Pelléas et Mélisande

Die Aufnahme ist von Freitag, 19. Juni bis Sonntag, 21. Juni 24.00 Uhr verfügbar sein.

Untertitel sind auf Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch verfügbar. Um die Untertitel einzublenden, wählen Sie im Vimeo-Player das mit CC gekennzeichnete Feld.

Diese Pelléas et Mélisande-Produktion aus dem Opernhaus Zürich sollte als eine der innovativsten Produktionen von Dmitri Tcherniakov in Erinnerung bleiben. Vergessen Sie Brunnen, Höhlen, Wald, Schlösser und Türme: Hier wird die Dichte der Symbolik von Maurice Maeterlinck und Claude Debussy zum Ausgangspunkt einer analytischen Reise in den menschlichen Geist: Es ist nun der Psychoanalytiker «Doktor» Golaud, der die Geheimnisse von Melisande aufdecken muss. Ein unglückliches und traumatisiertes Geschöpf das er nach Hause bringt und dessen Schweigen und rätselhafte Haltung ihn schließlich an den Rand des Wahnsinns bringen.

Diese Produktion ist auch der Anlass für ein Wiedersehen zwischen Dmitri Tcherniakov und dem französischen Dirigenten Alain Altinoglu. Der präzise, analytische, aber auch nuancierte und poetische Staffelstab von Altinoglu erweist sich als die bestmögliche Antwort auf Tcherniakovs subtile Erforschung der menschlichen Psychologie. Corinne Winters als Melisande, Jacques Imbrailo als Pelléas und vor allem Kyle Ketelsen als Golaud verkörpern mit einem glühenden Realismus diese von einer Form des Bösen und der Gewalt geplagten Figuren, die wir nie ganz verstehen werden.

Eine Produktion von BelAir Classiques in Kooperation mit Opernhaus Zürich.

Trailer «Pelléas et Mélisande»

Besetzung

Alain Altinoglu Dirigent
Dmitri Tcherniakov Inszenierung und Bühne
Elena Zaytseva Kostüme
Gleb Filshtinsky​​​​​​​ Lichtgestaltung
Tieni Burkhalter Video-Design
Jürg Hämmerli Choreinstudierung

Brindley Sherratt Arkel
Jacques Imbrailo Pelléas
Kyle Ketelsen Golaud
Damien Göritz Yniold
Charles Dekeyser Ein Arzt
Corinne Winters Mélisande
Yvonne Naef Geneviève
Reinhard Mayr Pelléas' Vater

Philharmonia Zürich
Zusatzchor der Oper Zürich
Sopralti der Oper Zürich


Gespräch


Einen Ausweg gibt es nicht

Debussys einzige Oper «Pelléas et Mélisande», uraufgeführt 1902 in Paris, ist ein Werk voller Andeutungen, in dem viel geredet, aber noch mehr verschwiegen wird. Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov hat eine ganz eigene Interpretation für dieses Stück entwickelt. Ein Gespräch vor der Premiere im Mai 2016.

Dmitri Tcherniakov, für das Opernhaus Zürich entwickeln Sie eine Neuinterpretation von Debussys Oper Pelléas et Mélisande. Was hat Sie an diesem rätselhaften Stück besonders interessiert?
Der Schriftsteller Maurice Materlinck, von dem die Vorlage zu Debussys Pelléas et Mélisande stammt, hat mich schon interessiert, bevor ich die Oper kennengelernt habe. Der Oper bin ich erst relativ spät begegnet; in Russland wurde sie praktisch nie aufgeführt, es gibt dafür keine Tradition und dementsprechend auch keine Rezeptionsgeschichte. Ich hörte nur einige Aufnahmen, und selbst die habe ich erst sehr spät kennengelernt. Ich kannte also dieses Werk nur über das Hören, nicht über das Sehen, hatte nie irgendwelche szenischen Bilder vor Augen, und ich hatte lange Zeit Mühe, mir überhaupt vorzustellen, wie diese Oper aussehen könnte.
Das Stück hat mir immer etwas Angst gemacht, weil es mir so vorkam, als verweigere es sich einer szenischen Darstellung. Für die Auseinandersetzung mit einem Werk ist gerade das für mich dann aber ein wichtiger Antrieb: Es reizt mich,wenn ich es mit etwas zu tun habe, das nicht offensichtlich ist, sondern vernebelt, verwirrend, das auf den ersten Blick nicht logisch erscheint. Im Falle von Pelléas et Mélisande bereitet mir schon allein der Prozess des Enträtselns, des Aufhellens grosses Vergnügen.

