Le nozze di Figaro
Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
Opera buffa in vier Akten, Libretto von Lorenzo Da Ponte
In italienischer Sprache mit deutscher und englischer Übertitelung. Dauer ca. 3 Std. 30 Min. inkl. Pause nach ca. 1 Std. 45 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
Die Einführungsmatinee findet am 29. Mai 2022 statt.
Gut zu wissen
Pressestimmen
«So soll Komödie sein: witzig, spritzig, lebensklug, mit einem Stich ins Ernste. Ein brillanter Abschluss der Zürcher Opernsaison.»
NZZ, 21.06.22«Mozarts Ensembleoper lebt vom Zusammenspiel der Rollen, die in Zürich ausnahmslos vorzüglich besetzt sind.»
Tages-Anzeiger, 20.06.22«Insgesamt ein unterhaltsamer, am Ende sehr versöhnlicher Opernabend (…)»
SRF2, 20.06.22
Interview

Ein toller Tag im Strudel des Begehrens
Das Opernhaus beschliesst die Spielzeit mit einer Neuinszenierung von Mozarts «Le nozze di Figaro». Der Regisseur Jan Philipp Gloger verortet die Oper in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts und erzählt von inneren Ausnahmezuständen in der Wohlstands-Moderne. Ein Gespräch über emotionale Kontrollverluste, sexuelle Übergriffigkeit und die Utopie der Toleranz.
Jan Philipp, ist es eigentlich ein Vergnügen oder purer Stress, Mozarts Le nozze di Figaro zu inszenieren?
Beides. Es ist Stress, weil die Oper aus sehr viel Handlung besteht. Mozart und Da Ponte haben jede, noch so kurze Situation superpräzise ausgearbeitet. Deshalb muss die Regie sehr viel Detailarbeit leisten, denn eine Figaro-Inszenierung funktioniert nur dann, wenn sie auch kleinste Details ernst nimmt. Auf der anderen Seite ist es ein unglaublicher Spass, diese Oper zu machen, weil in ihr so viel Vitalität, Tempo und überraschende szenische Wendungen stecken. Wir proben jetzt seit drei Wochen, aber sie kommen mir vor wie drei Monate. Ich habe das Gefühl, die Sängerinnen und Sänger der Produktion schon ewig zu kennen, obwohl ich fast alle bei Probenbeginn zum ersten Mal gesehen habe. Wir stehen in einem sehr intensiven, engen Austausch.
Die Figaro-Handlung erscheint manchmal wie ein Labyrinth angesichts der Fragen, wer etwas schon weiss oder noch nicht mitgekriegt hat, wer sich hinter welcher verschlossenen Tür verbirgt, wer wen belauscht und von wem verwechselt wird. Treibt das einen Regisseur in die Verzweiflung?
Nein, überhaupt nicht. Da muss man durch. Das ist sozusagen die Basis für jede Inszenierung. Man dröselt die Handlung auf und folgt dabei der eigenen szenischen Konzeption. Wenn die Figuren so gut erzählt sind, dass das Publikum der Handlung folgen kann, ist viel gewonnen.
Es geht auf der Bühne also nicht ohne Türen im zweiten Akt, ohne ein Fenster, aus dem Cherubino in höchster Not springen kann, ohne ein Sommernachtstraum-Dunkel im vierten Akt.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Figaro-Inszenierung funktioniert, die dem Werk nur mit schönen, abstrakten Bildern oder steilen konzeptionellen Thesen begegnet. Wenn man von der Regie nicht geradezu gezwungen wird, dieser genialen Handlung zu folgen, kommt dem Stück Entscheidendes abhanden.
Mozart legt in Le nozze di Figaro szenisch wie musikalisch ein rasantes Tempo vor. Die Denkgeschwindigkeit des Komponisten ist aberwitzig. Ist das eine der grossen Qualitäten der Oper?
Die Ereignisse überschlagen sich, wenn man etwa an das irrsinnige Finale des zweiten Akts denkt. Man glaubt, als Zuschauer nicht mehr mitzukommen, schon ganz und gar, wenn man die Oper zum ersten Mal sieht. Das hat den vorteilhaften Effekt, dass man dann als Zuschauerin die Vorgänge im gleichen Modus der Überforderung erlebt wie die Figuren auf der Bühne, denn auch sie werden ja immer wieder von den Ereignissen überrollt.
Die Figaro-Handlung lebt von überraschenden Kippmomenten. Alles kann im nächsten Augenblick schon wieder anders sein. Die Verhältnisse sind durch eine permanente Instabilität gekennzeichnet.
Genau. Und in der Instabilität der Handlungsentwicklung spiegelt sich die Instabilität der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der Entstehungszeit. Der Figaro ist ja 1786 entstanden, also kurz vor der Französischen Revolution, und er erzählt davon, dass nichts mehr sicher ist. Diese Instabilität bekommen zuallererst natürlich die Herrschenden, vor allem der Graf, zu spüren, der um seine Macht und seine Privilegien fürchten muss. Aber Le nozze di Figaro bringt darüber hinaus alle Figuren in Bedrängnis, nicht nur durch die turbulenten äusseren Ereignisse, sondern vor allem auch in Form von inneren Konflikten und einschneidenden Erlebnissen. Sie verlieren die Kontrolle über ihr Begehren. Figaro ist auch eine Oper über individuellen und gesellschaftlichen Kontrollverlust – und es ist ein grosses Vergnügen, den Figuren dabei zuzusehen, wie sie mit dem äusseren und ihrem persönlichen inneren Durcheinander an diesem tollen Tag umgehen.
Kannst du das an einem Beispiel erläutern?
Spannend, weil voller Ambivalenzen, ist etwa das Verhältnis zwischen Susanna und dem Grafen. Sie ist die Dienerin der Gräfin, gehört also zur sozialen Schicht der Bediensteten und will Figaro heiraten. Der Graf steht wiederum an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie und missbraucht seine Macht gegenüber Frauen. Heute würden wir das als schwere sexuelle Übergriffigkeit bezeichnen. Gleichzeitig wirkt der Graf aber auch unheimlich attraktiv auf Susanna. Das ist komponiert, und das werden wir auch herausarbeiten. Susanna steht also innerlich zwischen zwei Männern, nämlich ihrem Figaro auf der einen Seite, mit dem sie ein liebevolles, sehr freundschaftlich scherzendes Beziehungsverhältnis hat, und dem erotisch verlockenden Grafen. Vermutlich erwächst die Verlockung nicht zuletzt auch aus der Machtposition des Grafen, das ist das Perfide an der Konstellation. Da Susanna aber eine aufrichtige Figur ist, kann sie sich schlecht eingestehen, dass sie sich von der Erotik der Macht korrumpieren lässt. Man sieht: Das sind gefährliche Konfliktlagen, die auch in unsere heutige Zeit passen. Nicht nur der Graf und Susanna sind in sie verstrickt. Alle Figuren erfahren die Chancen und die Gefahren, die sich auftun, wenn man seinem Begehren und den Irrwegen folgt, die es nach sich ziehen kann. Das ist für mich das grundsätzliche Thema in Le nozze di Figaro: Was passiert, wenn man an einem tollen Tag seinem Begehren nachgibt? Das versuchen wir zu untersuchen.
