichste zurück. Also kein Platz für ölverschmierte Möwen! Die Kraft der Musik, aber auch die tänzerische und darstellerische Stärke meiner Tänzerinnen und Tänzer hat mir geholfen, mich von überflüssigem Ballast zu befreien.

Zur «Anbetung der Erde», wie der erste Teil in Strawinskys Partitur betitelt ist, ergiesst sich in deiner Choreografie Wasser auf die Bühne.
Am Anfang habe ich, ehrlich gesagt, noch gar nicht gewusst, dass wir Wasser benutzen würden. Das hat sich erst im Prozess des Choreografierens so ergeben. Als wir beim «Tanz der Erde» angekommen waren, hat mir die Musik gesagt, dass da etwas vom Himmel fallen müsse. Mir war nicht klar was. Wir haben dann verschiedene Möglichkeiten durchgespielt, und plötzlich ergab das Wasser Sinn, weil es sich ganz aus der Geschichte entwickelt: Wasser als das fruchtbringende und reinigende Element in all seiner Gewalt! In der Introduktion zum zweiten Teil, dem lyrischsten und innigsten Moment der gesamten Sacre-Partitur, kann es dann aber auch eine poetische Qualität entfalten, wenn die Mädchen schwanengleich über das Wasser gleiten.

Wie gehen die Tänzer mit diesem für sie auf der Bühne eher ungewohnten Element um?
Am unangenehmsten ist sicher, dass sich das warme Wasser, das da herabgeschüttet wird, in kürzester Zeit abkühlt. Ein Stück in diesem kalten Nass kreieren und darin tanzen zu müssen, ist – zugegeben – keine sonderlich angenehme Erfahrung. Der Begriff Sacre bekommt da also noch einmal eine ganz neue Bedeutung. Gerade wenn man weiss, wie empfindlich Tänzer normalerweise reagieren können. Da reicht manchmal nur ein Tropfen Wasser, um den Ausnahmezustand nach dem Motto: «Ich tanze nicht!» hervorzurufen. Hier sind es nun gleich 120 Liter, die auf die Tänzer hinunter prasseln. Dass sie das ertragen, hat meinen allergrössten Respekt. Sich auf solch einem ungewohnt rutschigen Untergrund bewegen zu müssen, ist eine Herausforderung. Tänzer sind es gewöhnt, mit äusserster Selbstkontrolle zu agieren. Diese Fähigkeit funktioniert zwar auch auf dieser völlig unberechenbaren Oberfläche, aber durch das Wasser kommt ein Element des Risikos und der Unsicherheit in die Aufführung, das ihr etwas sehr Natürliches verleiht und die Aufmerksamkeit ein wenig von der überstarken Musik abzieht. Es ist ein bisschen, als würde sich durch das Wasser eine gewisse Balance des Stückes herstellen.

Schon in deinen anderen Zürcher Arbeiten hast du Elemente des Bühnenbildes für die Choreografie nutzbar gemacht. Ob Schneehaufen oder quer über die Bühne gespannte Saiten: Die Tänzer werden provoziert, sich zu einem Bühnenbild in Beziehung zu setzen.
Im Fall von Sacre hat mich die Musik regelrecht dazu herausgefordert. Strawinsky scheint die ganze Zeit sagen zu wollen: Lasst uns nicht ruhen! Aber es stimmt. Solche Momente interessieren mich in all meinen Choreografien: Bis wohin kann man gehen, wie weit kann man eine Idee ausreizen und aus ihr ungewohnte Kraft schöpfen? Tanz ist eine Abfolge sich bewegender Bilder. Nur das genaue Timing dieser sich verändernden Sequenzen lässt sie natürlich und glaubwürdig erscheinen.