Auf den ersten Blick scheint die Geschichte einfach: Im Wald trifft Golaud zufällig auf ein junges Mädchen, Mélisande, die an einem Brunnen sitzt und weint. Er nimmt sie, die offensichtlich allein ist und nirgendwo hin gehört, zur Frau und bringt sie nach Hause zu seiner Familie. Dort lernt Mélisande Golauds Halbbruder Pelléas kennen, die beiden verlieben sich ineinander – es kommt zu einer tragischen Dreiecksgeschichte, in deren Verlauf Golaud seinen Halbbruder aus Eifersucht ersticht. Schliesslich stirbt auch Mélisande, nachdem sie ein Mädchen zur Welt gebracht hat. Unter der Oberfläche dieser scheinbar einfachen Geschichte verbirgt sich jedoch viel mehr. Worum geht es für Sie in diesem Stück?
Ich möchte in einem Interview, das der Zuschauer liest, bevor er die Aufführung sieht, nicht meine Absichten erläutern. Es würde wirken, als ob die Aufführung nicht für sich selbst sprechen könnte, wenn man eine Einführung, Erklärungen oder sogar eine Bedienungsanleitung braucht, um sie zu verstehen. Aber wenn ich kurz zusammenfassen soll, was für mich das Interessanteste an dieser Oper ist, dann würde ich sagen, es ist das hochkomplizierte psychologische Puzzle, das unter der scheinbar einfachen Geschichte verborgen ist, die Verschlingung von Ängsten, Schuldgefühlen, Traumata, Komplexen, häuslicher Gewalt, die Abwesenheit von Empathie, Flucht vor der Realität, Manipulation, Illusionen, Neurosen, die Tatsache, dass sich gewisse Dinge im Leben immer wiederholen. Und wie die Figuren in dieser Oper versuchen, selbst mit all dem zurechtzukommen, all das erforschen, kontrollieren wollen. Und was dabei herauskommt.

Wie beginnen Sie die Auseinandersetzung mit einem Werk?
Die Inszenierung setzt sich jedes Mal anders in meinem Kopf zusammen. Wichtig ist mir aber immer die Vorbereitung. Zuerst möchte ich alles gründlich studieren, anschauen, überprüfen, durchdringen, widerlegen. Nicht alle diese Bücher, die ich zur Vorbereitung lese, brauche ich auch nachher, und es kommt sogar vor, dass die Konzeption der Inszenierung am Ende dann aus anderen Impulsen entsteht, die mit dem Studium dieses ganzen Materials gar nichts zu tun haben. Trotzdem ist es mir wichtig, das zu machen. Neben all den Informationen, die ich dadurch bekomme, habe ich auch das Gefühl, meine Arbeit durch diese ausführliche Vorbereitung zu legitimieren, ja dadurch überhaupt erst das Recht zu haben, eine eigene Konzeption zu entwickeln. Manchmal ist das für mich wie ein Ritual, das ich streng befolgen muss. Es kommt sogar vor, dass ich den Ort besuche, an dem die Oper spielt, egal, wie weit er entfernt ist, wie ich das zum Beispiel während der Vorbereitung zu Dialogues des Carmélites gemacht habe, als ich nach Compiègne in ein Karmelitisches Kloster gereist bin, um mich dort mit den Nonnen zu unterhalten. Die Inszenierung selbst ist dann am Ende ganz unabhängig von dieser historischen Basis entstanden, aber ich fühlte mich besessen davon, diese vorbereitenden Rituale durchzuführen. Um die Konzeption entwickeln zu können, muss ich immer zuerst das Thema des Ganzen erspüren. Nicht das Bild, nicht die Atmosphäre, nicht die Charaktere, sondern das Thema. Wenn ich das spüre, geht es schnell voran, und alles, was dann kommt (die Visualisierung, die Bühnensprache und so weiter), muss dieses zuvor formulierte Thema weiterentwickeln.