Ist es nicht vor allem der von einer Frau gesungene Jüngling Cherubino, der die Macht des Eros verkörpert?
Ich wage mal die These: Wir tragen alle einen Cherubino in uns. Ich finde nämlich, dass der Satz aus dessen Arie im ersten Akt: «Non so più, cosa son, cosa faccio» («Ich weiss nicht mehr, was ich bin, was ich tue») zu einer Art Leitsatz für alle Figuren im Stück wird. Cherubino bewegt sich noch ausserhalb der gesellschaftlichen Ordnung, steht zwischen dem Jung- und dem Erwachsensein, fluktuiert zwischen Mann und Frau. Dieses Hybride ist etwas, das sich möglicherweise jede Figur wünscht, und so infiziert er das gesamte Personal der Oper mit seiner in alle Richtungen offenen Lust.
Machen die Figuren eine Entwicklung durch im Verlaufe des Stücks?
Ja, alle, weil sie wichtige Erfahrungen machen. Durch die Intrigen, die sie spinnen, durch das, was sie miteinander erleben und sich gegenseitig antun, kommen sie mit der Macht des Begehrens in Berührung und gehen klüger aus dem tollen Tag heraus, vielleicht an der einen oder anderen Stelle auch verletzter. Sie haben etwas für ihr Leben gelernt. Die Gräfin spricht das ganz offen aus, wenn sie am Ende sagt: «Ich bin sanfter geworden». Und Cherubino wird am Ende dem Grafen immer ähnlicher. Erst ist er der kleine süsse Engel, aber am Ende wirkt auch er übergriffig.
Wenn am Schluss der Oper die Verkleidungsintrige offen gelegt, der Graf blamiert und das grossherzige Verzeihen ausgesprochen ist, folgt dann der Moment der totalen Desillusion bei den Hauptfiguren wie in Così fan tutte?
Così ist viel brutaler. Ich habe einen positiveren Blick auf den Figaro-Schluss. Nachdem alle Figuren die Unbeherrschbarkeit des Begehrens erfahren haben, stehen sie im übertragenen Sinne nackt voreinander und müssen sich eingestehen, dass der Mensch nun mal von Lust und Eifersucht getrieben ist. Ich verbinde die Utopie mit dem Stück, dass das zu einem echten Verzeihen führen kann, ein Verzeihen nicht ohne Verletzungen. Aber zumindest so, dass man in den letzten Takten singen kann: «Coriam tutti a festeggiar» («Fröhlich eilen wir zum Fest»).
Wir haben jetzt viel über den Eros gesprochen. Ist Le nozze di Figaro aber nicht auch ein klassenkämpferisches, ein politisches Stück?
Ohne soziale Gegensätze funktioniert ein Figaro nicht. Es muss ein gesellschaftliches Oben und Unten geben. Dass die Bediensteten existenziell abhängig vom Grafen sind, führt ja erst zu den Konflikten, die das Stück prägen. Abhängigkeitsverhältnisse müssen zunächst bestehen, damit man sie missbrauchen kann. Wir fanden es ausserdem interessant, wenn die Milieus sich aufeinanderzubewegen, wenn die Herrschenden sozialromantisch und leicht sehnsüchtig das sogenannte einfache Leben des «niederen Standes» aufsuchen und die Bediensteten umgekehrt, vielleicht am stärksten Susanna, nicht frei von Faszination für Adel und Reichtum und die daran geknüpften Hoffnungen auf sozialen Aufstieg sind. Was das Stück politisch macht, ist, dass die Gefühlswelten mit bestimmten moralischen Überzeugungen in Kollision geraten, und keiner vermag uns besser als Mozart in diese Gefühlswelten hineinzuziehen.
Du spürst im Figaro also eher menschlich emanzipatorische Energien?
Das Politische läuft über die Gefühle. Nehmen wir zum Beispiel die Arie der Marcellina, die oft gestrichen wird. Marcellina ist die ältere, erfahrene Frau, die sich im Verlauf des Stücks als Figaros Mutter erweist. In der Schauspielvorlage von Beaumarchais hat sie einen grossen Monolog, den man geradezu wie einen feministischen Urschrei lesen kann – gegen die Männer und ihre Allmacht. Der Monolog schrumpft bei Mozart und Da Ponte zu einer Arie, und der Text verkleinert den Auftritt durch die etwas merkwürdige Metapher von den Tierpaaren, die in Frieden leben, während die Menschen das nicht können, weil sich die Männer so schlecht gegenüber den Frauen benehmen. In unserer Inszenierung haben wir die Arie nicht gestrichen und versuchen sie als Initialzündung für eine gewisse Frauensolidarität zu zeigen.
Man spürt bei dem, was du sagst, dass du Le nozze di Figaro für ein auch in unserer Zeit relevantes Stück hältst. Wo spielt denn die Inszenierung?
In der Gegenwart von heute, möglicherweise sogar in der Schweiz. Die einzelnen Akte spielen auf unterschiedlichen Etagen einer herrschaftlichen Villa. Der erste Raum zeigt den Hinterhof, den Dienstboteneingang und darüber die Aussenseite der gräflichen Räumlichkeiten, sodass die Milieus der Wohlhabenden und der Bediensteten direkt aneinandergrenzen. Im zweiten Akt sind wir im Aufenthalts- und Umkleideraum der Angestellten, sozusagen auf der Rückseite oder im Untergeschoss des Reichtums. Der dritte Akt führt dann hinauf in den gräflichen Salon, der von den Bediensteten allerdings für eine wenig herrschaftliche Hochzeitsparty gekapert wird. Und am Schluss sind wir an einem Ort, der die Standesunterschiede scheinbar auflöst. Ein Ort des Verborgenen und versteckt Sexuellen, den ich an dieser Stelle aber noch nicht verraten möchte. Ben Baur hat dieses Bühnenbild entworfen in einem Stil, den ich immer gerne Hyper-Realismus nenne.
Es ist ja sehr folgenreich, wenn man ein Stück, das 1786 geschrieben wurde, in die Gegenwart verlegt. Die Frage, die dann immer gleich gestellt wird, lautet: Geht das auch auf?
