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Anna Bolena

Gaetano Donizetti (1797-1848)
Lyrische Tragödie in zwei Akten
Libretto von Felice Romani nach dem Drama «Henri VIII»
von Marie-Joseph de Chénier

In italienischer Sprache mit deutscher und englischer Übertitelung. Dauer ca. 3 Std. 20 Min. inkl. Pause nach dem 1. Teil nach ca. 1 Std. 30 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
Die Einführungsmatinee findet am 21. November 2021 statt.

Gut zu wissen

Donizettis Anna Bolena gehörte zu den Paraderollen der kürzlich verstorbenen Edita Gruberova. Im Gedenken an die Sopranistin widmet ihr das Opernhaus die Premiere seiner Neuproduktion.

Mehr zu Edita Gruberova

Trailer «Anna Bolena»

Interview


Sex, Crime und Royalty

Der amerikanische Regisseur David Alden inszeniert mit «Anna Bolena» jetzt die zweite der drei Königinnen-­Opern von Gaetano Donizettti am Opernhaus Zürich. Seine Begeisterung über die packenden Charaktere vor historischem Hintergrund ist ungebrochen.

David, in Anna Bolena befinden wir uns in der Welt der Tudors, die bis heute eine grosse Faszination auf das Publikum ausübt. Seien es Filme oder literarische Werke zu diesem Thema – jede neue Publikation kann mit einem ungebrochenen Publikumsinteresse rechnen. Warum bekommen wir nie genug von diesen alten Geschichten? 
Das liegt sicher an dieser unwiderstehlichen Mischung aus Sex, Crime und Royalty. Gerade so eine blutige Periode in der Geschichte der Tudors, wie sie in Anna Bolena beschrieben wird, ist natürlich besonders attraktiv und jagt uns immer wieder angenehme Schauer über den Rücken. Anne Boleyn wurde am 19. Mai 1536 enthauptet. Obwohl diese Ereignisse gut 500 Jahre zurückliegen, ist die Geschichte um dieses Königspaar immer noch von grosser Brisanz. Ich finde, dass man die Verbindung von Anne Boleyn und Henry VIII. durchaus mit jener von Meghan Markle und Prinz Harry vergleichen kann. Meghan hat ganz offensichtlich viel mit Harry vor und scheint ihn ähnlich zu dominieren wie Anna Bolena König Heinrich. Anne Boleyn war eine sehr kluge und geistreiche Frau, die eigene ehrgeizige Ziele mit Henry verfolgte. Schon allein die Tatsache, dass er sie überhaupt geheiratet hat! Sie hat das sehr geschickt eingefädelt und sich Henry erst in dem Moment wirklich hingegeben, als er sie zur Frau nahm. Das erinnert mich ein wenig an Prinzessin Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht, die den König mit ihren spannenden Geschichten so lange hinhielt, dass er sie am Leben liess und sie am Ende sogar heiratete. Das Blatt wendete sich dann für Anne Boleyn allerdings sehr bald, nachdem sie Henry keinen Thronfolger schenken konnte. Von dieser Idee war er geradezu besessen. Da die Sicherung der Erbfolge mit Anne nicht zu erreichen war, musste er sie loswerden. Alles, was sie sich bis dahin so mühsam erarbeitet hatte, fiel in sich zusammen. Politisch war sie sehr aktiv gewesen, nachdem Henry mit dem Papst und der katholischen Kirche gebrochen hatte und die anglikanische Kirche gegründet wurde. Zuvor hatte sie bereits viel Energie darauf verwendet, Henrys erste Frau, Katharina von Aragon, loszuwerden. Aber das alles war schliesslich umsonst.

Mit Anna Bolena bringst du in Zürich nach Maria Stuarda die zweite Oper der drei Königinnendramen Gaetano Donizettis auf die Bühne. Welche Stellung hat Anna Bolena innerhalb dieser Trilogie?  
Anna Bolena ist historisch gesehen ja eigentlich der erste Teil der sogenannten Tudor­Opern. Der rote Faden, der alle drei Opern miteinander verbindet, ist die Figur Königin Elizabeths I. In Anna Bolena ist sie noch ein kleines, zweijähriges Kind. In Maria Stuarda erleben wir sie auf dem Höhepunkt ihrer Macht, und in Roberto Devereux tritt uns die gealterte Königin entgegen. In unserer Inszenierung haben wir uns jetzt für ein etwas älteres Mädchen entschieden, auch um deutlich zu machen, wie schrecklich es ist, was dieses Kind an Traumatischem alles erleben musste, vor allem die Ächtung und Hinrichtung der Mutter. Das erklärt vieles, was später den Charakter Elizabeths I. ausmachen sollte, besonders ihre gefährliche, brutale Seite. Zeit ihres Lebens blieb sie trotz des Drucks, der auf ihr lastete, unverheiratet. Es gab wohl junge Männer in ihrem Leben, aber niemand wusste Genaueres über ihr Privatleben. Sie behielt die Fäden der Macht immer in ihren Händen und blieb eine rätselhafte Figur.

Du sagst, dass die junge Elizabeth in deiner Inszenierung etwas älter ist. Wie sehr muss man sich als Regisseur in so einer Oper an die historischen Fakten halten? 
Opern müssen ja nicht wirklich Historie korrekt widerspiegeln, sie lassen sich vielmehr von der Geschichte inspirieren. Historisch gesehen, ist in der Geschichte der Tudors bis heute vieles unklar. Da fehlen Dokumente, und es klaffen zu viele dunkle Löcher, um ein verlässliches Bild gewinnen zu können. Auch die besten Historiker auf diesem Gebiet landen immer an dem Punkt, wo vieles nur noch Spekulation bleibt. Eine italienische, romantische Oper aus der Mitte des 19. Jahrhunderts musste aber in erster Linie von Liebe und Intrige handeln. Es gibt z.B. viele wichtige historische Tatsachen, die überhaupt nicht Eingang in die Oper gefunden haben. Das entscheidende Problem zwischen Anne Boleyn und Henry VIII. – eben, dass sie ihm keinen Sohn schenken konnte – kommt in Donizettis Oper überhaupt nicht vor. Auch die ganze Geschichte mit der Reformation der Kirche – das ist nichts für eine romantische Oper. Aber gewalttätige Aspekte sind für sie interessant. Es gibt dieses berühmte Zitat von Donizetti, der zu einem Librettisten gesagt haben soll: «Gib mir Liebe! Gib mir viel Liebe! Gib mir Gewalt! Mach es leidenschaftlich, gefährlich, aber gib mir Liebe!» Genau darum geht es in diesem Stück.

Was macht die Oper für dich als Regisseur interessant?  
Auch wenn die Oper Anna Bolena heisst, beschränkt Donizetti sein Interesse nicht auf die Titelfigur. Alle sind spannende Charaktere in dieser Oper. Ich bin immer wieder fasziniert, was für ein fantastischer Theaterkomponist Donizetti ist. Bei ihm kann ich mich als Regisseur immer mit ganzer Kraft in die Szenen hineinwerfen. Man spürt jederzeit dieses Bemühen um starke, bühnenwirksame Worte. Es ist pures Drama. Donizetti ist innerhalb des Drei­gestirns mit Bellini und Rossini sicher der grösste Dramatiker, wenn nicht der bedeutendste Komponist. Rossini war als Architekt von Musik, Theater und Oper ein absolutes Genie. Aber vom dramatischen und theatralischen Stand­punkt aus gesehen, bin ich mir da nicht sicher.

An welchem Punkt ihres Lebensweges begegnen wir Anna Bolena in der Oper? 
Donizettis Librettist Felice Romani konzentriert sich in seinem Libretto zu Anna Bolena ganz auf die letzten Tage der Königin. Anne Boleyns Aufstieg zum Thron und das Schicksal ihrer Vorgängerin Katharina von Aragon liegen zu Beginn der Oper bereits Jahre zurück. Die Handlung setzt zu einem Zeitpunkt ein, zu dem sich Heinrich VIII. schon von Anne abgewandt hat und um deren Hofdame Jane Seymour wirbt. Die Vorgeschichte lässt sich aus Dialogen und einigen Passagen des Chores entnehmen und wird, wie die eigentliche Handlung auch, jeder politischen Dimension beraubt. Romani gestaltet auf Grundlage der historischen Fakten ein überaus stringentes, im privaten Konflikt zwischen Anne und Heinrich angesiedeltes Drama, das Dichtung und Wahrheit geschickt verbindet. Anna Bolena wird als Frau gezeigt, die ihre Jugendliebe durch die Heirat mit Heinrich gegen den Thron eintauscht und nun ein tristes Leben am Hofe führt. Im Zentrum der Oper steht für mich allerdings Heinrich VIII., die absolute Verkörperung eines rücksichtslosen Despoten.