Sie sind auch Bühnenbildner und entwerfen für Ihre Inszenierungen Ihre Bühnenbilder immer selbst. Pelléas et Mélisande spielt laut Libretto zunächst im Wald an einem Brunnen, später in einem mittelalterlichen Schloss, dann in einer Grotte, am Meer. Sie haben sich entschieden, die Geschichte in einem modernen, zeitgenössischen Apartment anzusiedeln. Warum?
Ich wüsste nicht, wie man all das, was das Libretto als Schauplätze vorgibt, heute auf die Bühne bringen sollte. Und wozu auch? Der musikalische, verbale und symbolische Sinn all dieser Dinge ist so stark und so suggestiv, dass es eine Verdopplung auf der Bühne gar nicht braucht. Der Zuschauer hört doch all das in der Musik und versteht den gesungenen Text! Ich bin immer dafür, nicht alles zu zeigen, nicht alles vorzukauen. Wichtig ist es, dem Zuschauer einen Link anzubieten, einen Impuls, damit sich die Geschichte in seiner Fantasie erschliesst. Seiner eigenen Fantasie wird er mehr vertrauen, als vorgegebenen Bildern auf der Bühne.

Über Mélisande erfahren wir in der Oper nur, dass ihr etwas Schreckliches widerfahren ist – was genau dieses Schreckliche ist, erfahren wir nicht, denn sie kann selbst darüber nicht sprechen. Wer ist dieses junge Mädchen in Ihrer Interpretation?
Eine sehr geheimnisvolle Figur, nicht nur für die Zuschauer, sondern auch für alle anderen Figuren in diesem Stück! Vieles in der Entwicklung dieser Geschichte geht auf den Wunsch der anderen Figuren zurück, herauszufinden, wer Mélisande ist, wo sie herkommt, was mit ihr passiert ist. Sie sagt nichts über sich selbst, anfangs ist es für sie schwierig, überhaupt zu jemandem Kontakt aufzubauen.
Aus ihrem Verhalten wird jedoch klar, dass irgendein Drama hinter ihr liegt, ein Trauma, eine persönliche Erfahrung, die sie quält. Es ist nicht so, dass sie diese Erfahrung absichtlich verbirgt; sie ist einfach nicht in der Lage dazu, darüber zu sprechen. Sie verdrängt das Erlebte in ihr Unterbewusstsein. Sie ist sich dessen nicht bewusst; es klafft ein Riss zwischen ihrem Bewusstsein und ihrem Unterbewusstsein. Sie ist weggelaufen, sie konnte sich retten. Wir können nur Vermutungen darüber anstellen, wovor sie davongelaufen ist und was sie erlebt und gesehen hat. Klar ist, dass es etwas aussergewöhnlich Schreckliches gewesen sein muss, das etwas in ihr zerstört hat und ihr das Leben zum Albtraum machte. Klar ist auch, dass dieses Erlebnis mit Gewalt zu tun hat. Anfangs hatte ich mehrere Vermutungen, vor welchem Schreckensbild sie weggelaufen sein könnte. Ich dachte an die Flucht vor einem Krieg, der plötzlich ausgebrochen war, an Flüchtlinge, Menschen, die eine Katastrophe erlebt haben. Aber keines dieser Bilder grosser sozialer Unbilden erwies sich als organisch. Hier ist eine höchst persönliche Geschichte verborgen, ein Trauma, eine persönliche Erfahrung mit brutaler Gewalt.

In Ihrer Inszenierung hat Golaud Mélisande mit nach Hause genommen, weil er überzeugt ist davon, dass er ihr helfen kann – und weil er sich in sie verliebt hat. Wer ist Golaud in Ihrer Interpretation, und ist er wirklich in der Lage dazu, Mélisande zu helfen?
In unserer Aufführung sind die Figuren, die in diesem Haus in Allemonde leben, hochgebildete, erfahrene, intellektuelle zeitgenössische Menschen. Zielgerichtet analysieren sie Probleme, erstellen eine Diagnose, verschreiben Therapien. Sie spielen meistens nach bestimmten Regeln, bemühen sich sogar, bestimmten Therapie-Methoden zu folgen, ohne die emotionale Ebene mit einzubeziehen. Aber sie werden dabei von Kräften geleitet, die ihnen nicht bewusst sind, weil sie in ihrem Unterbewusstsein verborgen sind. Die Musik liefert dabei den Ausdruck für dieses Unterbewusste. So ist es auch bei Golaud. Er trägt eine solch schwere, unausgesprochene Last aus seiner eigenen Vergangenheit mit sich herum, dass er wohl kaum derjenige sein kann, der Mélisande aus ihrer Dunkelheit herausführt, obwohl er so viel für sie empfindet. Er selbst muss gerettet werden.