Ich finde, ein Figaro muss die Konkretion wagen. Eine abstrakte Inszenierung ist für mich bei diesem Stück nicht vorstellbar. Und natürlich muss es aufgehen! Wir haben grossen Spass daran, die entsprechenden Übersetzungen szenisch zu entwickeln. Manchmal wird natürlich eine gewisse Reibung mit dem gesungenen Text bleiben. Wir hoffen aber, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer diese Transferleistung gerne und lustvoll mitvollziehen.
Ein wichtiges Motiv der Handlung ist das ius primae noctis – das Recht der ersten Nacht, wonach in der Zeit des Feudalismus der Adelspatron das Recht hatte, mit der Braut zu schlafen, bevor sie verheiratet wurde. Der Graf im Figaro hat dieses Recht eigentlich abgeschafft, will sich aber im Falle von Susanna nicht daran halten. Was kann dieses ius primae noctis im 21. Jahrhundert denn sein? Von solchen Rechten sind wir ja glücklicherweise Jahrhunderte entfernt?
Der Graf versucht die Modernisierung der Gesetze, die er selbst initiiert hat, zu unterlaufen. Das passt doch wunderbar in unsere Zeit, in der in allen Firmen und Institutionen sogenannte Codes of Conduct, also Verhaltenskodexe gegen Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe und Diskriminierung aufgesetzt werden. Völlig zu recht übrigens. Ich finde es wichtig, dass wir uns in unserem Sozialverhalten Regeln geben, die den wachsenden Sensibilitäten für Diskriminierung und unangebrachtes Verhalten Rechnung tragen. Wir haben uns gefragt: Was ist, wenn der Graf nicht das ius primae noctis abschafft, sondern einen neuen Verhaltenskodex ausruft, und sich dadurch angreifbar macht, weil alle wissen, dass er sich an die neuen Regeln selbst nicht hält?
Man kann sich als Regisseur noch so viel konzeptionelle Gedanken über einen Figaro machen, am Ende ist das alles nicht viel wert, wenn man kein starkes Ensemble am Start hat. Kannst du mit der Zürcher Besetzung deine Ideen realisieren?
Auf jeden Fall. Für einen Figaro braucht man ein hochagiles Ensemble, das Geduld und Lust hat, die kleingliedrigen Situationen genauso präzise zu spielen wie die grossen Ensembles. Man braucht Künstlerinnen, die wach sind für die Kollegen, Lust auf Detailarbeit haben, letztlich singende Schauspieler:innen sind. Man braucht aber auch Sängerinnen und Sänger, die in den vokalen Glanzmomenten brillieren. Das alles vereint die Zürcher Besetzung und das ist eine ganz grosse Freude. Unsere Susanna Louise Alder ist sehr erfahren in ihrer Partie, gleichzeitig aber total offen für neue interpretatorische Ideen, die sie sofort als Grundlage für eigene Erfindungen nimmt. Sie verteidigt ihre Figur, wie das in unserem Cast alle tun, was sehr produktiv ist. Für die Partie der Susanna braucht es die Mischung aus einer attraktiven und zugleich sehr pragmatischen, zupackenden Frau, die keine Probleme aufwirft, sondern sie löst und sich die Handlung immer wieder nimmt. Das strahlt Louise mit jeder Geste und jedem Ton aus. Das gilt auch für Morgan Pearse, unseren Figaro. Er ist ein sehr gestischer Sänger, der eine unheimliche Durchlässigkeit hat, wie wir das im Schauspielbereich nennen. Die Impulse gehen in den Körper und teilen sich dem Publikum sofort mit. Louise und Morgan kennen sich übrigens gut: Sie haben vor zehn Jahren als junge Leute ihren ersten gemeinsamen Figaro auf der Royal Academy in London einstudiert, sie war Susanna, er der Graf. Anita Hartig und Daniel Okulitch als Gräfin und Graf sind ebenfalls sehr glaubwürdig in ihrer Emotionalität. Sie können das Begehren zum Ausdruck bringen und verkörpern gleichzeitig auf ideale Weise die Generation von Paaren, bei denen einiges auf dem Spiel steht, wenn ihre Beziehung in die Krise gerät. Und Lea Desandre ist für mich der perfekte Cherubino, nicht nur, weil sie die Verwandlungsfähigkeit mitbringt, einen Sechzehnjährigen auf der Bühne zu verkörpern. Lea spielt mit weiblichen und männlichen Attributen, sie kann zwischen pubertär-jugendlichem und erwachsenem Auftreten changieren und zeigt in ihrer Erscheinung etwas Genderfluides, das immer einen grossen Reiz an dieser Figur ausmacht.
Muss eine Figaro-Inszenierung lustig sein?
Das ist zumindest unser Anspruch. Ich möchte in dieser Oper das Gefühl haben, lachen zu dürfen. Denn das Lachen ist immer ein Lachen über uns selbst, verbunden mit dem Gefühl, erwischt worden zu sein. Unser Lachen lehrt uns etwas über uns.
Das Gespräch führte Claus Spahn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 93, Juni 2022.
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Auf dem Pult
«Deh vieni, non tardar» – bei Susannas Rosenarie im vierten Akt stimme ich die Melodie an, die Susanna ein paar Takte später aufgreift. Die Melodie ist erotisch, sinnlich, duftig. Susanna spricht hier den Wind und den Bach an, alles ist in zartester Bewegung. Die Melodie muss daher immer im Fluss bleiben, auch wenn «Andante» über der Arie steht. Ein Andante bedeutet bei Mozart – anders als ein Adagio, bei dem die Zeit stillsteht – nie ein langsames Tempo, sondern es muss immer eine Richtung haben. Ich variiere daher die Taktmitte dieses Sechsachteltaktes immer wieder, spiele sie mal schwer, mal leicht. Das F-Dur dieser Arie empfinde ich als eine sehr gesunde Tonart, die weit weg ist von einer Klage, und generell für Hoffnung und Zukunft steht. In dieser Arie gibt es denn auch keinen Konflikt und kein Gegenbild, auch keine Wendung nach Moll. Mein erster Ton in dieser Arie ist das C – der erste Ton, den ich im vierten Akt überhaupt spiele! Davor habe ich fast zwanzig Minuten nichts. So ein nackter Einsatz, ohne vorher das Instrument gross aufgewärmt zu haben, ist wie ein Lotteriespiel. Das C ist ausserdem der heikelste Ton auf der Oboe. Bis auf zwei Löcher, deren Klappen ich schliessen muss, sind sämtliche Löcher offen. Man muss diesen Ton liebevoll behandeln, damit er gut klingt! Das C ist zudem der hellste Ton auf der Oboe. Susanna singt in dieser Arie ja von der herannahenden Nacht. Nikolaus Harnoncourt sagte einmal, dass es bei Komponisten ganz unterschiedliche Arten von Nächten gebe – bei Mozart sei die Nacht immer durchleuchtet. Das trifft besonders auf den Figaro zu, und die Oboe trägt zu dieser Helligkeit sicher viel bei!