In welchem Verhältnis stehen bei Heinrich Staatsräson und sein persönliches Glück als Herrscher?  
Wie er beides unter einen Hut bringt, ist eine spannende Frage. Man kann, denke ich, nicht sagen, dass er das eine kalkulieren muss und etwas anderes fühlt, sondern es ist im Grunde das Gleiche für ihn. Von Anfang an gibt es diese dunkle, unheimliche Seite in ihm. Er ist zunächst noch hin­- und hergerissen zwischen den beiden Frauen. Er fühlt sich Anna noch in gewisser Weise verpflichtet, hat aber in Jane Seymour eine neue Frau gefunden, die ihm möglicherweise einen neuen Thronfolger schenkt. Er verliert sich mehr und mehr in dieser Obsession und wird schliesslich zum Mörder. Heinrich macht im Laufe der Oper eine grosse Veränderung durch. Indem er sich entscheidet, Anna Bolena loszuwerden, wird er zum Monster. Das war er aber am Anfang seines Lebens noch nicht. Der Zufall spielt Enrico, wie er in der Oper heisst, zwei Trümpfe in die Hand, die er gegen Anna verwenden kann. Er überrascht die Königin in einer zweideutigen Situation mit ihrer Jugendliebe Lord Percy und dem Musiker Smeton und lässt sie zusammen mit Annas Bruder Rochefort inhaftieren. Wie der historische Musiker Anne Boleyns gesteht Smeton fälschlicherweise, Ehebruch mit der Königin begangen zu haben, und liefert Heinrich damit einen ersten Anklagepunkt. Der zweite kommt aus Percys Mund, der dem König im Terzett des zweiten Aktes ins Gesicht schleudert, er sei Anna vor ihrer Heirat mit Enrico angetraut worden. Damit ist Annas Schicksal besiegelt, und trotz Giovanna Seymours Fürsprache wird sie zusammen mit Percy, Smeton und Rochefort zum Tode verurteilt.
Mit Diana Damrau habe ich mich heute auch über Maria Stuarda unterhalten, die wir vor drei Jahren hier in Zürich zusammen gemacht haben. Maria Stuart wird am Ende der Oper zwar hingerichtet, bleibt aber bis zuletzt eine starke Figur. Ganz anders Anna Bolena, die am Anfang in der Oper als wunderschöne, junge Königin gezeigt wird, am Schluss dann aber wahnsinnig wird und emotional gebrochen ist.

Warum verlieben sich Anne und Jane ausgerechnet in einen Mann wie Henry?  
Es geht um Macht. Auf die Frage Henrys, was Jane von ihm möchte, sagt sie ganz offen: «Onore e fama!» – Ehre und Ruhm! Sie ist da sehr ehrlich. Es geht nicht um Liebe. In der legendären Aufführung an der Mailänder Scala mit Maria Callas hat man den Text in «Amore e fama» geändert, aber das ist natürlich falsch. Als König Henry Anne Boleyn zum ersten Mal traf, war sie noch mit Henry Percy verlobt. Henry VIII. war zu diesem Zeitpunkt bereits fast zwanzig Jahre mit Katharina von Aragon verheiratet, doch die Ehe bröckelte. Anne wurde für Henry zu seinem neuen Ziel, seinem neuen Fokus. Percy wurde nach Frankreich ins Exil geschickt, es muss schrecklich für Anne gewesen sein. War es dann doch die Macht, die sie lockte? Gerade für Frauen war so eine Verbindung mit einem Mitglied der königlichen Familie ja oft die einzige Möglichkeit, politischen Einfluss zu erlangen. Und man muss betonen, dass Henry als junger Mann durchaus attraktiv war. Er war leidenschaftlich, sehr athletisch gebaut, offenbar ein Bild von einem Mann! Frauen war es auch nicht erlaubt, sich dem König einfach zu verweigern und sich seinen Avancen zu entziehen! Als Anne jünger war und in Frankreich lebte, hatte Henry VIII. übrigens auch eine Liaison mit ihrer Schwester, und auch mit ihrer Mutter wird ihm eine Affäre nachgesagt. Anne Boleyn spielte das Spiel perfekt mit. Sie bekam, was sie wollte – doch zu welchem Preis! Bei Donizetti singt sie: «Ich wollte eine Krone und bekam eine Dornenkrone.» Jane Seymour schenkte Henry endlich den ersehnten Thronfolger, starb aber kurz nach der Niederkunft, und auch Edward VI. wurde nur 15 Jahre alt.

Wie sehr gehst du als Regisseur auf das Potenzial deiner Sängerinnen und Sänger ein?  
Ich würde sagen zu 95 Prozent. Man kann zuhause alles planen, die Musik lernen, verschiedene Aufnahmen mit der Callas oder Leyla Gencer anhören, Geschichtsbücher studieren und eine bestimmte Vision des Stücks haben – doch wenn man dann auf die Probe kommt und die Sängerinnen und Sänger vor sich sieht, ist die Situation eine ganz andere, und es kommt etwas Neues hinzu. Das, was ich mir zuvor angeeignet habe, ist vielleicht noch in meinem Unterbewussten vorhanden. Gemeinsam kommen wir dann aber vielleicht zu ganz aufregenden Ergebnissen, mit denen ich zuvor nie gerechnet hätte.

Aufstieg und Fall von Anna und Giovanna sind bei Donizetti exakt spiegelbildlich konstruiert. Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden, aber noch mehr Unterschiede. Wodurch unterscheiden sich die beiden Frauen?  
Für Jane ist alles, was passiert, äusserst schmerzhaft. Im Grunde schämt sie sich, die Königin zu hintergehen, denn als Hofdame hat sie ja eine persönliche Beziehung zu Anna und fühlt sich schuldig. Im Duett des ersten Aktes gibt sie Enrico zu verstehen, dass sie sich ihm nur als Ehefrau und Königin hinzugeben bereit ist, zum anderen bangt sie um das Schicksal ihrer Herrin, der gegenüber sie sich trotz der persönlichen Rivalität loyal zeigt. Mit Schrecken erkennt sie zu spät, welche Folgen ihr Handeln in dieser politischen Arena hat. Ich finde es aufregend, welche Facetten Karine Deshayes dieser Figur geben kann. Sie ist etwas reifer als die originale Jane Seymour und dadurch eine echte Konkurrenz für Anna. So wird noch deutlicher, dass auch sie Henry im Grunde dominiert. Gleichwohl ist Anna natürlich die viel aufregendere Figur. Sie ist eine Vollblutpolitikerin, eine Titanin. Anne Boleyn war einer der hellsten Köpfe ihrer Zeit. Anhand von Henrys Reaktionen sieht man ja sehr deutlich, wie verschieden die beiden Frauen sind. Es gibt mehrere Situationen, in denen Henry beinahe vor Anna zu fliehen scheint… Anna überfordert Enrico wahrscheinlich mit ihrer Intelligenz und ihrer Macht, die sie sich inzwischen am Hof erarbeitet hat. Dass er sich ihr nicht gewachsen fühlt, zeigt sich besonders deutlich, wenn er sie als Hure beschimpft und sie beschuldigt, mit vielen Männern am Hof Kontakt zu haben. Historisch ist die Faktenlage da völlig ungesichert. In der Oper allerdings ist es sehr klar, dass Anna unschuldig ist und keine Chance im Prozess haben wird.