Wie besetzt man ein Ballett wie Le Sacre du printemps?
Wie jede andere Entscheidung, die im Zusammenhang mit Sacre getroffen werden muss, ist das ein sehr instinktiv verlaufender Prozess. Was will ich? Solisten mit starken Persönlichkeiten oder Tänzer, die sich sehr gut in eine Gruppe einfügen? Die Kombination aus beidem wäre ideal. Bei einem Ensemblestück wie Sacre finde ich eine Gemeinschaft, die wirklich aus verschiedenen Individualitäten besteht, spannender als ein uniforme Masse. Es gibt zwar Momente, in denen die Tänzer unisono auftreten müssen, aber die anderen Momente sind mir ebenso wichtig. Die Masse ist nicht grau!

Deine Sacre-Choreografie kam 2012 beim von dir geleiteten Slowenischen Nationalballett in Maribor heraus. Wie wird sich die neue Zürcher Version von der damaligen Fassung unterscheiden?
Ich bin sehr stolz, dass Christian Spuck dieses Stück ins Repertoire des Balletts Zürich übernimmt. Ich mag diese Choreografie sehr und freue mich, jetzt noch einmal daran zu arbeiten. Ich bin vier Jahre älter geworden und schaue aus einer anderen Perspektive auf dieses Stück. Die Antworten auf einige Fragen, die damals offen geblieben sind, kommen erst jetzt. Die Grundstruktur aus Maribor behalte ich bei, aber ich bin sehr froh über die Gelegenheit, einige Momente noch einmal überdenken und schärfen zu dürfen. Das können einzelne Bewegungen sein, aber auch musikalische Situationen, die nach anderen choreografischen Lösungen verlangen und das Ganze organischer, natürlicher und überzeugender machen. Und natürlich ist so eine Wiederbegegnung immer auch an die jeweiligen Tänzer gebunden. Ihre Persönlichkeiten und tänzerischen Qualitäten rufen nicht selten ganz unerwartete Lösungen hervor.

Was ist das Fazit deiner kreativen Auseinandersetzung mit Strawinskys Musik?
Es hat mich überrascht, wie stark ich beim Choreografieren das Diktat seiner Musik gespürt habe. Man merkt in jedem Moment, dass die Musik nicht nur tänzerische Aktionen begleiten will, sondern selbst deren Quelle, also der Ursprung des Tanzes ist. Die Schwierigkeit für den Choreografen liegt darin, den Kontrapunkt zu dieser Musik zu finden. Natürlich könnte man der Musik einfach folgen oder sie als Krücke benutzen. Doch Choreografie ist Freiheit. Man darf sich nicht zum Sklaven der Musik machen. Man muss im richtigen Moment die richtigen Prioritäten setzen und nicht versuchen, die Musik zu übertrumpfen. In einigen Situationen habe ich mich als Choreograf aus einem anderen Blickwinkel gesehen. Es ging da plötzlich nicht mehr um mich. Nicht um den Versuch, sich etwas zu beweisen oder jemanden zu beeindrucken. So, als würde man sich ganz in der Musik auflösen.

Das Gespräch führte Michael Küster

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 42, September 2016
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Fotogalerie

 

Szenenbilder «Petruschka/Sacre»


Die geniale Stelle


Schillernde Dissonanzen

Einige Takte aus Igor Strawinskys «Le Sacre du printemps»

«Das Werk eines Wahnsinnigen!» – «Kakophonie!» – «Ein Machwerk von Idioten!» – Es ging hoch her am Abend des 29. Mai 1913 im nagelneuen Théâtre des Champs-Élysées. Herren im Frack zerbeulten ihren Nachbarn mit Faustschlägen den Zylinder, gingen wutentbrannt mit Spazierstöcken aufeinander los oder bliesen mit dicken Backen angestrengt in Trillerpfeifen, Damen in kostbarer Abendrobe wanden sich schreiend in Krämpfen oder lagen ohnmächtig zwischen den Sitzreihen, der Dirigent konnte wegen des Getöses das Orchester kaum noch hören. Die Uraufführung von Igor Strawinskys Le Sacre du printemps hatte sich zu einer gewaltigen Schlacht, einer heroischen Sternstunde im Kampf um die moderne Musik ausgewachsen.