—Bernhard Heinrichs
Drei Fragen an Andreas Homoki

Herr Homoki, die nächste Premiere ist Le nozze di Figaro. Welche Bedeutung haben die drei Da-Ponte-Opern von Mozart für das Opernhaus Zürich?
Sie sind unumschränkter Kernbestand der musikalischen Weltliteratur und natürlich auch Ikonen in unserem Repertoire. Die muss man einfach neu gemacht haben, wenn man als Intendant das Programm an einem Haus über einen Zeitraum von 13 Jahren künstlerisch gestalten darf. Wir haben ja mit Don Giovanni die erste Da-Ponte-Oper gleich in unserer Eröffnungs-Spielzeit präsentiert. Die Inszenierung von Sebastian Baumgarten galt – zumindest für das damalige Profil des Opernhauses – als ästhetische Grenzüberschreitung. Ich hatte an ihr aber von Anfang an grosse Freude, und die Aufregung von damals hat sich inzwischen in eine freundliche, offene, humorbereite Rezeption verwandelt. Così fan tutte in der Regie von Kirill Serebrennikov wiederum hatte durch die politischen Umstände, die die Produktion begleiteten, eine grosse internationale Aufmerksamkeit, war aber unabhängig davon eine pointiert heutige und genau gearbeitete Inszenierung, die sich sehr gut in unser Repertoire eingefügt hat. Und jetzt kommt Le nozze di Figaro in der Regie von Jan Philipp Gloger, bei dem ich mir sicher bin, dass er unsere Stück-Trilogie erfolgreich abschliessen wird. Er hat ja insbesondere mit seiner Vivaldi-Ausgrabung La verità in cimento und Rossinis Il turco in Italia bewiesen, dass er genau der Richtige ist für variantenreiche, temporeiche Stücke, bei denen ganz viel von einer präzisen Figurengestaltung abhängt.
Was braucht ein Figaro, um zu gelingen?
Er muss lustig sein. Wenn er das nicht ist, hat die Inszenierung schon verloren. Und die Regie muss sich auf die anspruchsvollen, turbulent komödien-haften Situationen einlassen. Hier versteckt sich jemand, läuft Gefahr, entdeckt zu werden, wird dort gesehen und schon schlägt die Szene um und wirft ein neues Dilemma auf – so etwas muss man bedienen, sonst macht ein Figaro keinen Spass. Man hat als Regisseur zwar weniger Freiheit als in anderen Werken, die braucht man aber auch nicht, weil Mozart das Stück einfach genial und traumwandlerisch sicher gestaltet hat. Es gibt darin nichts, bei dem man denkt, das war vielleicht 1786 lustig, ist es aber heute nicht mehr. Nein, diese Oper ist universell und bis heute super- lebendig. Was mich persönlich immer so für den Figaro einnimmt, ist die Liebe, die Empathie, die Menschenfreundlichkeit, von der die Musik durchströmt ist. Die emotionale Wärme, die darin zum Ausdruck kommt, ist etwas ganz Besonderes. Don Giovanni und Così sind in ihrer Grundtemperatur viel kälter und zynischer.
Wie wichtig ist die Besetzung für einen guten Figaro?
Sehr wichtig natürlich. Der Star in diesem Stück ist nicht ein einzelner Sänger oder eine Sängerin, sondern das Ensemble. Bei Mozart reicht es nicht, eine berühmte Primadonna zu engagieren, und der Rest passt dann schon irgendwie. Das Ensemble muss genau aufeinander abgestimmt sein und in Beziehung zueinander funktionieren, das ist die hohe Schule einer guten Mozart- Besetzung. Und alle müssen grossartige Spieler sein. Deshalb kann gerade ein Figaro auch die Plattform für begabte, temperamentvolle, neue Sängerinnen und Sänger sein. Bei uns sind mit Louise Alder als Susanna, Morgan Pearse als Figaro, Daniel Okulitch als Graf und Lea Desandre als Cherubino gleich vier Hauptrollen mit für Zürich neuen Namen besetzt. Nur Anita Hartig als Gräfin ist bei uns im Haus schon bekannt und geschätzt. Das ist genau richtig. Ich freue mich auf dieses Ensemble.
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Volker Hagedorn trifft...

Louise Alder
Louise Alder singt die Susanna in der Zürcher Neuproduktion von «Le nozze di Figaro». Sie war Ensemblemitglied an der Oper Frankfurt, wo sie u.a. Susanna, Pamina, Musetta, Despina und Sophie («Werther») sang. Sie trat ausserdem an Häusern wie der Wiener Staatsoper (ebenfalls als Susanna), der Bayerischen Staatsoper und am Teatro Real Madrid auf.
Eine Eigenschaft gibt es, die auch jenseits der Bühne die meisten Sängerinnen und Sänger von Opern verbindet. Sie können unheimlich schnell umschalten, sich ohne Anlauf ganz auf eine Situation einlassen, offen reagierend auf alles, was da kommen mag. Auch wenn es die Fragen eines Journalisten sind, der jetzt eigentlich nicht so in den Plan passt, jetzt, da das Flugzeug aus London verspätet landete und die Bühnenprobe in 45 Minuten beginnt. Louise Alder nimmt in der Zürcher Opernkantine so entspannt Platz, als wäre es ihr freier Nachmittag. Kaum hat sie einen Becher Kaffee vor sich stehen, sprechen wir erstmal über eine Zofe aus dem 18. Jahrhundert, als hätten wir alle Zeit der Welt dafür.
Wie kommt es überhaupt, dass diese Susanna im Figaro uns interessieren kann, eine Subalterne in einer längst Geschichte gewordenen feudalen Gesellschaft? Louise Alder, die diese Rolle bislang in vier verschiedenen Produktionen sang, verweist keineswegs gleich auf Mozarts Musik. «Sein Librettist Da Ponte», meint sie, «war sehr clever, wie er die Story anlegte. Das war ein Skandal zu der Zeit, Diener als zentraler Teil der Handlung. Ich wuchs natürlich nicht mit Dienern auf, ich komme andererseits auch nicht aus einer Familie von Dienern. Aber ich verstehe die Schwierigkeiten in ihrem Leben. Das ist näher an uns als Händels Götter und Könige, und niemand wird in einen Bären verwandelt.» Sie lacht.