Nicht nur Anna, sondern auch die drei männlichen Nebenrollen Percy, Smeton und Annas Bruder Lord Rochefort müssen mit ihrem Leben für ihre Beziehungen zu Anna bezahlen. Was kann man über diese Charaktere sagen?  
Das sind drei sehr interessante Figuren, und es sind auch nicht wirklich Nebenrollen, sondern grosse anspruchsvolle Partien. Was Percy betrifft, so lässt ihn Henry ungefähr zehn Jahre nach seinem Verweis aus England zurückkommen, mit dem Ziel, Anna zu kompromittieren. Henry behauptet, Anna habe eine Affäre mit Percy, um sie so anklagen und loswerden zu können. Percy ist kein typischer Tenor der italienischen Romantik. Wenn wir ihn kennenlernen, ist er bereits ein gebrochener, verbitterter Mann – und gefährlich. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich wirkt er fast wie eine tickende Zeitbombe. Irgendetwas wird passieren, das ist klar. Eine interessante, dunkle Figur, die viel Spannung in dieses Stück bringt. Am Ende, wenn er – zu Unrecht – hingerichtet wird, ist sein Tod geradezu eine Erlösung für ihn. Von Marc Smeaton, dem Hofmusiker, gibt es historische Dokumente, in denen er bezeugt, eine Affäre mit Anne Boleyn gehabt zu haben. Darin gesteht er, wie oft er mit ihr Sex hatte, wann und wo. Es gibt Stimmen, die behaupteten, dass er dies unter Folter ausgesagt habe. Als Musiker hatte er natürlich Zugang zu Annas privaten Gemächern, um sie und ihre Hofdamen zu unterhalten. Ein wunderbarer junger Mann, der zur falschen Zeit am falschen Ort war. Lord Rochefort schliesslich, der dem Drama einen weiteren wichtigen Stempel aufdrückt, war sehr eng mit seiner Schwester Anna verbunden. Das Gerücht einer inzestuösen Beziehung steht immer wieder im Raum. Wer weiss, ob das stimmt! Annes Familie stand natürlich geschlossen hinter ihr und hatte durchaus ein eigenes Interesse daran, dass sie Königin werde. Ihr Vater und Lord Rochefort haben Anne Boleyn gleichsam wie eine Spielfigur behandelt.

Vielleicht noch ein paar Worte zur Rolle des Chores. Während der erste Akt von den Männern dominiert wird, spielt der Damenchor im zweiten Akt eine entscheidende Rolle. Sie gehören zwar dem Gefolge Henrys an, doch scheinen sie ihm oft zu widersprechen. Sind sie eine Art innere Stimme Donizettis?  
Der Chor zeigt tatsächlich sehr oft offen sein Entsetzen über Henrys Verhalten. Die Höflinge beobachten, kommentieren ständig, und immer auf eine negative Art. Wenn Anna verurteilt wird, verlangt der Chor von Henry Gnade für sie. Es sei das Grösste, was ein König zeigen könne. Der Chor konfrontiert ihn mit seiner eigenen Moral und seiner Seelengrösse, aber Henry entgegnet sofort, dass nicht Gnade, sondern Gerechtigkeit das Grösste sei, was ein König besitze.

Für Bühnenbild und Kostüme zeichnet Gideon Davey verantwortlich. In welchem Ambiente wird eure Anna Bolena-Inszenierung spielen?  
Die Basis unseres Bühnenbildes ist der grosse weisse Raum, den wir bereits bei Maria Stuarda hatten. In diesem Raum entwickelt sich die Welt Henrys, die 40­-50 Jahre früher anzusiedeln ist. Es ist eine dunkle, gefängnishafte und weniger prachtvolle Welt im Vergleich zur Welt Elizabeths I., die für ein fortschrittliches England stand, auch wenn es bei ihr immer noch eine sehr gefährliche Welt voller Intrigen war. Was die Kostüme angeht, so haben wir uns gegen historische Kostüme im engeren Sinne entschieden, denn die Dinge im britischen Königshaus ändern sich nicht wirklich, die Geschichte hätte auch in den 1940er­/1950er Jahre passieren können. Die Kostüme sind eine fantasievolle Collage aus verschiedenen Epochen der britischen Königsfamilie. Natürlich gibt es Referenzen an die Historie, aber wir gehen damit sehr frei um.

Deinen Stil hast du mal als eine eigenartige Mischung von realistischen Vorgängen, Unterbewusstsein, Ironie, Sarkasmus und schwarzem Humor beschrieben. Bewährt sich dieses Rezept auch bei Anna Bolena?  
Bis zu einem gewissen Punkt, ja. Allerdings funktioniert hier der Aspekt des Humors nicht immer. Ich muss mich da selbst kontrollieren und sehr vorsichtig sein. Wenn man zu ironisch wird, klingt die Musik plötzlich lächerlich und könnte zu einer Parodie von Offenbach oder Gilbert & Sullivan werden. Das darf nicht passieren. Man muss das tragische und spannungsgeladene Element dieser Oper unbedingt herausarbeiten. In den Proben haben wir aber trotzdem grossen Spass und lachen viel.

Das Gespräch führte Michael Küster.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 87, November 2021.
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Pressestimmen

«Im Orchestergraben reimt sich Präzision auf Emotion an diesem Abend – und je schlechter es den Protagonisten geht, desto mehr Wärme strahlt die Musik aus.»
Tages-Anzeiger, 07.12.21

«Was [Diana Damrau], die zu den ganz Grossen ihres Fachs gehört, bei der Premiere an gesanglichen Subtilitäten und darstellerischer Kraft bietet, kann gar nicht mit Worten beschrieben werden.»
NZZ, 08.12.21

«Diana Damrau bewältigt ihre Partie mit Bravour und stolz erhobenem Haupt.»
FAZ, 08.12.21

Interview


Man muss die Kräfte einteilen

Mit Anna Bolena und Giovanna Seymour hat Gaetano Donizetti zwei der berühmtesten Rivalinnen der Opernliteratur geschaffen. Am Opernhaus Zürich werden sie von Diana Damrau und Karine Deshayes verkörpert. Beide debütieren in den Rollen und geben Auskunft über ihre Arbeit.

Diana und Karine, in Donizettis Anna Bolena verkörpert ihr Ann Boleyn und Jane Seymour, die beide als Königinnen und Gemahlinnen von König Heinrich VIII. in die Geschichte eingegangen sind. Wie bewertet ihr diese historische Episode aus der Tudor-Zeit?
Deshayes: Ich finde es eine ziemlich schlimme Geschichte, wie Heinrich VIII. nach seiner Ehe mit Katharina von Aragon Ann Boleyn auf dem Thron installiert, um sie dann nach gerade mal drei Jahren regelrecht zu entsorgen, weil sie ihm keinen Thronfolger schenkt. Giovanna Seymour ist die neue Frau an Heinrichs Seite, es ist eine sehr ambivalente Rolle. Damrau: Aufstieg und Fall von Ann Boleyn liegen tatsächlich sehr dicht beieinander. Am Anfang war das ja eine geradezu stürmische Liebesaffäre mit grosser Leidenschaft. Wenn man heute liest, wie das schliesslich ausging, mag man es kaum glauben. Keine Oper kann sich eine Anklage ausdenken, die so absurd ist wie die gegen Anna. Vorgeworfen wurde ihr wiederholter Ehebruch mit vier Edelmännern, die alle unschuldig mit ihr hingerichtet wurden, sowie Inzest mit ihrem Bruder Rochefort. Unglaublich.

