0/0

Jakob Lenz

Wolfgang Rihm (*1952)
Kammeroper
Text von Michael Fröhling frei nach Georg Büchners «Lenz»

In deutscher Sprache. Dauer 1 Std. 10 Min. Keine Pause. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.

Gut zu wissen

Die Vorstellungen von «Jakob Lenz» finden am 19, 22, 24 und 26 Nov 2022 im ZKO-Haus statt.

Kurzgefasst

Jakob Lenz

Kurzgefasst

Jakob Lenz

Fotogalerie

 

Fotogalerie Jakob Lenz

Pressestimmen

«die Macht von Jakob Lenz: zu verstören, an den Nerven zu zerren und zu erschüttern»
bachtrack, 20.11.22

«eine stringente, temporeiche und differenzierte Inszenierung»
Südkurier, 21.11.22

Yannick Debus singt «Jakob Lenz» von Wolfgang Rihm

Interview


Er fühlte tief

Wolfgang Rihms frühe Kammeroper «Jakob Lenz» ist ein vielgespielter Klassiker der musikalischen Moderne. Die Regisseurin Mélanie Huber inszeniert das Stück, in dessen Mittelpunkt ein ungewöhnlich begabter Dichter der Sturm und Drang-Zeit steht, mit dem Internationalen Opernstudio

Der Dichter Jakob Lenz hat einmal über sich selbst geschrieben: «Ich bin ein Fremder, unstet und flüchtig, und habe so viele, die mit mir unzufrieden sind». Mélanie, wer ist diese Figur und was erfahren wir in Wolfgang Rihms Kammeroper über sie?
Der historische Jakob Lenz war ein ungewöhnlich begabter Dichter des 18. Jahrhunderts, der in Strassburg und Weimar vorübergehend zum Kreis um Goethe gehörte. Mit seinen zukunftsweisenden Dichtungen und seinen teils unangepassten Manieren fand er aber keinen richtigen Halt im Establishment. Rihms Kammeroper dreht sich um eine Episode in Lenz’ Leben, in der dieser in wahngetriebenem Zustand durch die Vogesen wandert und in ein elsässisches Dorf gelangt. Das Libretto basiert auf Georg Büchners Novelle Lenz, die wiederum auf einen historischen Bericht des Pfarrers Oberlin zurückgeht, der Jakob Lenz im Winter 1778 bei sich aufgenommen hat.

Das Werk ist ein grosses musikalisches Portrait von Lenz – eine «Zustandsbeschreibung», wie Rihm schreibt. Wie interpretierst du diesen Zustand?
Lenz hadert ganz offensichtlich mit seinem Leben. Er fühlt sich von Ängsten, von Erinnerungen und von seinem Umfeld gequält. Mir ist es aber wichtig, seinen sehr menschlichen Zügen genau nachzuspüren und aufgrund der historischen und literarischen Quellen einen Charakter zu zeigen, den man auch gernhaben kann. Lenz war zur Zeit dieser Wanderung ins Elsass erst Mitte Zwanzig. Ich empfinde ihn als eine kreative, schräge, schwer greifbare und immer wieder sehr traurige Figur. Er verhält sich oft kindlich, kann sich zu grosser Begeisterung aufschwingen – und von dort steil in tiefes Elend oder Selbstmitleid abstürzen.

Rihm begreift Lenz als verstörten Charakter. Nur noch die «nackten Stadien des Scheiterns» seien darstellbar. Was heisst das für deine Inszenierung?
Auf der Ebene des Textes verstehe ich Lenz als eine Figur, die zumindest teilweise in der Lage ist, sich von aussen zu betrachten und seine eigenen Handlungen zu reflektieren. Wenn Lenz in Büchners Novelle etwa die Natur als etwas Belebtes begreift oder physische Gegenstände in falschen Grössenverhältnissen wahrnimmt, verbinde ich das nicht nur mit Wahnsinn, sondern auch mit einer blühenden Fantasie. Wenn sich in Rihms Musik, die den inneren Zuständen der Figur nachspürt, Verstörung und Wahnsinn breit machen, dann möchte ich szenisch eher Raum dafür schaffen, als diese Klänge zusätzlich zu illustrieren. Eine vollständige Verstörung, oder gar eine klinische Schizophrenie lese ich aus den Texten von Oberlin und Büchner nicht heraus. Das würde mich theatralisch auch nicht interessieren.