Es macht ihr Spass «to inhabit the role, diese Rolle zu bewohnen». Denn bei allem, was sich von einer Produktion zur andern ändere, «her spirit never changes. Sie ist stark und positiv, gerissen, clever. Sie hat die Fäden in der Hand. Und sie fühlt sehr viel.» Was allerdings sie fühlt, das sei sehr abhängig vom Ensemble, nicht nur vom Stück und von der Regie. «Der Graf des einen Sängers ist anders als ein anderer, darauf reagiere ich.» Spannend findet sie es auch, beim Leben mit einer Rolle über Jahre hin zu merken, wie sie selbst sich entwickelt, «je besser du das Stück kennst, desto besser kannst du es spielen». Lebenserfahrung brauche man auch, um in eine Rolle zu finden. Dass sie selbst Angst und Schmerz kenne – wovon ihr helles, offenes Gesicht jetzt keine Spur verrät –, helfe ihr für die Pamina in der Zauberflöte, «sonst ist es schwer, das zu machen. Ich bin ja ganz froh, dass meine Mutter mich nie aufgefordert hat, jemanden zu töten, so wie die Königin der Nacht das tut.»
Ganz besonders nicht diese Mutter. Die Geigerin Susan Carpenter-Jacobs hat das auf historischen Instrumenten spielende Orchestra of the Age of Enlightenment in eben dem Jahr 1986 mitbegründet, in dessen November ihre Tochter zur Welt kam. Und als im Sommer 1989 die Proben zum Figaro in Glyndebourne begannen, mit dem 34jährigen Simon Rattle am Pult, war die Zweijährige dabei. «Es war eins der ersten Stücke, die ich je hörte. Meine ganze Kindheit lang wurde ich da mit hingenommen, deswegen ist Mozart bei mir wirklich im Blut.» Eine Garantie für eine Musikerlaufbahn sei das keineswegs. «Die Kinder der Kollegen meiner Eltern, meine Freunde, haben sich sehr unterschiedlich entschieden. Einige wollten unbedingt Musik machen, andere konnten sich gar nichts Schlimmeres vorstellen.» Sie selbst brauchte eine Weile, «um Oper nicht als etwas zu sehen, wo meine Eltern mich hinschleppten».
Als Teenager begann sich Louise für die Stories, Inszenierungen, Sänger:innen des Musiktheaters zu interessieren, «und im Kopf hatte ich einen Traum vom Singen, ganz sicher. Aber ich wusste nicht, wie das gehen sollte. Mein Vater singt im Extrachor von Covent Garden, er ist kein Solist». Von früh an spielte sie Geige und Oboe, «aber direkt auf ein Music College wollten meine Eltern mich nach der Schule nicht gehen lassen. Sie wollten eine breitere Ausbildung, also studierte ich Musikwissenschaft in Edinburgh.» Und da gab es eine sehr gute Gesanglehrerin, die sie auf die Bahn brachte. Und auch gleich auf die Unibühne, wo Louise ihre Liebe zum Musical und ihr Tanztalent auslebte. Aber ihr Interesse an Oper überwog und führte sie ans Royal College of Music nach London. «Ich war gesangstechnisch überhaupt keine Naturbegabung», meint sie, «und musste wirklich arbeiten, um meinen Weg zu finden.» Sie schwärmt von den Lehrerinnen, die ihr dabei halfen. «Patricia MacMahon hat mir klargemacht, dass ich ohne guten Werkzeugkasten nicht weit kommen würde. Mein Musikverständnis war weit über meiner Technik, und bei ihr begann ich Freude am Verlangsamen zu finden, Schritt für Schritt die Löcher auszufüllen. Und Dinah Harris konnte mir genau sagen, was physiologisch in mir vorgeht, ich wollte das so gut kennen, wie ich die Geige kenne. Sie half mir, den Kehlkopf zu entspannen. Es ging darum, die natürliche Brustresonanz, die ich beim Sprechen habe, in meine Singstimme zu inkorporieren, damit es wirklich wie ich klingt: Das ist Louise, das ist ihr Klang! Was wir Sänger tun, ist unnatürlich, aber es sollte so natürlich klingen wie möglich.»
Für kurz unterbricht uns der Kantinenlautsprecher. «In wenigen Minuten beginnt das Vorsingen auf der Bühne. Good evening ladies and gentlemen…» Das kennt Louise auch, acht Jahre ist es jetzt her. «Nach drei Jahren am Royal College of Music nahm ich an einem Wettbewerb teil, den ich nicht gewann. Aber Bernd Loebe hörte mich da, und ich durfte bei ihm in Frankfurt vorsingen.» Es wurden fünf Jahre im Ensemble der Frankfurter Oper daraus, «mein Gehirn stand in Flammen! Immer mehrere Produktionen gleichzeitig, manche alt, manche neu. Diese Erfahrung hätte ich im United Kingdom nie machen können, es gibt da kein Ensemblesystem. Und ich fühlte mich als Teil einer grossen Familie.»
Es wundert sie ein bisschen, dass nicht viel mehr britische Sänger:innen auf dem Kontinent auftreten. «Es gibt im UK nur sechs grössere Opernhäuser, das reicht nicht! Zudem werden die darstellenden Künste in meiner Heimat nicht als etwas Wichtiges gesehen, das wurde während der Pandemie sehr deutlich. Aber sie kämpfen. Und sie kämpfen gut!» Alle kreativen Leute auf den britischen Inseln, sagt sie, fühlen sich europäisch. «Wir spielen europäische Musik! Der Gedanke, dass Menschen das als Teil ihrer Identität nicht mehr wollten, war uns vollkommen fremd. Der Brexit hat das UK entzweit. Wir haben das Gefühl, dass es kein Vereintes Königreich mehr ist.» Was fand sie schlimmer, Brexit oder Lockdown? Louise lacht, aber bitter. «Die Pandemie hat die Folgen des Brexit maskiert. Wer den für eine gute Idee hielt, kann jetzt nicht klar erkennen, dass es keine gute Idee war, denn die Pandemie war schlimm für alle, besonders für alle Freelancer, mit Geldsorgen und Identitätskrisen.» Sie selbst hat in der auftrittslosen Zeit social media als Kommunikationsmittel entdeckt. «Das richtete mich auf! Es waren 140 junge Sängerinnen und Sänger aus 25 Nationen, denen ich Feedbacks geben konnte. Ich wäre im Himmel gewesen, wenn es schon während meines Studiums die Möglichkeit gegeben hätte, Tipps von Leuten at the top of their game zu bekommen!»