Was heisst es, diese beiden Frauen auf der Bühne darzustellen?
Damrau: Für Donizetti war Anna Bolena damals ein echter Erfolg. Man merkt noch, dass er aus der Belcanto­Tradition eines Rossini kommt, aber er entwickelt doch einen ganz eigenen Tonfall. Diese Belcanto­Opern stehen und fallen mit der Besetzung, und es gibt da ganz unterschiedliche Möglichkeiten der Interpretation. Mit unserer Besetzung hier in Zürich bin ich sehr glücklich, vor allem auch, weil wir mit unserem Dirigenten Enrique Mazzola sehr genau darauf achten, welcher Traditionslinie Donizetti in Anna Bolena folgt. Selbst die dramatischsten Szenen werden bei uns nicht mit Kraft und Schwere aufgeladen, sondern behalten eine gewisse Leichtigkeit und Flexibilität. Annas äussere Situation ist an Dramatik ja nicht zu überbieten. Wir erleben die Königin sozusagen im freien Fall, der letztlich zu ihrem Tod führen wird. Da entwickelt sich leicht eine Tendenz, das Ganze mit zu viel Dramatik aufzuladen und in Richtung Verismo abzuschweifen. Aber in der Musik ist es eben wirklich Belcanto in Reinkultur. Wenn man das nicht aus den Augen verliert, ist es ein echtes Vergnügen, das zu singen.
Deshayes: Giovanna Seymour auf der Bühne zu verkörpern, ist für mich eine Herausforderung, weil die Rolle mich wirklich an emotionale Grenzen bringt. Im Duett mit Anna, in dem die Königin Giovanna nicht nur als Rivalin erkennt, sondern ihr trotzdem vergibt und sie segnet, muss ich wirklich aufpassen, dass ich nicht anfange zu weinen. Giovanna wird sich ja erst allmählich bewusst, was ihr Aufstieg an der Seite des Königs für Anna Bolena bedeutet, die schliesslich mit ihrem Leben dafür zahlt. Für Diana und mich ist das in dieser auf die Spitze getriebenen Emotionalität eine sehr quälerische Szene, wobei das Duett in seiner musikalischen und textlichen Gestalt natürlich grossartig ist. Bei der Uraufführung im Jahr 1830 war ein Duett für zwei Frauen etwas völlig Neues.

In der Oper erleben wir Anna Bolena und Giovanna Seymour an ganz unterschiedlichen Punkten ihres Lebens. Trotzdem gibt es sehr viel Verbindendes zwischen ihnen…
Deshayes: Beide wollen den Weg nach oben über ihre Verbindung zu Heinrich VIII. machen, aber ich bin mir sicher, dass sie trotz ihres Interesses, Macht und Einfluss zu gewinnen, dennoch in ihn verliebt waren.
Damrau: Giovanna ist Annas Hofdame, zwischen den beiden besteht eine grosse Nähe. Schon zu Beginn der Oper scheint Anna ihrer Vertrauten die Warnung mit auf den Weg zu geben, sich nicht vom Glanz des Throns verleiten zu lassen. Nach dem Motto: Du siehst, wohin mich das gebracht hat! Und sogar noch als Anna erkennt, dass Giovanna die neue Frau an der Seite des Königs wird, ringt sie sich durch, ihrer Rivalin zu vergeben. Es ist schade, dass wir Anna Bolena bei Donizetti nicht auf dem Höhepunkt ihrer Macht erleben. Sie muss eine schillernde und ehrgeizige Persönlichkeit gewesen sein. Durch ihre Zeit in Frankreich hatte sie Eleganz und Selbstbewusstsein gewonnen. Am englischen Hof galt sie als Exotin. Diese Karte hat sie ganz bewusst ausgespielt und Heinrich VIII. mit ihrem Charme um den Finger gewickelt, womit sie sich offenbar aber auch viele Feinde gemacht hat. Als sie Heinrich nicht geben konnte, was er sich am meisten wünschte, nämlich einen Thronfolger, lernte sie seine andere Seite kennen. Mit Anna ist ein Wendepunkt in der englischen Geschichte verbunden. Um sie heiraten zu können, wechselte der König seinen Glauben, und eine neue Religion wurde installiert.

Wie erarbeitet ihr diese Rollen, und wie weit kann die Identifikation gehen?
Deshayes: Natürlich greift man zu Büchern über die Zeit und beschäftigt sich mit der Entstehungs­ und Aufführungsgeschichte der Oper. Aber das kann nur eine erste Inspiration für die Entwicklung einer Rolle sein. Das Meiste entsteht dann auf den szenischen Proben im Dialog mit dem Regisseur, dem Dirigenten sowie den Sängerkolleginnen und ­kollegen.
Damrau: Der erste Wegweiser für mich ist die Musik. Aus ihr lassen sich viele Dinge für die Rollengestaltung direkt ableiten. Erst danach greife ich auf andere Quellen zurück. Anna Bolena ist eine fantastische Rolle – ein spannender Charakter und durch die vielen verschiedenen Facetten eine echte darstellerische Herausforderung! Mein Interesse am englischen Königshaus hat schon als kleines Mädchen begonnen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie meine Grossmutter das Schicksal der Royals in Frauenzeitschriften verfolgte und ich bei der Hochzeit von Charles und Diana gebannt vor dem Fernseher sass. Heute eröffnen sich uns noch ganz andere Möglichkeiten: Eine Serie wie The Crown habe ich vorwärts und rückwärts gesehen, und da mich historische Geschichten im Film und auf der Opernbühne generell interessieren, kenne ich natürlich auch die ganzen Boleyn­Verfilmungen.

Ihr habt von eurem grossen Duett im zweiten Akt als einem Höhepunkt der Partitur gesprochen, der euch auch emotional an die Grenzen bringt. Wie schafft Donizetti das?
Deshayes: Im Grunde genommen setzt er hier die Opernkonvention ausser Kraft. Das Duett gewinnt seine Intensität, weil Donizetti rezitativische Bausteine und kleine Ariosi einbaut, und so die Spannung immer weiter steigert. Die lange Auseinandersetzung der beiden Frauen wird melodisch also immer wieder aufgelockert. Wir erleben da gemeinsam alle Höhen und Tiefen…
Damrau: …und deshalb fiebert das Publikum natürlich mit den beiden Sängerinnen mit. Man will keine Wendung verpassen und immer wissen, wie es weitergeht. Was in diesen 15 Minuten passiert, ist an Spannung kaum zu überbieten. Giovanna fleht Anna an, sich schuldig zu bekennen, um so wenigstens das eigene Leben zu retten. Das ist für Anna undenkbar, sie beschwört deshalb die rächende Hand Gottes, die auf das Haupt ihrer Nachfolgerin niedersausen soll. Da weiss sie noch nicht, dass ihre Rivalin niemand anders ist als Giovanna. Sie steigert sich in eine Vision, in der sie Heinrich und seine Geliebte als Geist im Schlafzimmer heimsucht. Nachdem sie in Giovanna ihre Nebenbuhlerin erkennt, ringt sie sich dennoch durch, ihr zu verzeihen. Das gipfelt in einem grossen Verzeihungsduett.

Als Heinrich Giovanna fragt, was sie von ihm möchte, antwortet sie sehr direkt: «Onore e fama», Ehre und Ansehen. Neben allem Gefühl geht es beiden Frauen um Macht und Einfluss bei Hofe. Der Weg dorthin führte damals einzig und allein über den Mann. Was könnt ihr 500 Jahre später von diesen Frauen mitnehmen?
Deshayes: Mich beeindrucken die Charakterstärke und der Ehrgeiz der beiden. Aber man muss noch einmal betonen, dass wir es hier mit zwei liebenden Frauen zu tun haben. Es geht eben nicht nur um Macht! Die beiden lieben diesen Mann, das macht das Gefühlschaos so gross. Giovanna spricht das im Duett mit Anna direkt aus, auch wenn sie sich ihrer Gefühle für Heinrich schämen zu müssen glaubt.
Damrau: Anna erinnert sich zu diesem Zeitpunkt an ihre frühere Liebe zu dem Edelmann Percy, der für sie aus dem französischen Exil zurückkehrt. Sie wünscht, sie hätte sich damals für ihn entschieden. Wie wäre ihr Leben dann verlaufen? Die scheinbar kleinen Entscheidungen ziehen oft die grössten Konsequenzen nach sich. Natürlich haben wir Mitleid mit Anna, aber sie ist auch nicht unschuldig an ihrem Schicksal. Ehrgeizig, wie sie war, hat sie die Leute in ihrer Umgebung manipuliert, auch viel Eitelkeit war im Spiel.