Mélisande verliebt sich in Golauds Halbbruder Pelléas – die Geschichte endet tragisch. Wer ist Pelléas in Ihrer Inszenierung, und was für eine Beziehung hat er zu seinem Halbbruder?
Das Liebespaar Mélisande und Pelléas ist kein traditionelles Liebespaar, kein liebendes, wunderbares und leidendes Paar. Alles zwischen ihnen ist kompliziert. Wie übrigens auch zwischen allen anderen Mitgliedern dieser Familie, in der so viele Geheimnisse und Konflikte aus der Vergangenheit verborgen sind. Man könnte sogar sagen, es gibt hier gar keine wirkliche Familie – es sind vielmehr nur noch die Splitter früherer familiärer Verbindungen, die vom Schicksal dazu bestimmt wurden, zusammenzuleben. Nicht umsonst ist Pelléas besessen von dem Gedanken, von dort wegzugehen, sich loszureissen, aber er kann es einfach nicht. Und wird es auch bis zum Schluss nicht schaffen. Die Wärme familiärer Verbindungen gibt es nicht zwischen diesen Figuren. Und am wenigsten zwischen den beiden Brüdern.

Nicht nur Mélisandes Herkunft und ihre Vergangenheit bleiben rätselhaft – diese Oper hält darüberhinaus noch viele weitere Rätsel und Geheimnisse bereit. Was denken Sie, sollte man als Regisseur alle diese Rätsel lösen, alle offenen Fragen beantworten? Oder sind es nicht sogar die vielen Andeutungen und unausgesprochenen Dinge, die den Reiz des Stückes ausmachen?
Mir persönlich ist es immer sehr wichtig, alles so genau wie möglich zu verstehen und wenn möglich auch dem Zuschauer diese Klarheit zu vermitteln. Aber nicht alle Antworten, die ich für mich gefunden habe, kann ich auch mit theatralischen Mitteln zeigen. Oft kommt es vor, dass ich mit den Sängerinnen und Sängern während der Proben Antworten auf einige Fragen finde und der Zuschauer das dann nicht alles lesen kann. Aber trotzdem ist es mir wichtig, dass die Künstler so viele Informationen wie möglich zu ihren Figuren haben. Es gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Rollen auf der Bühne bewusster zu spielen.

Am Schluss der Oper bekommt Mélisande eine Tochter, sie selbst stirbt. Es scheint, als beginne alles von vorne, als gäbe es keinen Ausweg aus all dem Schrecklichen, das hier passiert ist, als würde sich beinah zwangsläufig alles wiederholen. Ist das wirklich so? Oder wie könnte ein Ausweg aussehen? Natürlich wird sich alles wiederholen, so wie sich auch das Trauma und die Gewalt in der Geschichte Mélisandes wiederholt, wohin sie auch wegläuft, wer auch immer ihr Obdach, Schutz oder Rettung anbietet. Und auch in Golauds Beziehungen zu Frauen wiederholt sich alles. Eine Antwort zu geben auf die Frage, welchen Ausweg es für diese Figuren geben könnte, liegt ausserhalb der Möglichkeiten des Theaters.


Das Gespräch führte Beate Breidenbach.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 39, April 2016.
Das MAG können Sie hier abonnieren.


Fotogalerie

 

Pelléas et Mélisande


Volker Hagedorn trifft...


Corinne Winters

Corinne Winters debütierte am Opernhaus als Mélisande in Dmitri Tcherniakovs Inszenierung von «Pelléas et Mélisande». Volker Hagedorn traf die junge Amerikanerin während den Proben 2016.

«Je suis malade ici...», singt Mélisande, «mir geht es hier nicht gut.» «Du bist krank?», fragt Golaud und tritt einen Schritt auf sie zu, die auf dem Sofa sitzt. Da springt der Mann auf, der am Rand gehockt hat, hebt die Hand, unterbricht. Da sei doch eine Fermate in der Partitur, ein kleiner Freiraum im Tempo, «I like it, this Fermata, we have to use it!» Für Regisseur Dmitri Tcherniakov zählt jede Note, jede Pause, jeder Schritt, jede Geste, jeder Hauch einer Nuance. Nochmal! Mehr Verunsicherung in den Gang, zugleich Eifer, Kyle Ketelsen versucht es. An dieser Stelle beginnt Golaud zu ahnen, dass Mélisande ihn nicht liebt. Und so, wie sie da sitzt, würde sie gern weggehen und kann nicht. Corinne Winters strahlt die ganze Ambivalenz dieser jungen Frau aus, zierlich, bildschön, sie reflektiert Golaud wie ein dunkler Spiegel, sie antwortet knapp auf seine Fragen. Hat ihr jemand wehgetan? «Ce n’est pas cela», nein, das ist es nicht. Möchte sie ihn loswerden? «Oh! Non, ce n’est pas cela.» Zu diesen Tönen wird sie mir später noch einiges erzählen.