Auf der Höhe des Spiels ist sie nun selbst, die wenig später, noch mit dicken Sportschuhen und schon mit Zofenschürze, dem Grafen gegenübersteht, dritter Akt, erste Szene. Susanna lässt ihn auf ein Date hoffen, das ist Teil ihres Plans, sie lügt also. Oder? Es fasziniert sofort, wie Louise Alder und Daniel Okulitch die Ambivalenzen offenlegen, die da vom Klavier kommen und aus den Gesangslinien. Eine kleine Handbewegung, ein kurzer Blick, ein Ton, den sie von ihm übernimmt… Ja, der Conte ist ein egomaner Macho, aber seine Sehnsucht ist tief. Ja, Susanna spielt mit ihm, aber ungefährlich ist das Spiel nicht. Daran wird nun gefeilt. Heikle Intimität, feine Komik, ein Labor der Emotionen, Hochspannung, die sich zwischendurch in Probenspässen entlädt. Mit Mozart würde sie gern einen trinken gehen, hat Louise gesagt, die so alt ist wie der Komponist, als er starb. «Er kannte das Leben, und wie. Das Leben muss zu seiner Zeit auf eine Weise hart gewesen sein, die wir nicht ergründen können. Und er hatte einen Sinn für dreckige Witze. Das mag ich sehr.»
Text von Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 93, Juni 2022.
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Hintergrund
Ich bin hier der Boss, und deshalb musst du mir zur Verfügung stehen
Graf Almaviva stellt in Mozarts Oper «Le nozze di Figaro» einer Angestellten nach. Heute wäre das ein schwerer Fall von Machtmissbrauch und toxischer Männlichkeit. Wir haben die Geschichte mit Inés Mateos, einer Beraterin für Diversitätsfragen und Frauengleichstellung, durchgesprochen.
Frau Mateos, wir spielen am Opernhaus Zürich Mozarts Le nozze di Figaro in einer Interpretation, die nicht historisch, sondern in unserer Gegenwart verortet ist. Ein handlungstreibendes Motiv der Oper ist der Versuch des Grafen Almaviva, Susanna, die Dienerin seiner Ehefrau, ins Bett zu kriegen. Mit den Augen von heute betrachtet, ist das ein klarer Fall von sexueller Übergriffigkeit eines Vorgesetzten gegenüber einer Angestellten. Wie oft kommt diese Konstellation in der modernen Arbeitswelt vor?
Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil es dazu keine grundsätzlichen empirischen Erhebungen gibt. Wir erleben aber einen breiten gesellschaftlichen Diskurs, der ans Tageslicht bringt, dass das oft vorkommt – Vorgänge, in denen das Machtgefälle in Beschäftigungsverhältnissen eine grosse Rolle spielt und die Zuneigung nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Sie sind mit der Konstellation in der Oper vergleichbar und bringen – wie bei Mozart – ganze Betriebe und Branchen durcheinander. Die #MeToo- Debatte hat das gezeigt.
Auch wenn es keine belastbare Empirie darüber gibt, ist das Thema ein gesellschaftlich sehr relevantes?
Auf jeden Fall. Es geht hier ja nicht um Diskussionen und Meinungen, sondern um verbriefte Fälle, die bekannt geworden und zum Teil auch vor Gericht gekommen sind. Kein Rauch ohne Feuer. Das ist ganz klar.
Ist Machtgefälle der entscheidende Nährboden für sexuelle Übergriffigkeit?
Überhaupt nicht. Übergriffigkeit gibt es natürlich auch zwischen hierarchisch gleichberechtigten Menschen, und sie kommt unabhängig von Arbeitsverhältnissen in der ganzen Breite der Gesellschaft vor. In vertikalen Machtstrukturen erlangt die Problematik aber eine grössere Dringlichkeit. Die Abhängigkeiten wirken verschärfend. Sich gegen den Chef oder den Vorgesetzten zur Wehr setzen zu müssen ist viel schwieriger. Existenzielle Ängste um den Job und die Rolle im Unternehmen kommen ins Spiel sowie das Problem, beispielsweise nicht zu wissen, an wen man sich wenden kann. Das vergiftet die Situation ungemein.
Der Graf sagt an einer Stelle zu Susanna: Ich liebe dich. Ist es übergriffig, einer Untergebenen zu sagen, dass man in sie verliebt ist?
In der Oper schon. Denn Susanna steht ja unmittelbar vor ihrer Hochzeit mit Figaro. In dieser Situation ist so ein Geständnis völlig inakzeptabel. Mal abgesehen von der Frage, wie ernst es dem Grafen mit dieser «Liebe» ist.
Der Verdacht liegt nahe, dass es ihm nicht ernst ist. Er will vor allem mit Susanna ins Bett. Im gleichen Rezitativ sagt er zu ihr, sie möge doch am Abend in den Garten kommen, er würde sie auch dafür bezahlen.
Das ist Aufforderung zur Prostitution und kein Liebesantrag.
Da wäre also die fristlose Kündigung des Grafen fällig?
Mindestens. Das geht gar nicht.
Gegen einen Grafen im Feudalismus des 18. Jahrhunderts konnte man leider keine Beschwerde einreichen, geschweige denn eine Kündigung erwirken. Die Oper spielt in einer Zeit, in der das ius primae noctis, das Recht der ersten Nacht, noch ein Thema war. Der sich modern gebende Graf hat es eigentlich abgeschafft, möchte es aber bei Susanna noch einmal zur Anwendung bringen.
Die Oper thematisiert ein männliches Besitzdenken aus dem Geist der Leibeigenschaft, das in mancher Hinsicht bis heute nicht überwunden ist, nämlich dass ein Chef glaubt, die Menschen, die ein Arbeitsverhältnis zu ihm eingegangen sind, gehörten ihm. Genau dieses Besitzdenken reproduziert ja der Fall des amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein, der die #MeToo-Lawine ausgelöst hat: Ich bin hier der Big Boss, ich bezahle dich und deshalb musst du mir zur Verfügung stehen, auch sexuell.
Nochmal zu dem «Liebes»-Geständnis: In anderen Fällen kann es ja ernst gemeint sein. Und dann?
Seien wir ehrlich: In der Arbeitswelt kommt es selbstverständlich vor, dass sich Menschen verlieben und sich ihre Liebe gestehen; dass sie sich finden und Beziehungen und Familien gründen. Es gibt auch Paare, die im gleichen Betrieb arbeiten, in der Kunst- und Kulturszene, in der Sie arbeiten, vielleicht noch ein bisschen mehr als anders wo. Es in die Sphäre des Unerlaubten zu verbannen, dass sich Menschen in diesen Kontexten Erotisches sagen, wäre weltfremd. Voraussetzung allerdings ist die Gegenseitigkeit. Und wenn Macht im Spiel ist, kann es schnell schwierig werden. Die oder der Untergebene hat das Gefühl, nicht schroff ablehnend reagieren zu können, wenn der Chef sagt: Ich liebe dich. Die Fälle werden komplizierter, wenn beide zuerst einverstanden waren, dann aber einer vielleicht nicht mehr. Die ganze Geschichte wird aufgerollt, man weiss gar nicht mehr so genau, wie es wirklich war. Ich würde heute jeder und jedem Vorgesetzten empfehlen, keine Beziehung mit Untergebenen zu beginnen. Besser man lässt es, wenn man sich nicht in Teufels Küche begeben will. Man kann nie wissen, ob das, was von der Gegenseite kommt, tatsächlich Gegenliebe für die angetragenen Gefühle ist, oder ob das Machtgefälle doch eine Rolle spielt. Es hat nicht nur bei Psychiaterinnen und Ärzten seine Berechtigung, dass sie auf keinen Fall eine Beziehung mit Patient:innen eingehen dürfen, und dass sie die Therapie abbrechen müssen, um eine erotische Begegnung möglich zu machen, falls das Begehren sehr dringend wird, was ja passieren kann.