Sprechen wir über die musikalischen Schwierigkeiten, die Donizetti in eure Partien eingebaut hat. Welche Herausforderungen bieten eure Rollen?
Deshayes: Die Rolle ist völlig neu für mich, und ich bin sehr froh, dass ich gemeinsam mit Diana debütieren kann. Wir befinden uns in einer ähnlichen Situation. Diese Belcanto­Partien warten immer mit einer Vielzahl von technischen Schwierigkeiten auf. Aber es muss immer leicht klingen, als würde man seinen Text spontan in einem Gespräch äussern. Zum Glück kommt mir gerade meine Erfahrung mit der Musik Rossinis zugute. Da gibt es viele Gemeinsamkeiten, die Rossini­Vocalità verbindet sich mit dem Belcanto. Die Rolle der Giovanna liegt für einen Mezzo ziemlich hoch. Da braucht man absolute Konzentration, vor allem in Giovannas beiden exponierten Duetten mit Enrico und Anna.
Damrau: Anna Bolena ist eine wirklich sehr herausfordernde Partie. Anna ist im Grunde von Anfang bis Ende durchgängig auf der Bühne, und stimmlich wird ihr in diesen gut drei Stunden alles abverlangt. Man könnte es mit den sportlichen Anforderungen beim Zehnkampf vergleichen: Wenn man sich freut, das Duett mit Giovanna überstanden zu haben, kommt gleich die nächste Schwierigkeit – die 25­minütige Schlussszene. Da muss man sich die Kräfte gut einteilen. Zum Glück hilft einem Donizetti dabei. Er hat die Anforderungen über die gesamte Länge der Oper gut dosiert. Die «sportliche» Arie mit den Koloraturen, in der man seine Bravura unter Beweis stellen muss, steht gleich am Anfang. Dann folgen die Duette, und das Ganze gipfelt in der Finalszene, die Donizetti sehr differenziert ausgearbeitet hat. Es ist eine Art Wahnsinnszene, sehr lang, aber mit vielen Pausen, in denen man «durchatmen» und die Kräfte bündeln kann. Trotzdem bleibt es «hardcore singing». Der Schluss mit Annas Fluch, «Coppia iniqua», das sind dann sechs grausame letzte Seiten – das Finale im Belcanto­Feuerwerk.

Wie viel szenischen Input gibt euch der Regisseur David Alden, und wie viel könnt ihr selbst in die Gestaltung eurer Rollen einbringen?
Damrau: Ich denke, wir haben relativ viel Freiheit. David hat natürlich eine Ausgangsidee, wie eine Szene aussehen könnte. Aber vieles entsteht wirklich im Dialog, und das ist gerade in diesem Repertoire besonders wichtig, weil jeder Sänger den Weg finden muss, der für ihn passt. Es wird Sängerinnen geben, die die Koloraturen langsamer nehmen wollen, dann muss man einen anderen szenischen Subtext finden. Der Dialog zwischen Sängerin und Regisseur ist extrem wichtig, gerade wenn man eine Rolle zum ersten Mal singt.
Deshayes: Es stimmt, David hat eine ziemlich genaue Vorstellung, was er sich wünscht, aber wir können unsererseits auch bestimmte Dinge anbieten und kommen dann meist schnell zu Lösungen, mit denen alle zufrieden sind.

Schaut ihr zurück, wenn ihr in Rollen debütiert, und hört euch die grossen Rollenvorgängerinnen an?
Deshayes: Absolut! Ganz viele verschiedene sogar. Die Giovanna wird sowohl von Sopranen als auch von Mezzos gesungen. Das hat grosse Auswirkungen auf die Farbigkeit, die man der Partie verleihen kann.
Damrau: Das stimmt. Man kann von jeder etwas lernen. Aber man sollte nie versuchen, jemanden zu imitieren. Man muss die Lösung für sein eigenes Instrument finden. Man muss sein Instrument so spielen, wie es gespielt werden muss. Man kann nicht sagen: Okay, heute bin ich mal Maria Callas. Aber an wichtigen Stellen darf man sich durchaus inspirieren lassen und findet so vielleicht schneller zur eigenen Lösung. Es ist nichts in Stein gemeisselt. Es gibt nicht die eine Version, die Gültigkeit für die Ewigkeit hätte. Wenn man die Rolle dann ein paar Mal auf der Bühne gesungen hat, kann es gut sein, dass man manche Stellen wieder anders singen will oder muss. Das ist immer «work in progress».

Da wir über die Sängerinnen der Vergangenheit gesprochen haben: Die Premiere von Anna Bolena wird dem Andenken von Edita Gruberova gewidmet sein. Inwiefern hat sie euer musikalisches Denken beeinflusst?
Damrau: Seit dem Studium begleiten mich Edita Gruberovas Aufnahmen. Ich hatte das Glück, sie in München und Wien oft live auf der Bühne in den verschiedensten Aufführungen zu erleben. Lucia, Rosina – da muss sie fast 60 gewesen sein! –, aber auch mehrmals als Elisabetta in Roberto Devereux, das ist unvergesslich. Genau wie ihre unglaubliche Technik, ihre Disziplin, ihre Konzentration und alles, was sie für die Wiederbelebung des Belcanto­Repertoires getan hat.
Deshayes: Bei mir sind die Aufnahmen von Edita Gruberova auch pausenlos gelaufen. Bis heute bin ich besonders von ihrer Einspielung der Mozart­ Konzertarien fasziniert. Die ist einfach unübertroffen! In Frankreich hat sich Edita Gruberova sehr rar gemacht, deshalb habe ich sie leider nicht live erlebt.
Damrau: Edita war eine tolle Frau. Wenn ich ein Problem mit einer Partie hatte, habe ich gelegentlich ihren Rat gesucht. Sie war da immer sehr aufgeschlossen und hat versucht, mir zu helfen. Sie meinte dann: «Ich bin zwar keine Lehrerin, aber ich kann dir zeigen, wie ich das mache.» Das fand ich wirklich gross von ihr. Eine einzigartige Künstlerin und ein lieber Mensch! Es ist eine Ehre, diese Premiere für sie zu singen.

Das Gespräch führte Michael Küster.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 87, November 2021.
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Wie machen Sie das, Herr Bogatu?


Achten Sie auf die Knöpfe!

Wussten Sie, dass Knöpfe manchmal Geschichten erzählen können? Und dass die Königin Anna Bolena vielleicht noch am Leben wäre, wenn sie in unserer Inszenierung von Donizettis gleichnamiger Oper die Knöpfe beachtet hätte?

Es geht um die Knöpfe an den Kostümen von Anna Bolena und ihrer Zofe Giovanna di Seymour. Anna Bolenas Knöpfe sind rot und haben ein königliches Goldemblem in der Mitte. Hätte die Königin ihre Zofe etwas genauer betrachtet, wäre ihr aufgefallen, dass Giovanna eben die gleichen Knöpfe an ihrem Kostüm hat – aber in blau. Mit königlichem Goldemblem. Und woher kann eine Zofe solche königlichen Knöpfe nur bekommen haben? Einzig und allein von König Heinrich dem VIII., dem Gemahl von Anna Bolena. Und warum schenkt der König einer Kammerzofe königliche Knöpfe? Ja, warum wohl… Hätte sich Anna diese Frage gestellt, wer weiss, wie die Oper ausgegangen wäre. Sie hat es nicht getan. Deshalb erfährt sie zu spät von der Untreue ihres Gatten und stirbt am Ende eines dramatischen Opernabends.

Dass Knöpfe Geschichten erzählen können, liegt an unserer Gewandmeisterin Jennifer Ambos. Sie hat die Knöpfe passend zum Kostümstoff ausgesucht und ihnen diese wundervolle Geschichte gegeben. Sie werden jetzt genauso erstaunt sein wie ich: Wurden die Knöpfe nicht vom Kostümbildner Gideon Davey vorgegeben? Jennifer erklärt uns, dass es so gut wie nie vorkommt, dass das Design von Knöpfen vorgegeben wird und es so an ihr hängen bleibt, den passenden Knopf zum Kostüm zu finden. Und wo findet sie den? Jennifer führt mich in die tiefsten Eingeweide unseres Opernhauses, und in einem versteckten Raum entdecke ich eine neue Welt. In Regalen bis unter die Decke liegen nach Farben und Formen sortiert eine knappe halbe Million Knöpfe! Was für eine Schatzkammer. Gleiche Knöpfe sind jeweils in einem «Knöpfliröhrli» gelagert: Eine durchsichtige Plastikröhre mit einem Schraubdeckel. Jedes Knöpfliröhrli hat auf den Deckel einen der Knöpfe genäht, die sich drin befinden. In einem Regalfach liegen etwa 100 dieser Knöpfliröhrli neben­ und übereinander – die Knöpfe auf den Deckeln sichtbar und perfekt sortiert auf den Betrachter ausgerichtet. Es sind geschätzte 2’000 verschiedene Modelle von Knöpfen in unserem Fundus zu finden, die immer wieder nachbestellt werden. Vielleicht ist es die riesige Auswahl an Knöpfen, die einen Kostümbildner oder eine Kostümbildnerin überfordert, vielleicht sind Knöpfe ihnen auch egal, weil sie so klein sind. Jennifer hingegen lässt die Knöpfe Geschichten erzählen und ich bin sicher, dass viele Opern anders enden würden, hätten unsere Charaktere den Knöpfen mehr Beachtung geschenkt.

Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 88, Januar 2022.
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Drei Fragen an Andreas Homoki


Trilogie der Königinnen

«Es hiess ja schon früher immer: Wir sind das nördlichste Opernhaus Italiens, von daher gehört Belcanto ganz selbstverständlich zum Profil unseres Hauses, zumal es eine grosse Tradition berühmter Sängerinnen und Sänger gibt, die das Repertoire hier beispielhaft verkörpert haben.»

Herr Homoki, die nächste Premiere ist Anna Bolena, die zweite von drei Königinnen-Opern, die Gaetano Donizetti komponiert hat. Das Opernhaus bringt sie, über mehrere Spielzeiten verteilt, alle drei auf die Bühne. Worin liegt für Sie der dramaturgische Reiz dieses Dreischritts?  
Die Geschichten der Opern hängen inhaltlich zusammen, deshalb macht es durchaus Sinn, sie auch als Trilogie zu zeigen. Alle drei Handlungen spielen am englischen Königshaus im 16. Jahrhundert in der berühmten Zeitenwende, die in die Regentschaft von Königin Elisabeth I. mündet. Begonnen haben wir den Zyklus vor dreieinhalb Jahren mit Maria Stuarda, jetzt kommt Anna Bolena und in der darauffolgenden Spielzeit dann Roberto Devereux, wobei die historische Chronologie unserer Produktionen nicht ganz stimmt. Von der Handlungszeit her hätten wir mit Anna Bolena starten müssen. Jede der drei Opern soll natürlich für sich stehen, aber wir haben sie mit David Alden einem einzigen Regisseur anvertraut, damit das Projekt eine gewisse konzeptionelle Geschlossenheit im Gesamtbild bekommt. David und sein Ausstatter Gideon Davey deuten – beispielsweise im Bühnenbild – Querverbindungen zwischen den Opern an, ohne den stückübergreifenden Zusammenhang zu sehr zu strapazieren.

Wie wichtig ist das Belcanto-Repertoire für das Opernhaus Zürich?  
Es hiess ja schon früher immer: Wir sind das nördlichste Opernhaus Italiens, von daher gehört Belcanto ganz selbstverständlich zum Profil unseres Hauses, zumal es eine grosse Tradition berühmter Sängerinnen und Sänger gibt, die das Repertoire hier beispielhaft verkörpert haben. Denken wir nur an die gerade verstorbene Edita Gruberova, die im Belcanto-Repertoire am Opernhaus Zürich über Jahrzehnte hinweg zu erleben war. Solche Linien muss man natürlich fortführen. Dieses Opern-Genre lebt von der Virtuosität der Gesangsdarbietungen, und die Entstehung unserer neuen Königinnen-Trilogie hat auch viel damit zu tun, dass Diana Damrau diese Rollendebüts bei uns in Zürich machen wollte. Diana und ich haben früh darüber geredet. Ich bin seit vielen Jahren ein grosser Bewunderer ihrer Gesangskunst. Sie war eine der ersten Künstlerinnen, mit der ich Kontakt aufgenommen habe, als feststand, dass ich die Direktion des Zürcher Opernhauses übernehme. Ich wollte sie für dieses Haus gewinnen, das war mir eine Herzensangelegenheit, denn sie ist eine der herausragenden Primadonnen unserer Zeit und genau richtig für Partien wie Maria Stuarda und Anna Bolena, die sie jetzt bei uns singt. Aber als ein regieführender Intendant setze ich natürlich nicht ausschliesslich auf grosse Sängerinnen und Sänger, wie es leider häufig der Fall ist. Belcanto muss auch als glaubhaftes Musiktheater funktionieren, und das ist für die Regie gar nicht so einfach. Man muss mit dem starren Formaufbau von Szene, Arie und Cabaletta klarkommen, die grossen emotionalen Ausbrüche szenisch plausibel machen und einen Umgang damit finden, dass die Zeit in den grossen Gesangsmomenten mitunter stillsteht.

Sie haben Edita Gruberova erwähnt. Ihr ist die Zürcher Anna Bolena-Premiere gewidmet. Welche Überlegungen standen hinter dieser Entscheidung?  
Wir waren alle erschüttert von Editas völlig unerwartetem Tod und haben dann erschrocken festgestellt, dass unsere nächste Premiere ausgerechnet Anna Bolena ist, die eine von Edita Gruberovas Parade-Opern war. Da lag es nahe, ihr diese Premiere als Geste der Ehrerbietung zu widmen. Diese gedankliche Verbindung ist ja gar nicht zu vermeiden.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 87, November 2021.
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Hintergrund


Auf den Jubel folgt die Ausgrenzung

Seit Jahrhunderten fasziniert das britische Königshaus die Menschen und liefert Stoffe für Filme und Opern wie Gaetano Donizettis «Anna Bolena», die am 5. Dezember Premiere hat. Hat sich eigentlich so viel geändert, seit König Henry VIII. seine Gattin köpfen liess, weil sie ihm keinen Thronfolger schenkte? Die TV-Journalistin Annette Dittert findet, dass die Tradition weiblicher Ausgrenzung bis heute weiterlebt.

Annette Dittert, seit 2008 berichten Sie aus der britischen Hauptstadt für die ARD. Ich muss Sie natürlich fragen: Waren Sie schon mal bei Königs?  
Auf die berühmte Gartenparty der Queen habe ich es immerhin geschafft. Aber das ist kein besonderes Privileg, weil da jedes Jahr sehr viele Leute eingeladen sind. Zumindest konnte ich die Queen dort mal aus der Nähe sehen und war überrascht, dass sie tatsächlich genauso aussieht wie im Fernsehen.

Wie nah kommen Sie den Royals als ARD-Korrespondentin überhaupt? Ist die Gartenparty schon das Äusserste der Gefühle?  
Keiner kommt wirklich näher ran. Auch die britischen Royal Correspondents nicht. Jeder, der das behauptet, sagt nicht die Wahrheit oder hat es sich ausgedacht. Man weiss im Grunde sehr wenig und wird auf Abstand gehalten. Den organisiert eine riesige, bestens organisierte Pressemaschinerie rund um die Royals. Sie sorgt dafür, dass keiner wirklich erfährt, was hinter den Kulissen passiert. Das «Wissen» der Royal Experts entsteht meist aus sehr langen Beobachtungen aus der Ferne, da lassen sich nach einer Weile bestimmte Dinge zuordnen.

Heinrich VIII. und seine Ehefrauen sind bis heute ein skandalträchtiges Thema. Die ganze Geschichte Englands, so liest man oft, sei von der Kinderlosigkeit Heinrichs VIII. überschattet. Wie präsent ist heute noch die Erinnerung an ihn und an Anne Boleyn? 
Sie ist sehr präsent. Auch bei Leuten, die sich nicht besonders dafür interessieren, begegnet einem ein grosses kollektives Wissen um die Geschichte des englischen Königshauses. Mit Heinrich VIII. bringen die meisten die Church of England in Verbindung. Durch die Scheidung Heinrichs von Katharina von Aragon, die vom Papst abgelehnt wurde, hat letztlich die Abspaltung von der katholischen Kirche Roms stattgefunden, und das hat bis heute weitreichende Folgen. Noch immer ist die Church of England die dominante christliche Kirche mit der Queen als ihrem offiziellen Oberhaupt. Elizabeth II. ist also nicht nur das Staatsoberhaupt, sondern hat auch eine religiöse Funktion.

Könnten Sie sich ein Grossbritannien ohne die Royals überhaupt vorstellen?  
Kaum. In den instabilen Zeiten des Brexits ist die Queen der einzige gemeinsame Nenner, auf den sich alle verständigen können. Seit Jahrzehnten ist sie Garantin für die Stabilität dieses Landes. Ich fürchte, dass nicht nur für das Königshaus, sondern für das ganze Land raue Zeiten anbrechen, wenn sie nicht mehr unter uns ist.