Heute zählt das Stück unumstritten zu den klassischen Meisterwerken des 20. Jahrhunderts, die Herrschaften, die damals so tapfer gegen diese Katzenmusik ankämpften, haben das wohl kaum so gesehen. Was sie an diesem denkwürdigen Abend hörten, schien ihnen gar keine Musik zu sein, erst recht keine meisterhafte, sondern sinnloser Lärm, dem sie mit kräftigem Radau den Garaus machen wollten.

Was nahm sich dieser freche Russe auch heraus! Man betrachte nur den Anfang der Einleitung zum zweiten Teil, der dem Vernehmen nach auf ganz besondere, geradezu hysterische Ablehnung stiess! Was man hier zu hören bekommt, muss doch jeden ehrbaren Musikliebhaber zornig machen, dachten die Kenner damals: Ein d-Moll-Akkord wird als Orgelpunkt in extrem tiefer Lage von den Hörnern intoniert. Wie hört sich denn das an? Und damit nicht genug! Gleichzeitig spielen die Holzbläser in extrem hoher Lage abwechselnd dis- und cis-Moll-Akkorde! Keiner der grossen Komponisten der ruhmreichen französischen Ballett-Tradition wäre im Traum darauf verfallen, solche Harmonien niederzuschreiben und sie auf diese groteske Weise zu instrumentieren. Und nun kommt dieser Russe daher … Er muss verrückt sein.

Mit Sicherheit hatte Strawinsky das Publikum provozieren, aus seiner satten Selbstzufriedenheit in der bequemen Reproduktion überholter Traditionen aufstören wollen, und die Saalschlacht zeigte, dass er sein Ziel erreicht hatte. Aber er wusste auch: Wenn die Wahrnehmung seines Stücks auf diesen Skandaleffekt beschränkt bliebe, würde es schon bald das Schicksal so vieler anderer Werke teilen, die einst grosses Aufsehen erregt hatten und dann schnell in der Versenkung verschwunden waren. Bei aller diebischen Freude am Spiesser-Ärgern – Strawinsky hatte doch mehr und Wichtigeres im Sinn, als er das Pariser Publikum mit seiner Vision eines Frühlingsrituals aus dem heidnischen Russland konfrontierte. Er wollte ein idealisiertes Porträt seines Volkes zeichnen, seiner urtümlichen Kraft, aber auch seiner Zartheit und tiefen Religiosität. Für diese Züge, die so gar nicht zum nach wie vor beliebten Klischee vom «wilden Russen» passen, erfindet Strawinsky die ungewöhnlichsten Klänge. Heute ist der Schockeffekt jener Anfangstakte des zweiten Teils verblasst. Wo die Zeitgenossen nur Kakophonie hörten, bewundern wir heute ein geniales Klanggemälde von betörender Schönheit. Der fremdartige Klang, die kühnen Akkordverbindungen versetzen uns in das mysteriöse Halbdunkel eines Waldes, in dem sich in flirrender Zartheit und betörender Schönheit das Wunder des erwachenden Frühlings vollzieht. Strawinsky schuf dafür eine Musik, die auf ebenso kühne wie suggestive Weise eine innige Naturverbundenheit schildert, die das alte Europa vielleicht tatsächlich von den Völkern am Rand seiner Aufmerksamkeitssphäre lernen könnte.