Wer sie in der Probe draussen an der Hardturmstrasse erlebt, käme nicht auf die Idee, dass sie erst vor fünf Jahren zum ersten Mal als Profi auf einer Opernbühne stand, eingesprungen als Auszubildende am Theater von St. Louis, Missouri: Corinne, Tochter eines Rechtsanwalts und Hobbyrockmusikers aus einem Vorort von Washington. Mit ihm sang sie, 1983 geboren, Beatleslieder, sie teilten sich die Parts von John und Paul. «Ich wusste nur, ich habe eine Stimme, und wollte singen.» Ehe sie ans College ging, um Musik zu studieren, nahm sie eine Gesangsstunde, «da war ich siebzehn oder achtzehn. Die Lehrerin sagte, du hast eine grosse Stimme, den operatic sound. Ich sagte, ich mag keine Oper. Wenn Sie nämlich in einer Familie aufwachsen, die keinen Kontakt zur Klassik hat, erfahren Sie in den USA nichts über Oper. Das ist dort nicht Teil der Kultur.» An der Towson University erfuhr sie mehr. «I got hooked», meint sie, «ich hatte angebissen.» Und sie entdeckte, dass sie nicht Mezzosopran ist, sondern Sopran. «Als ich meine erste Sopranarie sang, dachte ich, ja, das bin ich. Es braucht dafür noch mehr Verletzlichkeit, Subtilität, Wahrhaftigkeit. Das brauchen natürlich alle Sänger, aber bei Sopranistinnen liegt das Herz offener, heart on sleeve.» Sie geriet an die richtigen Leute, Kurse, Stipendien, schliesslich nach St. Louis. Da wurde eine Mélisande schwanger, und Corinne sprang ein, «aber es war ein komplett anderes Stück als hier, denn wir sangen auf Englisch». Der Dirigent empfahl ihr, doch einfach mal in London vorzusingen, wo er Kontakte hatte. Die English National Opera brauchte eine Violetta. Na dann! Mit dem Geld eines Stipendiums finanzierte sie die Reise. Sie bekam die Rolle.

Der Regisseur war Peter Konwitschny, die Traviata im Januar 2013 mit der unbekannten Amerikanerin in der Hauptrolle wurde ein Triumph, im Publikum sassen der Regisseur Dmitri Tcherniakow, die Zürcher Operndirektorin Sophie de Lint und so viele andere wichtige Leute, dass Corinne Winters fortan den Terminkalender eines Stars hatte, darin Produktionen wie Benvenuto Cellini mit Regisseur Terry Gilliam in London und jüngst der Antwerpener Otello mit Corinne als Desdemona, inszeniert von Michael Thalheimer. «Alle diese Regisseure, von Konwitschny bis zu Tcherniakov, sind Erneuerer», meint sie. «Sie investieren viel Zeit in jede Zeile, um neues Licht auf ein Stück zu werfen».

In Zürich ist Golaud ein Psycholanalytiker, der sich in seine traumatisierte Patientin verliebt. Takt für Takt arbeiten sie sich durch den zweiten Akt, mit Klavier, während draussen die Aprilsonne über Zürich strahlt. Immer wieder springt der Regisseur mit den gelben Turnschuhen und den schwarzen Klamotten auf, erklärt, macht vor, ruft, was ihm auf Englisch nicht einfällt, auf Russisch der Übersetzerin zu. Er rückt Mélisande auf die Pelle: So soll Golaud, verzweifelt, verunsichert, sie liebkosen, so ihre Hände nehmen. Sie wird nicht geschont. «Ich mag das», sagt sie. «Dmitri ist sehr intensiv, aber auch sehr ernsthaft, er weiss genau, was er will. Manchen ist diese Arbeitsweise zu anstrengend, mir nicht.»