Theoretisch hat das Königshaus keine politische Macht, aber sehr wohl Einfluss. Welche Rolle zwischen Vorbild, Entertainer und Prügelknabe der Nation spielt die Royal Family im öffentlichen Leben?  
Das kommt immer darauf an, auf wen man schaut. Die Queen ist ganz sicher Vorbild und, wie man so schön sagt, die «Mutter der Nation». Sie ist der einende Faktor. Selbst für die schärfsten Republikaner gilt die Queen als wichtige und positive Figur im politischen Leben. Das Blatt wendet sich allerdings sofort, wenn man an andere Familienmitglieder denkt. Charles ist nicht sehr beliebt. Immer wieder gibt es Stimmen, die ihn in der Thronfolge überspringen wollen. Die Scheidung von Diana verfolgt ihn, und viele Engländer können sich Camilla nicht neben ihm auf dem Thron vorstellen. Die nächste Generation, William und Kate, ist im Vergleich dazu extrem populär, aber, wie ich finde, auch ein bisschen blass. Das Gegenteil von Harry und Meghan, die mit dem Austritt aus dem Königshaus die Aussenseiterrolle gewählt haben und deshalb bei Teilen der Boulevardpresse auch als «Punching Ball» dienen. Obwohl sie weit weg ist, wird Meghan von der Tabloid Press weiterhin massiv angegriffen. Das ist extrem unappetitlich. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Meghan bis heute eine sehr viel schlechtere Presse hat als beispielsweise Prinz Andrew, der in den Epstein-Skandal verwickelt ist und gegen den in New York ein Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger läuft. Man erkennt, welche nicht zu unterschätzende Rolle in diesem Diskurs Fragen wie Klasse, Geschlecht und Rasse spielen. Die Royals sind eben immer noch eine Familie, die stark mit dem sogenannten Establishment verwoben ist.

Donizetti ist in seinen Tudor-Opern, genau wie viele andere, tief in die britische Geschichte eingetaucht. Heute haben sich Kinofilme oder Netflix-Serien wie «The Crown» dieses unendlichen Themas bemächtigt. Wie nah kommt solch eine Serie den historischen Ereignissen, und wie reagiert das Königshaus auf diese Art von unfreiwilliger PR?  
Das Königshaus hat darauf eher pikiert reagiert, und das hat sich verstärkt, je weiter die Serie in die Gegenwart vorstiess. Die letzte Staffel, in der es um Diana ging, wurde vom Palast als regelrecht geschichtsverfälschend abgelehnt. Die Serie ist so perfekt gemacht, dass man bereit ist, alles für bare Münze zu halten. Im Missklang dazu stehen viele historische Fehler bzw. ganz bewusste Verzerrungen zugunsten eines spannenden Plots. In jeder Folge gibt es Episoden, die zeitgleich dargestellt werden, obwohl sie nicht zeitgleich stattgefunden haben. Für die junge britische Generation, die damals noch nicht auf der Welt war, entsteht so ein verzerrtes Geschichtsbild. Ein Mitglied der Tory-Regierung meinte neulich, eigentlich müsste da immer so ein Aufkleber vorne drauf sein, dass es sich um die Fiktion einer Serie und nicht um die Historie handele. Die Suggestivkraft der Qualität lässt einen oft vergessen, dass vieles dramaturgisch zugespitzt ist und so nicht stattgefunden hat. Insofern kann ich die Bedenken des Königshauses nachvollziehen.

Wobei Donizetti und sein Librettist Felice Romani es vor 200 Jahren genauso gemacht und für den guten Plot die reale Geschichte zurechtfrisiert haben…  
Mit dem Unterschied, dass die Protagonisten von The Crown noch leben.

Die Oper erzählt von den letzten Tagen Anna Bolenas vor ihrer Hinrichtung im Tower, 1536. Die Enthauptung ist sicher die grausamste Methode, um sich eines unliebsamen royalen Familienmitglieds zu entledigen. Aber die Tradition des Rausschmisses hat bis heute Tradition, wenn wir an Wallis Simpson, Sarah Ferguson, Lady Diana oder Meghan Markle denken. Gibt es da eine Traditionslinie? Was sind die Methoden von heute?  
So drastisch wie bei Anne Boleyn geht es natürlich nicht mehr zu. Aber man hat am Schicksal von Meghan Markle und Prinz Harry oder an Lady Diana deutlich gesehen, dass Frauen, die sich nicht konform verhalten, ganz schnell aus dem System ausgesondert werden. Lady Diana hat diese emotionale Kälte nicht ausgehalten und keiner konnte damals damit umgehen. Bei Meghan Markle hat es der Presse und den Royal Experts nicht gepasst, dass sie sehr viel modernere, feministische Ansätze in das Königshaus hineintragen wollte. Das hat teilweise dazu geführt, dass sie von der Presse auf übelste, rassistische Weise behandelt wurde. Hier ist das Königshaus verletzlich, denn es weiss, dass es den Pakt mit der Boulevardpresse nicht kündigen darf. Für die Royals, gerade für die Jüngeren, ist es die einzige Überlebensgarantie, dass sie ständig in der Presse vorkommen – und zwar auf positive Weise. Bei den rassistischen Schlagzeilen gegenüber Meghan gab es kaum jemanden aus dem Königshaus, der sie – ausser Harry natürlich – offen verteidigt hätte. Dadurch ist das letztlich eskaliert. Nach wie vor ist es so, dass sich vor allem Frauen konformer verhalten müssen als Männer. Man sieht das bei Kate, die von der konservativen Presse als die neue Queen gefeiert wird. Wenn eine Frau sich als Mutter und als Frau an der Seite ihres Mannes profiliert und eben nicht mit feministischen Ansätzen daherkommt, wird das gelobt und ihr positiv angerechnet. Während alles, was etwas moderner ist, sehr schnell nicht mehr geht. Und es gibt keinen, der sagt, dass es doch unsere Pflicht ist, mit der Zeit zu gehen. Ich persönlich denke, dass es ein riesiger Schaden für das Königshaus ist, Harry und Meghan verloren zu haben.
Mit ihnen hätte das Königshaus die Chance gehabt, auch über die Zeit der Queen hinaus ein wichtiger Faktor zu bleiben. Wo auch immer Harry und Meghan aufgetreten sind, bildete sich eine viel diversere Crowd. Da fühlten sich ganz andere Leute angesprochen. Grossbritannien ist nun mal ein sehr diverses Land mit vielen People of Colour. Diese Chance hat das Königshaus nun verspielt. Mit Kate und William haben sie im Prinzip wieder ein sehr traditionelles, weisses Pärchen.

Ich habe neulich in einer Fernsehdokumentation über die Windsors einen Kenner des Hofes sagen hören, dass eine königliche Ehefrau nur dann überleben könne, wenn sie sich zurückhält und den Platz im Rampenlicht ihrem Mann überlässt. Daran hat sich wahrscheinlich nicht viel geändert?  
Genauso würde ich das unterschreiben!

Anne Boleyn wurde vor 500 Jahren vor allem aus dem Weg geräumt, weil sie Henry VIII. nicht den gewünschten Thronfolger geschenkt hat. Wie wichtig ist der männliche Thronfolger für die Royals heute?  
Der ist auch weiterhin sehr wichtig. Hier hat Kate ihre Rolle sehr schnell erfüllt. Sie sagt ja immer, sie habe dem Königshaus «a heir and a spare» – einen Erben und einen Ersatzerben – geschenkt, und es gibt sogar noch ein drittes Kind… Wenn Kate zusätzlich auf Charity-Events auftaucht und sich um soziale Fragen kümmert, entspricht das ganz dem traditionellen, klischeehaften Frauenbild, das innerhalb der königlichen Familie eben immer noch nötig und gewünscht ist. Da kann es nicht schaden, dass Kate auch ein Mode-Idol ist. Wo sie auftaucht, wird auch über ihr Kleid gesprochen. Aber ansonsten ist sie die Frau an Williams Seite. Ich könnte mich nicht erinnern, von ihr je einen politischen Unterton oder ein Bekenntnis zu den Werten der heutigen jungen Generation gehört zu haben.