Pfarrer Oberlin und Kaufmann, ein ehemaliger Freund von Lenz aus der Schweiz, sind neben dem Protagonisten zwei weitere Figuren der Handlung. Zusätzlich schreibt Rihm sechs Stimmen, «die nur Lenz hört»...
Diese Stimmen zeigen, was in ihm vorgeht. Hier überlagern sich Träume, Wahnvorstellungen, Erinnerungen, aber auch Reales. Und diese Bilder versuche ich in der Inszenierung auch für das Publikum nachvollziehbar zu erzählen. Zusammen mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Lena Hiebel habe ich entschieden, dass sich diese sechs Stimmen auch in konkrete Figuren aus Lenz’ Leben verwandeln können. Dadurch haben wir zum Beispiel die Möglichkeit, Lenz’ Vater, Goethe oder dessen ehemalige Geliebte Friederike ins Spiel zu bringen, die Lenz jetzt selbst begehrt. Faszinierend finde ich, wie ambivalent diese inneren Stimmen auf Lenz einwirken: Manchmal bedrängen und verängstigen sie ihn, dann trösten sie ihn, geben ihm Halt – und jagen ihn wieder...

Du hast schon angedeutet, dass der Wahnsinn der Fantasie nahesteht. Kann man ihn sogar als eine Art Gegenvernunft bezeichnen? Bei Büchner findet sich schon in Dantons Tod die Aussage, dass die Vernunft «unerträglich langweilig» sei. Sucht auch Lenz nach anderen Möglichkeiten der Erkenntnis?
Ich glaube, bei Lenz sind die Übergänge schleichend: Mal erschrickt er über den Wahnsinn und versucht sich die inneren Stimmen aus dem Kopf zu kratzen, dann grinst er wieder darüber, dass es gerade passiert. Ich glaube nicht, dass der Wahnsinn bei ihm aus dem Nichts auftaucht. Die Freiheiten, die er sich in seinen Dramen herausnimmt, und das Unverständnis, das ihm von seinen Dichterkollegen dafür entgegengebracht wird, zeugen deutlich davon, dass er grundsätzlich anders denken wollte. Jemand, der so gewitzt schreibt wie Lenz, scheint schon ein Universum im Kopf zu haben, das die gewöhnliche Fantasie weit übersteigt...

«Er fühlte in einzelnen Augenblicken tief, wie er sich alles nur zurecht mache», heisst es in Büchners Novelle. Lenz geht bewusst auf Distanz zur Welt. Und zuletzt verabschiedet er sich fast unbemerkt aus ihr: 1792 wird er tot auf einer Strasse in Moskau gefunden. Das erinnert mich ein wenig an den Tod von Bartleby in Herman Melvilles Text, den du bereits inszeniert hast...
...oder an den Schweizer Schriftsteller Robert Walser, der die letzten Jahre seines Lebens in einer Heilanstalt verbracht hat und nach einem winterlichen Spaziergang tot im Schnee gefunden wurde. Das sind alles Figuren, die ihren grösseren oder kleineren Eigenheiten nachgehen und sich nicht vom allzu genormten Lauf der Welt mitreissen lassen. Mich berührt das, weil diese Figuren traurig und abgründigkomisch zugleich sind. Wenn ich mir die Begegnung zwischen Goethe und Lenz vorstelle, dann interessiert mich der erste, der aus gutem Haus stammt, geschliffen schreibt und erfolgreich ist, weit weniger als der kauzige Lenz, der in Livland (heute: Baltikum) in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist und in Mitteleuropa merken muss, dass er in der erlauchten Elite nicht willkommen ist. Besonders gut gefällt mir der letzte Satz aus Büchners Novelle, der die Lebensepisode im Elsass beschliesst: «– – So lebte er hin.» Es geht hier nicht um ein heroisches, sondern eben um ein sehr menschliches Leben.

Wolfgang Rihm schreibt: «In Jakob Lenz schlägt das Menschliche oft ins Märchenhafte um.» Inwiefern ist das für deine Inszenierung von Bedeutung?
Das kommt mir sehr entgegen! Ich möchte eher ein grosses Bilderbuch inszenieren als kleinteilige Psychologie. Die kindliche Sichtweise, die ich bei Lenz ausmachen kann, aber auch die einfachen technischen Möglichkeiten, die wir im ZKO-Haus zur Verfügung haben, führen mich zu einem sehr spielerischen Ansatz. Kinder behaupten die Welt, in der sie sich gerade spielend befinden. Analog dazu möchte ich die Welt, wie Lenz sie sich zurechtmacht, als abstrakte, groteske, rätselhafte Welt zwischen Märchen, Traum, Vorstellung und Fantasie auf die Bühne bringen.

Das Gespräch führte Fabio Dietsche
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 96, Oktober 2022.
Das MAG können Sie hier abonnieren.