Hat sie ein eigenes Konzept von einer Rolle, ehe die Produktion beginnt? «Es ist wichtig, mit einem Konzept zu kommen. Sonst gibt es nicht wirklich einen Dialog mit dem Regisseur.» Zudem helfe ihr die eigene Vorstellung, die Töne zu gestalten. «Da gibt es diesen Satz ‹Ce n’est pas cela›. Das erste Mal steht er im Piano. Ein Piano denkt man sich normalerweise delikat, aber hier ist es mit starker Emotion verbunden, ich singe es wie durch die Zähne. Man muss das, was der Komponist schrieb, übersetzen in Körper und Ausdruck, man muss die Kontraste, die Ironie herausfinden. Es entsteht ja auch selten Magie, wenn Sachen offensichtlich und eindeutig sind. Es sollte Widerspruch darin sein.» Und es muss nicht immer schön sein, findet sie. Darum verehrt sie Maria Callas, die in ihrer Londoner Wohnung einen Ehrenplatz an der Bilderwand hat. «Sie hatte den Mut, auch einen ugly sound zu produzieren, wenn es für das Drama gut war. Ihre Stimme war von Natur aus nicht so schön wie die von Renata Tebaldi, die ist auch eine meiner Lieblingssängerinnen. Aber Callas stellte sich hinter die Musik. Sie sang jedes Komma, das in der Partitur steht, sie sah sich als Gefäss der Musik, als Dienerin, das ist bei mir genauso, auch wenn ich keine Callas bin», sie lacht. Aber selbst die Aufnahmen solcher Heroinen sind nur ein Schatten von dem, was Corinne Winters für das Wichtigste an Opern hält.

Wir kommen darauf, weil sie im vergangenen November gemeinsam mit ihren Kollegen in London eine Vorstellung von La bohème den Opfern der Pariser Anschläge widmete und ich wissen möchte, ob die Gewalt in der Welt sich auswirkt auf ihr Selbstverständnis als Künstlerin. «Zuerst denkt man, du spielst hier auf der Bühne herum, und anderswo sterben die Leute. Ist es wichtig, was ich tue? Aber Kunst ist das, was alle gemeinsam haben, art changes lives. Kunst bereichert die Menschen wie nichts anderes, ich würde das ohne Gage tun, wenn ich könnte. Ich glaube, man kann mit Oper das Leben ändern.» Warum? «Es geht um die basic emotions, um Liebe, Tod, Trauma, Sex, Krieg, Schmerz.»

Aber findet man die nicht ebenso in Büchern, Filmen, Theaterstücken? «Ich liebe diese Frage. Damit kommen wir zum Wesentlichen. Es geht um live opera, nicht um Aufnahmen. Die unverstärkte menschliche Stimme zu hören, mit der jemand im grossen Raum singt, ohne Mikrofon», sagt sie sehr ernst, «verändert die Moleküle in den Körpern. Der unmittelbare Einfluss einer Oper ist intellektuell, emotional, spirituell, körperlich. Und dann gibt es das, was wir the singer’s formant nennen, diese akustische Energie bei bestimmten Frequenzen, mit denen Opernsänger über ein ganzes Orchester hinweg zu hören sind. Das hat etwas Spirituelles.» Sie lacht: «Offensichtlich bin ich ganz schön passioniert!»

Mit der Leidenschaft für ihren Job fühlt sie sich in London besser verstanden als in den USA, «deswegen bin ich hingezogen. Die regelmässigen Operngänger sind da viel jünger als anderswo, ich habe auf Twitter viele getroffen, die in ihren Dreissigern und frühen Vierzigern sind. In den USA liegt der Durchschnitt bei 65 bis 70, mit Anfang fünfzig ist man da noch sehr jung.» Zudem, da ist sie ziemlich streng mit ihren Landsleuten, gehe alles nach convenience, Bequemlichkeit. Wem etwas zu lange dauere, der gehe mittendrin, ob beim Rockkonzert oder in der Oper. Szenisch wollten es die meisten nur schön haben. «In Europa kennen die Leute mehr, sie wollen herausgefordert werden.»

Dann sind sie bei Tcherniakov richtig. Und während der Zaungast nach drei Stunden Probe schon die eigenen Traumata spürt, sprüht Corinne Winters vor Energie. Dieser Mélisande geht es hier richtig gut, seit dem «first day of school for @ operazuerich pelleas», wie sie zum Probenstart twitterte. Nur die Preise in Zürich machen ihr zu schaffen: «Das ist hier noch teurer als London!»


Text von Volker Hagedorn.
Foto von Rebecca Fay.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 39, April 2016.
Das MAG können Sie hier abonnieren.