Mit Prinz Charles gibt es den Thronfolger in spe natürlich. Welche Erwartungen hat Grossbritannien an ihn? Was für ein König wird er sein?  
Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Charles ist ja in Grossbritannien deutlich weniger populär als zum Beispiel in Deutschland. Vor allem wegen seines ökologischen Engagements ist er von der englischen Boulevardpresse immer wieder angegriffen worden. Aber jetzt kann er durch die rasant auf uns zurasende Klimakrise zeigen, dass er schon immer richtig gelegen hat. Das verschafft ihm eine etwas grössere Popularität in einer Zeit, in der die Leute erkennen, wie dramatisch alles werden kann. Die Royals – auch die Queen hat das getan – äussern sich inzwischen zu wichtigen Themen wie der Klimakrise. Aber er ist immer noch nicht der populäre Monarch, der einen reibungslosen Übergang von der Queen in ein neues Zeitalter garantieren kann. Charles wird ein Übergangskönig, der, wenn er Glück hat, die erfolgreiche Zeit seiner Mutter so lange fortführen kann, bis ihn die nächste Generation ablöst.

In Ihrem Buch «London Calling» erzählen Sie, wie Sie Charles auf einer Reise durch den englischen Lake District begleitet haben. Was für ein Mensch ist Ihnen da begegnet?  
Ich habe ihn als einen sympathischen Menschen erlebt. Sein Engagement in Sachen Ökologie hat ihn wahrscheinlich über die schier endlose Zeit als Nachfolger in Wartestellung hinübergerettet. Wenn man ihn so beobachtet, wirkt er sehr sensibel, sehr nachdenklich und weit sympathischer als sein Ruf.

Wobei das Trauma «Diana» natürlich nie ganz verschwinden wird. Diana spielt im kollektiven Bewusstsein der Briten immer noch eine riesige Rolle. Welche Erklärung haben Sie dafür?  
Tony Blair hat es auf den Punkt gebracht, als er Diana als «Königin der Herzen» bezeichnete, weil sie als Mensch rüberkam und sich für ihre Mitmenschen engagierte. Sie hat dieses Charity-Engagement nicht einfach abgespult wie manche andere. Ich glaube, sie hat sich wirklich identifiziert mit den Menschen am Rande der Gesellschaft, weil sie sich selbst auch so gefühlt hat. Als jemand, der besonders empathisch agiert hat, wurde sie anders wahrgenommen als die anderen steifen Familienmitglieder, und dadurch geriet sie in Opposition. Es hat sie überfordert, mit jemandem verheiratet zu sein, der sie weder geliebt hat, noch ihr treu gewesen ist. Niemand hat ihr damals geholfen. In den Köpfen der Briten ist das auch deshalb so lebendig, weil vor allem die Harry-Meghan-Saga wie eine Neuauflage davon wirkt. Prinz Harry hat immer wieder betont, dass Meghan nun wieder so behandelt wird wie damals seine Mutter. Der Mythos von der menschlichen Prinzessin, die aus dem Palast verstossen wurde, wird also weiter hochgehalten.

Womit wir wieder bei Anne Boleyn wären. Das heisst also, es gibt nichts Neues «bei Königs» seit Heinrich VIII.? Oder sehen Sie doch ein bisschen Morgenrot am royalen Horizont?  
Mit Harry und Meghan hätte die Möglichkeit bestanden, das Königshaus von innen zu reformieren und die Realität Grossbritanniens zu integrieren. Eine diverse Realität wohlgemerkt. Aber diese Chance wurde vertan. Auch wenn Kate und William ein bisschen moderner wirken, bewegt sich das, was mit ihnen weitergeführt wird, im Prinzip ganz stark in den alten Konventionen. Da ist so wenig Neues und Modernes drin, dass es schon verstaubt ist. Ich bin eher skeptisch, ob die Royals nach der Queen weiter so unhinterfragt als Institution überleben werden.

Das Gespräch führte Michael Küster.
Die Journalistin Annette Dittert ist Leiterin des ARD-Studios in London.  
2017 ist ihr Buch «London Calling» erschienen.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 87, November 2021.
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Auf der Couch


Heinrich VIII aus Gaetano Donizettis «Anna Bolena»

Wenn ihn Niccolò Machiavelli gekannt hätte, hätte sich Heinrich VIII. so gut als Vorbild für den skrupellosen Machtmenschen geeignet wie Cesare Borgia, dem der florentinische Autor in seinem Buch Il Principe ein Denkmal setzte. Um die eroberte Romagna zu befrieden, gab Cesare Borgia einem seiner Anführer umfassende Vollmachten, Ordnung zu schaffen. Dann machte er sich auf Reisen, während sein Stellvertreter köpfen und hängen liess, bis Ruhe war. Nach seiner Rückkehr liess Cesare den Mann hinrichten. Er sei ein Hochverräter und habe seine Voll machten missbraucht. So hatte er eine befriedete Provinz und den Ruf des gütigen Herrschers. Auch Heinrich VIII. hatte nach dem Tod seines Vaters die beiden wichtigsten und unbeliebtesten Minister des alten Königs, Richard Empson und Edmund Dudley, hinrichten lassen. Er gab ihnen die Schuld für die tyrannische Finanzpolitik seines Vaters. Zweifellos ein begabter Machtmensch, war für Heinrich Bildung nicht mehr Sache von Priestern. Er folgte dem Idealbild des uomo universale, beherrschte mehrere Fremdsprachen, korrespondierte in fliessendem Latein mit Erasmus von Rotterdam, war ein guter Reiter und Sieger in zahlreichen Turnieren (die er inkognito absolvierte, weil es sich nicht ziemte, einen König aus dem Sattel zu stossen). Der König hatte sich in Alle Boleyn verliebt, die sich von andren Hofdamen durch ihre scharfe Intelligenz unterschied, genau wusste, was sie wollte und so den Respekt Heinrichs gewann, dessen grandioses Selbstgefühl eine Niederlage nicht duldete.

Anne erwiderte die Liebe des Königs, aber sie stellte Bedingungen: sie wollte keine Maitresse, sie wollte Königin sein! Dazu musste Heinrichs Ehe mit der spanischen Prinzessin Katharina annulliert werden, die Heinrich unbequem war, weil sie ihm keinen männlichen Erben geboren hatte. Der Papst stellte sich quer. Aber ein verliebtes Paar erhebt sich über den Rest der Welt. Wir wissen nicht, wie viel an Heinrichs Entschluss, sich selbst als kirch­ liches Oberhaupt an die Stelle des Papstes zu setzen, politischen Strömungen, wie viel seiner Verliebtheit in Anne geschuldet war. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war es für weltliche Herrscher durchaus attraktiv, das Joch der geistlichen Oberherrschaft durch den Papst (und die damit verbundene Steuerpflicht nach Rom) abzuschütteln.

Heinrichs grosser Schritt führte die beiden nicht in eine glückliche, ja nicht einmal in eine erträgliche Ehe. Annes erste Schwangerschaft war eine Tochter, Elisabeth, die spätere (und hochbegabte) «jungfräuliche Königin», nach der ein ganzes Zeitalter der englischen Geschichte benannt ist. Die folgenden Kinder starben kurz nach der Geburt; verantwortlich war wohl eine Unverträglichkeit in den Blutgruppen. Am Hof machte sich Anne Feinde. Neid wird seine Rolle gespielt haben, Standesdünkel, Groll der «römischen» Fraktion. Anne Boleyn hatte Heinrich bei einem Teil des Volkes unbeliebt gemacht. Sie hatte ihm keinen Sohn geschenkt. Sie hatte das grenzenlose Ego des Königs herausgefordert, als sie ihn zwang, ihretwegen mit der römischen Kirche zu brechen. Als sie ihn enttäuschte, war auch die Liebe zu Ende. 1536, im Jahr der Hinrichtung Annes, überlebte Heinrich mit knapper Not und schwer verletzt einen Turnierunfall. Nach diesem schicksalshaften Jahr ging es mit Heinrichs Gesundheit bergab; er bewegte sich zu wenig und ass zu viel. Bei seinem Tod elf Jahre später wog er 160 Kilo.

         Text: Wolfgang Schmidbauer, Psychoanalytiker und Buchautor
         Illustration: Anita Allemann


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Synopsis

Anna Bolena

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