Text von Werner Hintze
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 57, März 2018
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Essay


Nur Wind und Menschen

Nachtgedanken eines suchenden Künstlers Marco Goecke

Es ist ganz einfach zu choreografieren. Es ist nicht mehr als: Einmal kommt jemand von links oder von rechts oder von hinten nach vorne. Trotzdem habe ich immer Herzklopfen und manchmal panische Angst, einem Tänzer zu sagen: Komm mal von da oder dort. Meiner Meinung nach steht mir das nicht zu, aber ich muss es ja machen. Übertrieben, vielleicht pathetisch, wenn Nina Simone sagt: Gott ist zwischen den Noten. Mich lässt das aber nicht los. Ich versuche nur zu verstehen oder zu fühlen, warum die eine Bewegung in die nächste übergeht. Es ist eine Art Wind dazwischen. Mehr als zu sagen: Energie. Es ist zum Verrücktwerden, das Versuchen zu sehen und zu erfühlen – zusammen mit der wahnsinnigen Angst, dass dies den Raum nicht hält, und dem Gefühl, nicht zu treffen. Was heisst das wohl? Bewegung als Abfall von etwas anderem!! Etwas anders Gemeintem. Bewegung als spätere Geschichte, etwas davon mitzuteilen und doch den Sinn dieser Geschichte auf dem Weg zu verlieren.

Also keine Geschichte? Nur Wind und Menschen. Menschen, die im Wind gehen. Mir fehlt der Wind gerade. Ich mag den Sommer nicht. Der Sommer ist nicht das Theater! Der Wind schon, der Herbst eher. Ich habe eine Vorlage in diesem Stück. Eine Geschichte. Eine einfache. Zum Glück! Diese Geschichte wird mich nicht beugen, und trotzdem hält sie mich und die Arbeit an den Bewegungen. Sie ist der komische Auftrag. Es klingt wie eine Erleichterung. Ist es aber nicht. Denn: Was könnte ich anderes erzählen als von mir und uns? Ich meine manchmal zu spüren, wie jeder einzelne Tänzer oder Mitarbeiter im Raum sich fühlt. Das ist mir manchmal zu viel. Nur wenn ich dann mit einem Tänzer arbeite, hilft das und ist die Quelle, die etwas intim macht.

Ich frage mich, ob ich gerade lebe, oder ob ich auf irgendetwas warte. Morgens wache ich auf und denke sofort an die Arbeit. Also weniger denken, mehr ein Gefühl, was alles heute möglich ist!!! Ein grosses Nichts, das es zu füllen gilt. Manchmal glauben die Leute, dass man in einem schönen Traum lebt, aber ich wünschte, ich könnte erzählen, wie erdig und arm man ist – sozusagen auf dem Boden der Tatsachen dort im Studio – einen Hauch von etwas zu produzieren.

In der Kommunikation ruf ich aus einer Einsamkeit. Aus einer Wolke von Wünschen, aber das Gegenüber hört das vielleicht nicht. Gerade hab ich das Gefühl, dass ich das Stück so gerne hätte! Besitzen möchte ich es. Fast wie man sich etwas Wertvolles wünscht. Ich hätte so gerne gewusst, was das ist, was ich gerade mache. Es gibt diesen Moment, wenn mir aus etwas Winzigem plötzlich klar wird, was es ist, und doch weiss ich es nicht für den Tag der Premiere. Premiere, das ist anders. Da fühl ich mich kalt, wie aus einem Traum erwacht!! Oft sind die Tänzer dann an diesem Abend besonders. Ich bin oft zufrieden. Schüttle den Kopf manchmal, weil sie wie Kinder sind. Störrischmüde vorher!! Aber diese Minuten dann.

Heute dachte ich, es müssen Berliner mit Puderzucker im Stück gegessen werden. Gibt’s das hier??? Ich weiss nicht, warum die Tänzer manchmal spüren, was ich suche. Es passiert. Heute war Katja genau auf dem Punkt mit einer Winzigkeit. Ja, winzig klein. Aus einer anderen Situation hab ich sie gebeten, dies oder das zu tun. Ja, dies oder das. Oft nichts. Was dann plötzlich sich anreichert zu etwas. Ich blick jetzt schon zurück auf die Unmöglichkeit etwas zu tun, und jetzt klappern Minuten dahin im Rhythmus, eben wie man wohl ein Stück macht. Ich hab nicht viel überlegt, auch nicht beim Casting. Aber ich fange an, meine Entscheidungen zu geniessen. Die Tänzer stimmen, mit Grossartigem oder mit dem, was nicht so klappt.