Wie oft kommt es heute vor, dass schwere Fälle von toxischer Männlichkeit ungeahndet bleiben?
Ich würde sagen: Zu oft. Sexuelle Belästigung findet ja auch schon auf der verbalen Ebene statt, und dort kommt sie sehr oft gar nicht zur Sprache. Das weiss man aus Studien. Gegen gravierende Vorfälle vorzugehen, trauen sich Betroffene inzwischen öfter. Aber es ist nach wie vor eine grosse, schwere Entscheidung, sich als Betroffene oder Betroffener zu outen. Die Öffentlichkeit kommt dann hinzu, und das macht die Sache folgenreich für alle Beteiligten. In der Arbeitswelt bedeutet das meistens, dass man auch als Opfer nicht mehr in dem Anstellungsverhältnis bleiben kann oder will. Deshalb gibt es einige Fälle, bei denen die Betroffenen zwar zu einer Vertrauensperson gehen, aber danach den Fall nicht weiterziehen.
In Le nozze di Figaro tun sich die Frauen zusammen, um das Problem selbst zu lösen. Sie wollen es dem Grafen mit einer Verkleidungsintrige heimzahlen und den Täter blamieren. Ist das eine gute Strategie?
Das Sich-Wehren beginnt ja oft im Stillen mit einem inneren Aufbegehren: Was will der von mir? Was läuft da? Oder die Frauen fühlen sich einfach unwohl in bestimmten Situationen und sprechen mit einer Kollegin darüber, die wiederum sagt: Bei mir hat er das auch schon versucht. Die wirklich krassen Täter sind oft keine Einzeltäter. Die machen das immer wieder. Und man kann schon sagen, dass heute die öffentliche Skandalisierung zu einem wirksamen Mittel gegen Übergriffe geworden ist. Durch die gesellschaftliche Debatte im Zuge von #MeToo hat die Opferseite einen Hebel in die Hand bekommen.
Männer beginnen, ihr Verhalten zu reflektieren, weil sie Geschichten lesen, die nicht gut für die Männer ausgegangen sind? Harvey Weinstein sitzt im Gefängnis und kommt wahrscheinlich nicht mehr raus.
Ja und das ist auch richtig so. Es gibt aber auch die umgekehrte Bedrohungslage: Es behauptet jemand einen Übergriff, der gar nicht stattgefunden hat. Das sind gefährliche Nebenschauplätze, die als Folgen der Entwicklung entstanden sind. Die Selbstreflexionsbereitschaft der Männer aber steigt. Noch im vergangenen Jahrhundert wurden die Dinge, über die wir reden, als Kavaliersdelikt abgetan.
Wie beim Grafen Almaviva, der hat auch kein Unrechtsbewusstsein.
Natürlich nicht. Wie auch? Man muss da nicht bis in den Feudalismus zurückgehen. Keine Haushälterin und keine Magd, die nach Übergriffen oft noch schwanger wurde, konnte sich vor noch nicht allzu langer Zeit wehren, denn das hätte dazu geführt, dass sie selbst bestraft worden wäre. Zumindest hätte sie ihre Arbeit oder oft auch ihre soziale Stellung verloren.
Le nozze di Figaro spielt an einem tollen Tag, wie es in der Schauspielvorlage bei Beaumarchais heisst, einem Hochzeitstag. Der Graf will eigentlich eine Party für seine Leute schmeissen. Alle sind aufgedreht, gut drauf und bereit, die Grenzen des Anstands und der sozialen Rolle ein bisschen zu übertreten. Das ist das Partyproblem, das es ja auch in der Arbeitswelt unserer Tage gibt, bei Betriebsfeiern oder feuchtfröhlichen privaten Einladungen von Vorgesetzten. Wie gefährlich sind diese Zonen der Ausgelassenheit?
Sie sind gefährlich – aber eben auch schön. Ich fände ein Arbeitsleben, in dem sich das Berufliche und das Private gar nicht mehr mischen dürfen, eine traurige Angelegenheit. Viele von den öffentlich gewordenen Übergriffsgeschichten sind genau bei solchen Gelegenheiten passiert, bei denen auch das Rauschhafte seinen Raum hatte, das viele lieben und als wichtigen Teil eines schönen Lebens betrachten. Für Menschen, die ihren Beruf mit Passion ausüben, und das sind ja nicht wenige, ist das Hedonistische eine wichtige Energiequelle, und das will man mit anderen teilen. Die Grenzen zwischen dem Geschäftlichen und dem Privaten lösen sich auf, auch die Vorgesetzen wollen nicht immer nur Chef sein. Alkohol und Drogen kommen ins Spiel, und es passieren Dinge, von denen man dann am nächsten Tag nicht mehr so genau weiss, ob sie wirklich gut waren. Klar ist das ein gefährliches Feld.
Es gefällt mir, dass Sie als Vertreterin der Opfer von Übergriffen trotzdem das Rauschhafte nicht verdammen.
Aus meiner Berufserfahrung heraus glaube ich grundsätzlich nicht so recht an die Schwarzweiss-Zuschreibungen. Obwohl – ganz klar – Menschen aufgrund von Diskriminierungsmerkmalen wie Geschlecht oder sozialer Herkunft ein deutlich stärkeres Risiko tragen, Opfer zu werden. Wir werden dieses Problem aber nicht nur damit lösen können, dass wir eine strikte Unterscheidung in Täter und Opfer vornehmen. Deshalb finde ich auch die öffentliche Debatte so wichtig. Ich bin schon streng und kompromisslos im Einstehen dafür, dass niemand das Recht hat, über andere zu verfügen. Aber es hilft uns nicht weiter, wenn wir die Rahmenbedingungen unseres Zusammenlebens so stark formalisieren, dass es etwa keine Betriebsfeste und Vermischungen mehr gibt. Trotzdem heisst «Nein» ganz unmissverständlich «Nein».
Das erinnert an den Brief französischer Feministinnen um Catherine Deneuve, den sie vor vier Jahren auf dem Höhepunkt der #MeToo-Debatte in Le Monde veröffentlichten, und sich dagegen aussprachen, jeden Flirt und jede Galanterie als chauvinistische Aggression anzuprangern. Wofür sie heftigste Kritik einstecken mussten. Nehmen Sie eine Verhärtung der Diskussion um angemessenes Verhalten zwischen den Geschlechtern wahr?
