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Vivaldi / Verdi

5. Philharmonisches/2. La Scintilla-Konzert

Giuseppe Verdi
I vespri siciliani, Ballettmusik

Antonio Vivaldi
Le quattro stagioni

Dauer 1 Std. 50 Min. inkl. Pause nach dem 1. Teil nach ca. 40 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.

Gut zu wissen


Die geniale Stelle


Der Sturz des Angebers

Eine Stelle in Antonio Vivaldis Violinkonzert «Der Winter»

Wer einmal beim Schlittschuhlaufen gewesen ist, kennt ihn bestimmt: Den König der Eisbahn, den mit den teuersten Schlittschuhen und der schicksten Kleidung, der seine Runden dreht, kleine Pirouetten und gewagte Sprünge einlegt und nur eins zu be­dauern scheint: dass das Eis kein perfekter Spiegel ist, in dem er sich selbst ebenso begeistert bewundern kann, wie er es sich von den anderen Schlittschuhläufern gern gefallen lässt.

Im letzten Satz seines Violinkonzerts mit dem programmatischen Titel Der Winter porträtiert Antonio Vivaldi diesen Typus des schlittschuhbewehrten Angebers, den es mit Sicherheit seit der Erfindung der Schlittschuhe gibt. Lange, weit ausgreifende Linien der Solovioline schildern die möglichst raumgreifend angelegten Bahnen des Schlittschuhläufers. Das Orchester steuert nur einen langen Orgelpunkt bei: Die Umstehenden schauen staunend und vielleicht ein wenig neidisch zu, was der Mann so alles kann. Die Bewunderung spornt den Läufer an: noch ein paar schwungvolle Kreise, einige Trippelschritte, noch eine gewagte Drehung und pardauz… Da liegt er. Der unvermeidliche und von den Zuschauern heimlich mit diebischer Vorfreude erwartete Moment ist gekommen: Ein niederstürzender Lauf des ganzen Orchesters schildert den Sturz des Angebers, der ziemlich unelegant aufs Eis plumpst. Ein paar abgerissene Figuren malen die erfolglosen Versuche, schnell wieder auf die Beine zu kommen, und schliesslich das schadenfrohe Gelächter der Umstehenden. Auch solche Schadenfreude gehört zu den Genüssen des Winters, die Vivaldi in seinem Konzert schildern wollte.

Derartige musikalische Malerei ist durchaus umstritten. So mancher Spezialist rümpft darüber die Nase und erklärt mit erhobenem Zeigefinger, dass es die holde Kunst der Musik entwürdige, wenn sie zur Schilderung banaler Vorgänge des Lebens missbraucht werde. Aber auch der kritischste Kenner wird immer wieder dem Charme erliegen, mit dem Vivaldi in seinen Vier Jahreszeiten kleine und meist witzige Geschichten musikalisch zu erzählen weiss. Und zweifellos liegt gerade hierin der Grund der ungeheuren Popularität dieser Werke.

Aber welchen Sinn hat es, eine so simple Geschichte musikalisch zu erzählen, die, wenn man sie in Worten wiedergibt, eigentlich nicht besonders interessant ist? Warum hört man ihr gern zu, wenn sie im Gewand eines Violinkonzerts daherkommt? Es gibt sicher viele mögliche Erklärungen dafür, aber die beiden wichtigsten Gründe sind wohl, dass es Menschen Freude macht, wenn ihre Phantasie angeregt wird, und dass sie gern Rätsel lösen. Und am beliebtesten sind Rätsel, die zu ihrer Lösung Phantasie erfordern. Das Rätsel, das der Hörer zu lösen hat, ist aus den musikalischen Strukturen das Geschehen zu entnehmen, und das geht nur, wenn er in seiner Phantasie die Bewegungen entstehen lässt, die die Musik evoziert. Vivaldi macht dem Hörer das Vergnügen, in der Musik den eitlen Eisläufer und seine Blamage zu entdecken und dem Hörer ein dankbares Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Und der Hörer dankt ihm mit der Liebe zu dem Werk, das ihm solchen bereichernden Genuss bereitet hat.

P. S.: Wer das der Komposition zugrundeliegende Sonett kennt, weiss, dass es die Geschichte anders erzählt. Es gehört auch zum Reiz solcher musikalischen Erzählungen, dass sie die Phantasie gleichzeitig herausfordern und befreien: Die Musik regt zu ihrer spielerischen Deutung an, und der Hörer mag es geniessen, bei jeder neuen Begegnung andere Geschichten zu entdecken, von denen keine falsch oder etwa die einzig wahre ist.


Text von Werner Hintze.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 67, März 2019.
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