Ich weiss nicht, ich fühl mich verliebt. Heute, gerade eben. Vielleicht nur kurz, oder vielleicht bis zum Schluss. Ich hoffe, jemand ist in der Arbeit auch verliebt in mich.

Die Musik strengt mich an. Da ich sie nur von Tag zu Tag höre, bin ich überrascht, aber das gefällt mir. Ich bin Widder. Ich bin sprunghaft. So ist die Musik auch. Sie erzählt und will mich zwingen. Langsam verstehen wir uns besser. Ich vergebe der Musik, was ich nicht erwartet hätte. Ich hab Rasseln im Sinn, Trampeln, denke an einen Luftvorhang. Im Spiegel die Wahrheit. Ketten aus Glöckchen, nur ein Blatt, das fällt. Nur eins.

Es gibt auch so einen einfachen Wunsch manchmal, der heisst: Ich will, dass es schön wird. Weiss nicht, was das ist. Was ist für mich schön? Für andere? Ich wäre gerne spielerischer, aber ich bin angespannt. Nach der Probe fallen mir die Augen zu. Ich fasse für mich nachts zusammen: Da ist ein Raum, der ist dunkel, da sind Menschen, die sich anders bewegen können als andere Menschen. Da sind ein paar Lampen, ein paar Hosen, Menschen, die Instrumente spielen können, weil sie es gelernt haben. Da ist eine seltsame, recht einfache Geschichte als Grundlage. Sonst nix. Und jetzt? Denk ich wie jedes Mal. Dann müsste etwas passieren, das uns das Herz zerreisst!!! Hahaha. Ich wünschte, ich hätte manchmal diese Aufgabe nicht, aber dann schaff ich es auch nicht ohne sie. Am Wochenende war ich traurig!!! Ich hab die Tänzer vermisst. Menschen, die ich kaum kenne!!!

Als Kind hatte ich Ideen, etwas zu erfinden, etwas zu bauen; oder nachts durchs Fenster, mich mit Freunden im Wald treffen, sich gruseln vielleicht. So ein Gefühl hab ich für die Tänzer. Einen Plan schmieden ohne die Erwachsenen!!! Ja, eine Idee haben. Die anderen, die Erwachsenen haben immer alles zerschlagen! Vielleicht deshalb Theater heute!

Ich habe hier ein paar Glöckchen. Ganz kleine. Mit denen spiele ich rum. Sie werden im Stück auftauchen. Was ganz Einfaches, wo aber eine ganze Welt mitschwingt. Ich suche Sachen mit Charme, nichts Perfektes. Das Gefundene darf mitspielen!!! Die gefundenen Schritte dürfen mittanzen, die Tänzer, die ich zufällig gesehen habe. Die Geschichte darf probiert werden, die Musik darf spielen, so wie sie mir vorgeschlagen wurde.

Alles an der Arbeit ist ok, so wie im selben Moment alles zu bezweifeln ist!!! Alles wird gebaut, so wie es auch zerschlagen wird. Trümmer werden zusammengesetzt, und nichts kann ein Gefühl garantieren. Keine noch so harte Arbeit. Verrückt!

Text von Marco Goecke

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 42, September 2016
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Essay


Melancholie und Fanfare

Ein Motiv aus Igor Strawinskys «Petruschka»

Ein greller Schmerzensschrei, ein Sturz, ein leises Jammern, tiefe Stille, ein wie aus der Ferne hereingewehtes Fanfarenmotiv – so beginnt das zweite Bild von Strawinskys Ballett, das die Geschichte einer traurigen Marionette erzählt.