Das finde ich eine spannende Diskussion. Es gibt eben auch unterschiedliche kulturelle Zugänge zu diesem Thema. Der französische Feminismus, schon der frühe jenseits von Deneuve und ihren Schauspiel-Kolleginnen, ist ein ganz anderer als der amerikanische, der eher puritanisch geprägt ist und in seinen Forderungen mehr in Richtung Lustfeindlichkeit geht, während die Französinnen immer auch aus einer Position der Stärke der Frauen argumentieren. Frauen können sich selbst wehren und sind nicht nur potenzielle Opfer, die von übergeordneten Instanzen geschützt werden müssen. Sie integrieren die Kraft der Erotik in eine Position der Stärke. Was wir allerdings bei Weinstein, Epstein, Berlusconi und all diesen Geschichten mächtiger Männer erlebt haben, hat mit der Kontroverse um Lust und Lustfeindlichkeit nichts zu tun, sondern nur mit Machtmissbrauch und Erniedrigung.
In der Debatte lautet der Vorwurf von rechter Seite: Der Feminismus und die linke Identitätspolitik mit ihrer Cancel Culture vertreiben alles Schöne aus der Welt. Der umgekehrte Vorwurf lautet: Es passiert zu wenig. Die alten patriarchalischen Strukturen bleiben einfach weiter bestehen. Wie kommen wir aus diesen verhärteten Fronten heraus?
Wir sind in einer Phase, in der wir die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern, und allgemeiner zwischen Privilegierten und Benachteiligten, noch stark auf der eher symbolischen Ebene der Political Correctness bearbeiten, aber es gibt Bewegung. Wir rütteln an den zementierten Verhältnissen. Machtpositionen werden in Frage gestellt. Es gibt Bewegung. Ich halte die Verunsicherung beispielsweise für produktiv, wenn Männer nicht mehr wissen, ob sie einer Frau in den Mantel helfen oder ein Kompliment machen dürfen. Denn es bedeutet, dass wir dabei sind, diese Geschlechterverhältnisse neu auszuhandeln. Was ist okay, was nicht? Wenn durch Komplimente immer nur existierende Machtpositionen reinszeniert werden, sind sie ein Problem. Aber ja, natürlich dürfen wir darüber nicht vergessen, die wirklich harten, grossen Themen in unserer Welt anzugehen. Wem gehören die Ressourcen in dieser Welt? Wer besetzt die Machtpositionen? Wer bestimmt, was richtig und falsch ist? Wo ist das Kapital akkumuliert?
Wo ist es akkumuliert?
Zu über 90 Prozent bei Männern.
Inés Mateos ist Expertin, Moderatorin und Dozentin zu gesellschaftlichen Fragen rund um Bildung und Diversität. Sie schult Belegschaften in transkultureller Kompetenz und leitet Projekte zu Vielfalt und Gleichstellung, unter anderem am Opernhaus.
Das Gespräch führte Claus Spahn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 93, Juni 2022.
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Fragebogen

Aus welcher Welt kommen Sie gerade?
Aus dem Kosmos von Georg Friedrich Händel, in den ich in San Francisco und Deutschland eingetaucht war, bevor ich für Figaro nach Zürich kam.
Wie lange begleitet Mozart Sie schon durch Ihr Sängerleben?
Die erste Partie, die ich gelernt habe, war Sarastro an der High School. Figaro war dann die erste Rolle, die ich nach Abschluss meiner Ausbildung überhaupt auf einer Bühne gesungen habe, allerdings der in Rossinis Il barbiere in Siviglia. Er begleitet mich also schon während meiner gesamten Laufbahn.
Was macht einen guten Figaro aus?
Ich finde, er muss Verletzlichkeit zeigen, besonders in der Eifersuchts-Arie des vierten Aktes. Figaro sucht immer Lösungen für die auftauchenden Probleme, aber er befürchtet, dass alles vergeblich ist, weil er glaubt, dass seine Susanna lieber den Grafen will. Das stürzt ihn in eine Eifersuchtsspirale.
Woran merkt man, dass Sie als gebürtiger Australier in London zu Hause sind?
Auf jeden Fall an meiner Vorliebe für eine gute Tasse Kaffee am Morgen! Manche mögen sagen, dass ein «Flat White» eine australische Sucht ist, ich sage nur: Er ist köstlich!
Welche Bildungserfahrung hat Sie besonders geprägt?
Ich hatte das grosse Glück, in der High School von Musik umgeben zu sein. Das ist leider nicht normal für Kinder in Australien. Bei uns war mehr als ein Drittel der Schule im Chorprogramm. Ich war jedes Mal beseelt, wenn wir Bach gesungen haben.
Welches Buch würden Sie am liebsten nie aus der Hand legen?
Vor allem während der Pandemie habe ich wieder angefangen, viel zu lesen, vor allem Sachliteratur. Aber ein Buch, das ich andauernd benutze, ist das neue Kochbuch meines Freundes Alan, in dem es viele Gerichte gibt, die man einfach in einem Topf kochen kann. Perfekt, wenn man nicht zu Hause ist und viele Proben hat.
Welche CD hören Sie immer wieder?
Schon so lange ich denken kann, bin ich ein Fan von Händel, vor allem, weil er mit einfachen Harmonien so grosse Emotionen erzeugen kann. Ich liebe die Figur der Rodelinda und höre mir Dorothea Röschmann in dieser Rolle immer wieder an. Wunderschön!
Welchen nutzlosen Gegenstand in Ihrer Wohnung lieben Sie am meisten?
Ich hatte diese etwas zwanghafte Angewohnheit, Duschhauben aus Hotelzimmern mit nach Hause zu nehmen, ohne zu wissen, was ich eigentlich mit ihnen anfangen soll. Während der Pandemie haben mein Partner und ich, wie viele auch, angefangen, Sauerteigbrot zu backen. Und es war praktisch, die Hauben zum Abdecken des Brotes während der Gärung zu verwenden. Also waren sie doch nicht ganz so nutzlos.
Sie schmeissen eine Party für Mozart. Was gibt es zu trinken und zu essen? Und über was reden Sie mit ihm, bevor er betrunken ist?
Ich würde natürlich darauf bestehen, selbst für das Catering zu sorgen. Vielleicht ein australisches BBQ? Dazu grosse Mengen von kräftigem australischen Shiraz. Im Gespräch müssten wir ein für alle Mal die Salieri-Gifttod-Debatte aus der Welt schaffen. Dass Salieri Mozart vergiftet hat, ist ja Unsinn, aber immer noch eine unausrottbare Legende.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 93, Juni 2022.
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