Ein brutaler Tritt befördert Petruschka in seine Kammer, mühsam rappelt sich der Geschundene auf, langsam kommt er zu sich. Das erwähnte Fanfarenmotiv ist die Chiffre seiner Existenz: ein bis zur Oktave aufsteigender C-Dur-Dreiklang, dessen letztes Intervall, die Quarte, wie ein Alarmsignal mehrmals wiederholt wird. Doch der Klang ist seltsam gebrochen, scheint nicht zur musikalischen Gestalt passen zu wollen, die man im scharfen Ton der Trompete erwarten würde, nicht im sanft-schattierten der Klarinette. Dieser weiche Klang verleiht dem doch eigentlich aggressiven, zumindest aufrüttelnden Gebilde einen irritierend melancholischen Charakter und selbst die Quarten am Ende klingen eher wie ein Hilferuf, wie ein Signal, das einer aussendet, der in höchster Not ist. Die Unterstimme des Motivs, die einer zweiten Klarinette anvertraut ist, verstärkt den schmerzlichen Charakter noch. Sie beschreibt einen gebrochenen Fis-Dur-Dreiklang, so dass sich ein bitonales Gebilde ergibt, das die im Quintenzirkel am weitesten voneinander entfernten Tonarten zusammenzwingt: eine scharf dissonierende musikalische Formulierung von extremer Spannung, das Bild einer zerrissenen Existenz – Petruschka.

Und tatsächlich: Der Held von Strawinskys Stück ist ein Widerspruch in sich. Er ist eine beseelte Gliederpuppe, ein gleichzeitig mechanisches und gleichzeitig empfindungsbegabtes, liebesfähiges Wesen. Sein schmerzverzerrtes Motiv, das am Anfang des zweiten Bilds zum ersten Mal auftritt, durchzieht von da an die Partitur in allen denkbaren gestischen Variationen von hoffnungsloser Traurigkeit bis zum verzweifelten Aufschrei, der in manischer Wiederholung das ganze Orchester in Aufruhr versetzt. Und je öfter man es hört, desto deutlicher wird, dass Strawinsky die unglückliche Marionette durch dieses scheinbar simple Motiv zu einem umfassenden Sinnbild der menschlichen Existenz gestaltet hat: der Existenz als biologisches Wesen einerseits, das den natürlichen Abläufen unterworfen ist, und als geistiges mit Selbstbewusstsein und eigenem Willen ausgestattetes andererseits, das fortwährend mit diesen über- mächtigen Kräften im Kampf um seine Selbstbehauptung liegt.

Noch eine andere, eine soziale Dimension lässt sich in Petruschkas innerem Konflikt ausmachen: Er ist der Knecht, der widerspruchslos den Befehlen seines Herrn folgen muss – bis er dem Zwang schliesslich entrinnt: Ganz am Ende, wenn der Schaubudenbesitzer den zerschmetterten Leichnam der «entseelten» Gliederpuppe von der Bühne schleift, erscheint Petruschkas Geist auf dem Dach des kleinen Theaters – befreit aus dem Leib, der fremdem Willen unterworfen war. Nun sind es zwei grell klingende Trompeten, die Petruschkas Fanfaren-Motiv spielen, und die Quartschritte am Ende sind kein Hilfeschrei mehr, sondern geraten zu einem kleinen aggressiven Tänzchen im fünfteiligen Metrum, das für die Musik des russischen Volkes so typisch ist: Petruschka droht dem Besitzer, der sich verängstigt in seine Schaubude verkriecht. Was mit dieser Drohung gemeint ist, kann niemand sagen, aber es ist unüberhörbar: Dieses «Peterchen» (ist es ein Zufall, dass der Titelheld des Stücks denselben Namen trägt wie jener Zar, der Russland zur Weltmacht formte?) hat es faustdick hinter den Ohren, mit ihm wird man noch rechnen müssen. Wir schreiben das Jahr 1911…

Text von Werner Hintze

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 42, September 2016
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